Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. Dr. Brenn, Priv.-Doz. Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. E***** M*****, als Masseverwalterin im Konkurs über das Vermögen der W***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Josef Fromhold, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei L***** AG, *****, Schweiz, vertreten durch die Reif und Partner Rechtsanwälte OG in Graz, wegen 12.655,59 EUR sA, über den ordentlichen Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 14. Februar 2019, GZ 3 R 137/18s-22, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 21. August 2018, GZ 257 C 841/17y-18, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 939,24 EUR (darin 156,54 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
Die Beklagte ist eine in der Schweiz ansässige Aktiengesellschaft, die eine internationale Einkaufsgemeinschaft betreibt.
Die nunmehrige Insolvenzschuldnerin (in der Folge: Klägerin) ist eine in Oberösterreich ansässige GmbH und begehrt von der Beklagten 12.655,59 EUR, die Differenz zwischen Zahlungen an sie und von ihr erhaltenen Vergütungen. Der Vertrag sei sittenwidrig und nichtig, das Geschäftsmodell der Beklagten sei ein unzulässiges Schneeballsystem, das Geschäft sei ex tunc rückabzuwickeln. Es liege ein Anlagebetrug vor. Der Klägerin stehe auch Schadenersatz zu.
Die Zuständigkeit des Erstgerichts ergebe sich aus der Gerichtsstandsvereinbarung in den AGB 2009 der Beklagten, dem Erfüllungsgerichtsstand des Art 5 Nr 1 LGVÜ, dem Deliktsgerichtsstand nach Art 5 Nr 3 LGVÜ, dem Gerichtsstand des Sitzes der Hauptverwaltung nach Art 60 Abs 1 LGVÜ und dem Gerichtsstand nach Art 5 Nr 5 LGVÜ, weil eine unter Aufsicht und Leitung der Beklagten stehende Tochtergesellschaft dauerhaft als Niederlassung in Österreich auftrete. Zudem verhindere die Beklagte durch rechtsmissbräuchliche Umgehungskonstruktionen die Anwendbarkeit des LGVÜ und der EuGVVO bzw der sich daraus ergebenden Gerichtsstände; es könne daher die Zuständigkeit an jedem Gericht in Österreich in Anspruch genommen werden.
Die Beklagte wandte internationale und örtliche Unzuständigkeit des Erstgerichts ein. Der Erfüllungsort iSd Art 5 Nr 1 LGVÜ liege in der Schweiz. Art 5 Nr 3 LGVÜ sei auf Vertragsrücktritt bzw -rückabwicklung nicht anzuwenden. In den hier anzuwendenden AGB 2012 sei keine Gerichtsstandsvereinbarung getroffen worden. Art 5 Nr 5 LGVÜ komme nicht zum Tragen, weil kein Angestellter der Beklagten seinen Dienstort in Graz und kein Organ seinen Wohnsitz in Österreich habe; die Beklagte habe kein Betriebsvermögen, keine Postanschrift und keine Hauptverwaltung oder Niederlassung in Österreich.
Während das Erstgericht seine internationale und örtliche Zuständigkeit verneinte, prüfte und bejahte das Rekursgericht (nur) den Gerichtsstand der Niederlassung nach Art 5 Nr 5 LGVÜ, verwarf den Einwand der Beklagten und trug dem Erstgericht die Fortsetzung des gesetzmäßigen Verfahrens auf.
Der ordentliche Revisionsrekurs wurde zugelassen, weil zum von der Beklagten betriebenen Geschäftsmodell und der damit zusammenhängenden Rechtskonstruktion einer in Österreich für die Beklagte tätigen Tochtergesellschaft Rechtsprechung fehle, welche für eine Vielzahl von gleichgelagerten Rechtsstreitigkeiten Bedeutung hätte.
Der ordentliche Revisionsrekurs der Beklagten strebt die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses an; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs der Klägerin ist – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Rekursgerichts (§ 526 Abs 2 ZPO) – unzulässig. Die Zurückweisung des ordentlichen Revisionsrekurses kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 528a iVm § 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).
1.1. Nach Art 2 LGVÜ 2007 sind – vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens – Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Staats zu verklagen.
Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann aber nach Art 5 Z 5 LGVÜ 2007 in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden, wenn es sich um Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung handelt, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich diese befindet.
1.2. Das LGVÜ 2007 stimmt mit den Art 1 bis Art 61 der EuGVVO 2001 nahezu wortgleich überein, sodass die diesbezügliche Literatur und Rechtsprechung weitgehend auch für das LGVÜ 2007 herangezogen werden kann (vgl RIS-Justiz RS0131605).
1.3. Konkret entspricht der im Revisionsrekursverfahren ausschließlich thematisierte Art 5 Nr 5 LGVÜ 2007 dem Art 5 Nr 5 EuGVVO 2001 (nunmehr Art 7 Nr 5 EuGVVO 2012).
Wesentliche Elemente dieses Zuständigkeitstatbestands sind einerseits das Bestehen einer „Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung“ der Beklagten im Gerichtsstaat und andererseits eine ausreichend enge Verbindung zwischen dieser Niederlassung und dem strittigen Rechtsverhältnis, welche die unionsrechtlichen Bestimmungen danach abgrenzen, ob eine Streitigkeit „aus dem Betrieb“ dieser Niederlassung vorliegt (vgl RS0124417; 1 Ob 34/02k = RS0116211).
2. Zur unionsrechtlich autonomen Auslegung (EuGH C-617/15, Hummel Holding, Rn 22 f) des Begriffs der „Niederlassung“ hat der Senat erst jüngst zu 4 Ob 195/18g (= RS0132425) unter Bezugnahme auf EuGH-Rechtsprechung und Schrifttum ausführlich und umfassend wie folgt Stellung genommen (dort zu Art 125 UMV):
Zusammengefasst ist eine „Niederlassung“ jede dauerhafte Struktur eines Unternehmens (was Tochtergesellschaften und Zweigstellen, aber auch andere Einheiten wie etwa die Büros eines Unternehmens umfasst, auch wenn sie keine Rechtspersönlichkeit haben), wenn die „Niederlassung“ einen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit bildet und in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich befindet, über eine bestimmte reale und konstante Präsenz verfügt, von der aus eine geschäftliche Tätigkeit ausgeübt wird, und sie auf Dauer als Außenstelle des Stammhauses hervortritt. Für das Vorliegen des Anscheins (Rechtsscheins) einer Niederlassung reicht nicht bereits das Verhalten der „Außenstelle“ aus, sondern es kommt auf die Art und Weise an, wie sich Stammhaus und Niederlassung im Geschäftsleben verhalten und wie sie Dritten gegenüber in ihren Handelsbeziehungen auftreten, insbesondere also auch darauf, dass (auch) das „Stammhaus“ einen ihm zurechenbaren Vertrauenstatbestand schafft. Maßgeblich ist, dass es einen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit gibt, der auf Dauer als Außenstelle eines Stammhauses hervortritt und eine Geschäftsführung haben sowie sachlich so ausgestattet sein muss, dass er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese sich nicht unmittelbar an das Stammhaus zu wenden brauchen, sondern Geschäfte an dem Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit abschließen können, der dessen Außenstelle ist. Weiters muss der Rechtsstreit entweder Handlungen betreffen, die sich auf den Betrieb dieser Einheiten beziehen, oder Verpflichtungen, die diese im Namen des Stammhauses eingegangen sind, wenn die Verpflichtungen in dem Staat zu erfüllen sind, in dem sich die Einheiten befinden. All dies setzt neben einer Vertretungsbefugnis voraus, dass die Niederlassung der Aufsicht oder Leitung des Stammhauses untersteht; erforderlich ist daher eine gewisse Weisungsgebundenheit der Niederlassung. Ist das Stammhaus nicht befugt, dem Unternehmer Weisungen zu erteilen und ist es diesem zugleich gestattet, mehrere Unternehmer zu vertreten, die miteinander konkurrieren und ist er zudem nicht an der tatsächlichen Abwicklung von mit dem Stammhaus geschlossenen Verträgen beteiligt, liegt keine Niederlassung vor.
Alle diese Kriterien unterliegen der Prüfung im Einzelfall (vgl RS0132425 [T2]).
3. Das Rekursgericht vertrat die Ansicht, hier sei zwar formal eine Tochtergesellschaft der Beklagten mit Sitz im Sprengel des Erstgerichts aufgetreten, die aber untypischerweise nicht (nur) für sich selbst, sondern hauptsächlich für die Muttergesellschaft gehandelt habe und in ihren Geschäften unter Aufsicht und Leitung der Muttergesellschaft gestanden sei. Die Beklagte habe sich in ihren geschäftlichen Beziehungen zur Klägerin bzw auch zu anderen Mitgliedern so dargestellt, dass ihre Tochter ihrer vollen Kontrolle unterliege (sie sei laut den bei Aufnahme der Geschäftsbeziehung geltenden AGB 2009 ihre „Erfüllungsgehilfin“; gemäß den AGB 2012 wird sie in Österreich durch ihre Tochter vertreten), und dass sich die Beklagte über ihre Tochter – die von ihr beauftragte Servicegesellschaft, die auch in den AGB der Beklagten genannt wird – am inländischen Rechtsverkehr beteilige. Verträge und Bestellungen inländischer Mitglieder seien über die Tochtergesellschaft abgewickelt worden. Die Beklagte habe gegenüber der Klägerin und Dritten zumindest den Rechtsschein erweckt, dass die Tochtergesellschaft in ihrem Namen verhandeln und Geschäfte abschließen dürfe. Der Klägerin komme das Recht zu, rechtsgeschäftlichen Verkehr mit der Beklagten ausschließlich über ihre Tochter als zuständiger Landesgesellschaft zu führen, die auch eine inländische Bankverbindung habe und diese in Geschäftspapieren anführe. Die konkrete Rechtskonstruktion und das Verhältnis zwischen der Beklagten und ihrer Tochter seien für die Klägerin nicht gänzlich durchschaubar geblieben, sodass die Kenntnis vom Umstand, dass die Beklagte ihren Sitz in der Schweiz habe, nicht schade. Damit seien im hier zu prüfenden Einzelfall genügend Anknüpfungspunkte vorhanden, um den Rechtsstreit am für den Sitz der Tochter zuständigen Erstgericht durchzuführen.
Diese Rechtsansicht des Rekursgerichts steht im Einklang mit der oben dargelegten Rechtsprechung und hält sich im Rahmen des den Gerichten zukommenden Spielraums bei der Beurteilung von Einzelfällen.
4. Der Revisionsrekurs zeigt in diesem Zusammenhang keine erhebliche Rechtsfrage auf.
4.1. Ob eine Verbindlichkeit durch eine Niederlassung begründet wurde, ist eine Frage des Einzelfalls. Das Rekursgericht stützte seine Gesamtbetrachtung auch auf die oben dargelegten Umstände als Indizien für die dauerhafte Etablierung der österreichischen Tochtergesellschaft als Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit der Beklagten. Dagegen zeigt der Revisionsrekurs mit dem Hinweis, die Klägerin sei durch einen Bekannten auf die Beklagte aufmerksam geworden und habe sich über diesen registriert, keine korrekturbedürftige Fehleinschätzung des Rekursgerichts auf. Dass die Tochtergesellschaft der Beklagten bloßer Handelsvertreter (Vermittlungsvertreter) gewesen und auch andere (mit der Beklagten konkurrierende) Unternehmer vertreten hätte (vgl EuGH 18. 3. 1981, 139/80, Blanckaert & Willems), wurde nicht vorgebracht und ist auch nicht hervorgekommen.
4.2. Die Vorinstanzen haben ohnehin festgestellt, dass die AGB 2009 der Beklagten im Zeitpunkt der Klagseinbringung nicht mehr galten und dass die Klägerin die AGB 2012 akzeptierte. Entgegen der Ansicht im Revisionsrekurs hat das Rekursgericht dies bei seiner rechtlichen Gesamtbetrachtung auch berücksichtigt. Auch hier stellt sich keine erhebliche Rechtsfrage, weil es auf den Gesamteindruck im Einzelfall ankommt, ob sich die Beklagte mit der Niederlassung am Rechtsverkehr beteiligte. Weder in diesem Zusammenhang geltend gemachte Mängel des Rekursverfahrens noch eine dem Rekursgericht unterlaufene Aktenwidrigkeit liegen vor.
4.3. Warum die Revisionsrekurswerberin in Bezug auf die bereits in der Klage ins Treffen geführte (und in erster Instanz umstrittene) Frage des Gerichtsstands der Niederlassung am Sitz der ausdrücklich genannten Tochter der Beklagten durch die Entscheidung des Rekursgerichts überrascht worden und dessen Verfahren deshalb mangelhaft geblieben sein soll, ist nicht nachvollziehbar.
4.4. Ob die Geschäftsführerin der (die Beklagte im Inland vertretenden) Tochter der Beklagten auch deren Organ gewesen sei, ist für sich genommen – und vor dem Hintergrund der sonstigen Feststellungen zu Geschäftsmodell und -verhalten der Beklagten – für die Frage der Unterordnung und Weisungsgebundenheit nicht ausschlaggebend; rechtlich relevante Feststellungsmängel zeigt das Rechtsmittel in diesem Zusammenhang nicht auf.
4.5. Auf Firmenänderungen der Tochter der Beklagten oder einen – zudem feststellungsfremden – Verkauf der Firmenanteile an dieser kommt es nach dem Gesagten nicht an.
5. Sonstige
selbstständig zu beurteilende Rechtsfragen (RS0043338) werden im Revisionsrekurs nicht angesprochen. Insbesondere auf die Frage der auf Art 5 Nr 3 LGVÜ 2007 gegründeten Zuständigkeit für den auch auf Schadenersatz gestützten Klagsanspruch muss nicht eingegangen werden (vgl dazu 8 Ob 99/17t sowie allgemein 4 Ob 185/18m und 3 Ob 185/18d).
6. Zur Frage der internationalen Zuständigkeit liegt ein Zwischenstreit vor (vgl RS0109078 [T15]). Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Die Klägerin hat auf die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses hingewiesen.
Textnummer
E125416European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0040OB00069.19D.0528.000Im RIS seit
05.07.2019Zuletzt aktualisiert am
20.02.2020