TE OGH 2019/6/24 2Ob97/18f

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Veröffentlicht am 24.06.2019
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé, den Hofrat Dr. Nowotny und die Hofrätin Mag. Malesich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich, St. Pölten, Kremser Landstraße 5, vertreten durch twsc rechtsanwälte og in St. Pölten, gegen die beklagten Parteien 1. R***** GmbH, *****, vertreten durch B&S Böhmdorfer Schender Rechtsanwälte GmbH in Wien, 2. ÖBB-Infrastruktur AG, Wien 2, Praterstern 3, vertreten durch Dr. Martin Wandl und Dr. Wolfgang Krempl, Rechtsanwälte in St. Pölten, und die Nebenintervenienten (1. auf Seiten beider beklagter Parteien; 2. bis 6. nur auf Seiten der zweitbeklagten Partei) 1. Land Niederösterreich, St. Pölten, Landhausplatz 1, vertreten durch Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in St. Pölten, 2. Dr. S***** R***** als Masseverwalter im Konkurs über das Vermögen der A***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Frank Riel und andere Rechtsanwälte in Krems an der Donau, 3. P***** GmbH, *****, vertreten durch Mag. Dr. Dirk Just, Rechtsanwalt in Wien, 4. G***** GmbH, *****, vertreten durch Mecenovic Rechtsanwalt GmbH in Graz, sowie 5. i***** GesmbH und 6. Mag. DI (FH) N***** H*****, vertreten durch Singer Fössl Rechtsanwälte OG in Wien, wegen 51.580,61 EUR sA und Feststellung (Streitwert 5.000 EUR), über die außerordentlichen Revisionen der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 21. März 2018, GZ 11 R 193/17h-67, womit das Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 20. September 2017, GZ 4 Cg 98/16m-56, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

I. Der außerordentlichen Revision der erstbeklagten Partei wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung hinsichtlich der erstbeklagten Partei einschließlich ihres unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen Teils zu lauten hat:

„Das Klagebegehren,

1. die erstbeklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 51.580,61 EUR samt 4 % Zinsen aus 38.088,07 EUR vom 1. 7. 2016 bis 13. 7. 2017 und aus 51.580,61 EUR seit 14. 7. 2017 zu bezahlen, sowie

2. es werde festgestellt, dass die erstbeklagte Partei der klagenden Partei zur ungeteilten Hand mit der zweitbeklagten Partei hafte, soweit die klagende Partei aufgrund des Unfalls vom 29. 7. 2013 an die Witwe des Verstorbenen, H***** L*****, die Hinterbliebenenpension zu leisten hat,

wird abgewiesen.“

Die klagende Partei ist schuldig, der erstbeklagten Partei die mit 45.202,89 EUR (darin 5.233,86 EUR USt und 5.341,40 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die klagende Partei ist ferner schuldig, der Erstnebenintervenientin Land Niederösterreich die mit 6.716,54 EUR (darin 1.108,77 EUR USt und 65 EUR Barauslagen) bestimmten anteiligen Kosten des Verfahrens erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.

II. Die außerordentliche Revision der zweitbeklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

III. Der Antrag der zweitbeklagten Partei auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art 267 AEUV vor dem Europäischen Gerichtshof wird zurückgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 29. 7. 2013 ereignete sich in Wieselburg an der Kreuzung der Manker Straße mit der Bahnstrecke der Erlauftalbahn ein Verkehrsunfall, an dem ein mit Schotter beladener entrollter Güterwaggon und der von L***** L***** gelenkte Pkw beteiligt waren. L***** L***** wurde bei dem Unfall getötet. Die Klägerin leistet seiner Witwe seit 30. 7. 2013 eine Witwenpension.

Das Verschulden am Entrollen des Güterwaggons traf den Kleinwagenführer W***** F***** (idF: KL-Führer), der den Klemmkeil des Waggons zu wenig festgezogen und damit das erforderliche Mindestsicherungsmittel gegen das vorhandene Gefälle (9 Promille) zu setzen verabsäumt hatte. Er wurde strafgerichtlich wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung verurteilt. Im Unfallzeitpunkt war der KL-Führer von seinem Arbeitgeber aufgrund eines Arbeitskräfteüberlassungsvertrags an die Erstbeklagte verliehen.

Die Zweitbeklagte ist ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen. Sie hatte mit der S*****gesellschaft mbH einen Rahmenvertrag abgeschlossen, der sie berechtigte, zu den vertraglich vereinbarten Stundensätzen einseitig (ua) Zugführer für Arbeitszüge (SKL-/KL-Führer) abzurufen. In ihrem Angebot hatte die erwähnte GmbH mitgeteilt, dass sie ihrerseits die benötigten Leistungen bei ihren (namentlich aufgezählten) Partnern abrufen würde. Mit „Leistungskontrakt“ vom 1. 4. 2013 übernahm die Erstbeklagte von der GmbH die Rechte und Pflichten aus dem Rahmenvertrag.

Die Zweitbeklagte beabsichtigte die Sanierung von Hochwasserschäden an der von ihr betriebenen Strecke der Erlauftalbahn. Sie beauftragte im Rahmen einer Ausschreibung die Drittnebenintervenientin als Werkunternehmerin mit zahlreichen Einzelleistungen, ua mit der Durchführung von Entwässerungsarbeiten auf einem Teilstück der Bahnstrecke. Die Zweitbeklagte stellte der Drittnebenintervenientin für die Bauarbeiten nicht selbständig fahrfähige „Arbeitswagen-Waggons“ bei, darunter den von der R***** AG gemieteten, später entrollten Waggon. Außerdem stellte sie ihr einen Motorbahnwagen (MBW) 100 samt Fahrer sowie den KL-Führer (F*****) zur Verfügung, die sie allesamt bei der Erstbeklagten abgerufen hatte.

Ein Kleinwagenführer ist allgemein für die sichere Bewegung von Fahrzeugen zuständig, dazu gehören mehrere Tätigkeiten, wie das Sichern von Fahrzeugen, das Durchführen einer Bremsprobe oder der Aufenthalt an der Spitze eines Verschubs („Spitzenverschieber“), und zwar auch auf Baugleisen.

Der bei der Erstbeklagten abgerufene KL-Führer hatte im Jahr 2008 die betriebliche und technische Prüfung zum Kleinwagenführer, Zugvorbereiter für Nebenfahrten, Zugfunk auf KL/SKL und Zugleitbetrieb für Kleinwagenführer mit Erfolg abgelegt. Er war Inhaber eines Berechtigungsausweises der ÖBB zum Führen von Triebfahrzeugen im Netz der ÖBB mit dem Geltungsbereich „Nebenfahrten“. Die Erstbeklagte überwachte die Schulungs- und Ausbildungsunterlagen des KL-Führers und organisierte die Fortbildungen für ihn.

Der KL-Führer war ab 27. 7. 2013 an der Baustelle tätig. Vor Aufnahme seiner Tätigkeit erhielt er von beiden Beklagten eine ausführliche schriftliche und mündliche Streckenschulung. Er wurde auch über das Gefälle der Strecke informiert; Mitarbeiter der Zweitbeklagten fuhren die gesamte Strecke mit ihm ab. Er erhielt auch eine Einschulung in die Ortsbedienung der Sicherungsanlage an der späteren Unfallkreuzung.

Die Beklagten erteilten dem KL-Führer vor Ort keine konkreten Aufträge, Vorgaben oder Weisungen zur Durchführung seiner Tätigkeit. Vielmehr sollte er dort eigenverantwortlich die nach den Vorgaben der Poliere der Drittnebenintervenientin nötigen Verschubarbeiten durchführen. Er hätte nach den Vorstellungen beider Beklagter als Verschubleiter wissen müssen, wie man einen Wagen sichert und eigenverantwortlich für die Sicherungsmittel beim Verschub zu sorgen gehabt. Die Zweitbeklagte hatte dafür gesorgt, dass auf der Baustelle Klemmkeile vorhanden waren.

An der Entrollung war auch eine selbstfahrende Arbeitsmaschine beteiligt. Dabei handelte es sich um ein Zweiwegefahrzeug, das sowohl außerhalb der Gleisanlage betrieben als auch eingegleist und auf der Gleisanlage fortbewegt werden kann. Halterin und Zulassungsbesitzerin war die Drittnebenintervenientin. Die Verwendung von Zweiwegefahrzeugen im Rahmen der Bauarbeiten war zwar von der Zweitbeklagten nicht ausdrücklich angeordnet. Es war ihr aber bekannt und „für sie in Ordnung“, dass die Drittnebenintervenientin Zweiwegefahrzeuge einsetzen wird. Sie rechnete insbesondere auch mit deren Einsatz beim Verschub.

Die Drittnebenintervenientin begann am 27. 7. 2013 damit, zur Herstellung der Entwässerung der Bahnanlage eine Künette auszuheben. Das Aushubmaterial wurde auf die beigestellten Material- und Arbeitswagen verladen, und zwar auch auf den später entrollten Waggon. Am 29. 7. 2013 gleiste die Drittnebenintervenientin das Zweiwegefahrzeug ein und setzte es für die Grabarbeiten, die Verladearbeiten des Aushubmaterials und den Verschub der Arbeitswagen ein. Der später entrollte Waggon, der teilweise mit Aushubmaterial beladen war, wurde nach Verladearbeiten abgestellt, aber vom KL-Führer nur unzureichend gesichert. Für die weiteren Verschubarbeiten mussten dann das Zweiwegefahrzeug und ein Materialwagen mit dem abgestellten Waggon gekuppelt werden. Der KL-Führer wickelte diesen Verschub mit Handzeichen ab. Das Zweiwegefahrzeug schob den Materialwagen auf den abgestellten Waggon zu. Bei der Pufferberührung wurde der abgestellte Waggon wegen der unzureichenden Sicherung in Bewegung gesetzt und entrollte.

Die Bahnstrecke verläuft im Unfallbereich annähernd in Nord-Süd-Richtung entsprechend dem Verlauf der Erlauf. Die Manker Straße kreuzt die Bahnstrecke in einem Winkel von 57° aus südöstlicher Richtung kommend. Der Pkw näherte sich der Kreuzung aus südöstlicher Richtung, der Waggon aus südlicher Richtung. Zur Unfallzeit war die Bahnstrecke aufgrund der Bauarbeiten gesperrt, weshalb die Lichtsignalanlage an der Unfallkreuzung kein Rotlicht zeigte. Weder im Normal- noch im Ortsbetrieb reagiert die Sicherungsanlage der Kreuzung automatisch auf einen entrollten Waggon. Die Kreuzung ist in der Annäherungsrichtung des Pkw deutlich erkennbar und war dem ortskundigen Lenker auch bewusst. Er beobachtete bei seiner Annäherung den Gleiskörper und den sich darauf bewegenden Schienenverkehr nicht oder nicht ausreichend und reagierte nicht wirksam, insbesondere nicht durch eine Geschwindigkeitsreduktion. Hätte der Pkw-Lenker den Gleiskörper beobachtet, hätte er den Waggon so rechtzeitig sehen können, dass er vor ihm anhalten hätte können. Die Erkennbarkeit war zwar eingeschränkt, aber zumindest Teile des Waggons waren immer sichtbar.

Die Klägerin begehrte unter Berufung auf die Legalzession gemäß § 332 ASVG zuletzt 51.580,61 EUR sA und die Feststellung der solidarischen Haftung der beklagten Parteien, soweit die Klägerin aufgrund des Unfalls an die Witwe Hinterbliebenenpension zu leisten habe. Die Witwenpensionsleistungen der Klägerin vom 30. 7. 2013 bis 30. 6. 2017 fänden auch unter Berücksichtigung des Mitverschuldens des getöteten Pkw-Lenkers Deckung im Anspruch der Witwe gegen die beklagten Parteien. Der Unfall habe sich im Eisenbahnbetrieb beider Beklagter ereignet. Das Verschulden des KL-Führers sei beiden Beklagten zuzurechnen, weil er mit ihrem Willen beim Betrieb tätig gewesen sei.

Die Erstbeklagte entgegnete, sie sei nicht Betriebsunternehmerin gewesen. Sie habe lediglich der Zweitbeklagten auf deren Abruf den MBW 100, einen Fahrer und einen KL-Führer zur Verfügung gestellt, nicht aber den entrollten Waggon. Alleinige Betriebsunternehmerin sei die Zweitbeklagte gewesen, weil nur diese die Bauarbeiten beauftragt und die Verfügungsgewalt über die Gleis- und Signalanlagen gehabt habe. Der KL-Führer habe von der Erstbeklagten alle erforderlichen Schulungen erhalten; eine darüber hinausgehende Überwachungspflicht habe nicht bestanden.

Die Zweitbeklagte erwiderte, nur die Erstbeklagte sei Betriebsunternehmerin gewesen. Sämtliche unfallbeteiligten Fahrzeuge seien von der Erstbeklagten als wirtschaftlich eigenständiges und eigenverantwortliches Eisenbahnverkehrsunternehmen betrieben worden. Die Sorgfaltsverstöße des KL-Führers seien ausschließlich ihr zuzurechnen. Die Bauarbeiten, bei denen der Waggon entrollt sei, seien nicht von der Zweitbeklagten, sondern nach entsprechender Vergabe eigenverantwortlich von der Drittnebenintervenientin durchgeführt worden. Die Zweitbeklagte habe ihr dazu vereinbarungsgemäß Transportwaggons, Motorbahnwagen, Fahrer und KL-Führer bereitgestellt. Das Zweiwegefahrzeug sei dagegen in der Disposition und Verantwortung der Drittnebenintervenientin gestanden, sein Einsatz sei der Zweitbeklagten nicht zuzurechnen. Das Feststellungsbegehren sei erst nach Verjährung schlüssig gestellt worden. Die Klägerin müsse sich das Allein- bzw Mitverschulden des Pkw-Lenkers anrechnen lassen.

Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren zur Gänze und dem Feststellungsbegehren insoweit statt, als die Leistungspflicht der Klägerin in zwei Dritteln des unfallbedingten Unterhaltsschadens der Witwe Deckung findet. Das Feststellungsmehrbegehren wies es – unbekämpft und daher rechtskräftig – ab.

Das Erstgericht ging – soweit in dritter Instanz noch wesentlich – vom eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt aus und gelangte rechtlich zu dem Ergebnis, der Unfall habe sich im Betrieb beider beklagter Eisenbahnunternehmen ereignet. Beiden sei im Rahmen der erweiterten Gehilfenhaftung nach § 19 Abs 2 EKHG auch das Verschulden des KL-Führers zuzurechnen. Den Pkw-Lenker treffe ein Mitverschulden von einem Drittel, sodass eine Schadensteilung im Verhältnis von 2 : 1 zu Lasten der Beklagten angemessen sei. Da die an die Witwe jährlich erbrachten Leistungen in der Quote von zwei Dritteln Deckung fänden, bestehe das Leistungsbegehren zur Gänze zu Recht. Der Verjährungseinwand sei unberechtigt, auch die Voraussetzungen des § 18 EKHG lägen nicht vor.

Das von den beklagten Parteien angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Zur Haftung der Zweitbeklagten führte es aus, es habe sich eine Gefahr des Eisenbahnbetriebs verwirklicht, deren Ursache im Zusammenwirken der Gefahrenmomente der Nutzung der Eisenbahninfrastruktur (der Schienen) und der Bewegung großer Massen (entrollter Waggon) gelegen sei. Das Verschulden des KL-Führers sei nach § 19 Abs 2 EKHG auch der Zweitbeklagten zuzurechnen, habe doch der KL-Führer die für den Unfall ursächliche Tätigkeit, nämlich die Absicherung des Waggons, zweifellos mit deren Willen verrichtet. Die Bestellung von Koordinatoren nach dem BauKG könne die Zweitbeklagte von ihrer Haftung gegenüber der Geschädigten nicht entlasten, sodass entsprechende Feststellungen entbehrlich seien. Die Unterbrechungswirkung des Feststellungsbegehrens sei infolge dessen späterer Präzisierung aufrecht geblieben, sodass Verjährung nach § 1489 ABGB nicht eingetreten sei. Die Ausschlussfrist des § 18 EKHG betreffe lediglich Ansprüche aus der Gefährdungshaftung, nicht aber solche nach § 19 Abs 2 EKHG.

Die Erstbeklagte habe der Zweitbeklagten für die Bauarbeiten einen MBW 100 samt Fahrer und den KL-Führer zur Verfügung gestellt. Sie habe nicht nur dessen Befähigung überwacht und Fortbildungen organisiert, sondern ihm (auch) eine ausführliche schriftliche und mündliche Streckenschulung und Einschulung in die Ortsbedienung der Sicherungsanlage an der späteren Unfallkreuzung gegeben. Auch die Erstbeklagte habe die Möglichkeit zur Kontrolle und Abwehr der aus dem konkreten Eisenbahnbetrieb entstehenden Gefahren gehabt, weil der KL-Führer beim Verschub eigenverantwortlich gehandelt und damit selbst die Bewegung der (besonders gefährlichen) schweren Massen der Güterwaggons (mit-)bestimmt habe und für die Sicherungsmittel beim Verschub verantwortlich gewesen sei. Sie habe sich im eigenen wirtschaftlichen Interesse am Verschubbetrieb zum Ab- und Antransport der Güterwaggons anlässlich der Bauarbeiten beteiligt und die damit verbundenen Gefahren kontrollieren und vermeiden können. Dies habe auch die mangelhafte Absicherung eines zuvor verschobenen Güterwaggons durch den KL-Führer betroffen. Auch die Erstbeklagte sei daher (Mit-)Betriebsunternehmerin iSd § 5 EKHG gewesen und hafte ebenfalls gemäß § 19 Abs 2 EKHG für das Verschulden des KL-Führers.

Gegen diese Entscheidung richten sich die außerordentlichen Revisionen beider Beklagter jeweils mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das gegen sie gerichtete Klagebegehren abgewiesen werde. Hilfsweise wird jeweils ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt in der ihr (nur) in Bezug auf die Erstbeklagte freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

I. Zur außerordentlichen Revision der Erstbeklagten:

Die Revision der Erstbeklagten ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht; sie ist daher auch berechtigt.

I.1 Die Gefährdungshaftung für einen Unfall beim Betrieb einer Eisenbahn trifft nach § 5 EKHG den Betriebsunternehmer. Diesem ist nach § 19 Abs 2 EKHG auch das Verschulden jener Personen zuzurechnen, die mit seinem Willen beim Betrieb der Eisenbahn tätig waren. Für den Begriff der Eisenbahn verweist § 2 EKHG auf das Eisenbahngesetz in der jeweils geltenden Fassung. Dort wurde der Eisenbahnbetrieb aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben (RL 91/440/EWG, nunmehr RL 2012/34/EU) mit den §§ 1a und 1b EisbG in den Infrastruktur- und den Verkehrsbetrieb aufgespalten. Eisenbahnunternehmen sind daher jetzt Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) und Eisenbahn-verkehrsunternehmen (EVU).

I.2 Der nach § 5 EKHG haftpflichtige Betriebsunternehmer ist, wie der Senat jüngst in 2 Ob 34/18s bekräftigt hat, jener, der die Eisenbahn auf eigene Rechnung und Gefahr betreibt. Dies setzt voraus, dass er den wirtschaftlichen Nutzen aus dem Bahnbetrieb zieht und selbständig darüber verfügen kann (1 Ob 173/97s SZ 70/222; 2 Ob 15/16v SZ 2017/20; 2 Ob 18/16k mwN). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist infolge des Verweises in § 2 EKHG stets im Kontext mit den eisenbahnrechtlichen Normen zu verstehen. Danach kann nur ein EVU oder ein EIU Betriebsunternehmer iSd § 5 EKHG sein. Umgekehrt ist aber nicht jedes EVU zwingend Betriebsunternehmer iSd § 5 EKHG (vgl 2 Ob 34/18s [Traktionserbringer]).

I.3 Der Bau von Eisenbahnen obliegt nach den §§ 1a und 18 EisbG dem EIU und nicht dem EVU. Auch im vorliegenden – dem zu 2 Ob 34/18s entschiedenen vergleichbaren – Fall bestand zwischen dem zweitbeklagten EIU und der Erstbeklagten ein Rahmenvertrag über die Erbringung bestimmter Leistungen. Danach war die Erstbeklagte „auf Abruf“ zur Bereitstellung von Triebfahrzeugen (hier eines MBW 100) samt Bedienungspersonal, insbesondere aber von Kleinwagenführern für die Zwecke der Zweitbeklagten verpflichtet, die sodann ohne weitere Einbindung der Erstbeklagten über Art, Ort und Zeit des Einsatzes bestimmte.

I.4 Auch wenn daher die Erstbeklagte dasjenige Unternehmen ist, das den am Unfall schuldtragenden KL-Führer über Abruf beigestellt hat, diesen zusätzlich zur Zweitbeklagten auf der Baustelle einschulte und seine Fortbildung „organisierte“, hatte sie – abgesehen von ihrem vertraglichen Entgeltanspruch – weder ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der Sanierung der Bahnstrecke noch kam ihr die Verfügungsgewalt über die abgerufenen Betriebsmittel und Personen auf der Baustelle zu. Den wirtschaftlichen Nutzen aus deren Einsatz im Bahnbetrieb zog vielmehr allein das zweitbeklagte EIU, weil er ausschließlich der dem gesetzlichen Aufgabenbereich des EIU zugewiesenen Sanierung der Bahnstrecke diente.

I.5 In der bereits mehrfach zitierten Entscheidung 2 Ob 34/18s = RS0132607 hat der Senat klargestellt, dass es für die Eigenschaft als Betriebsunternehmer iSd § 5 EKHG darauf ankommt, ob das EVU als solches im Zeitpunkt des Unfalls selbständig am Eisenbahnbetrieb teilgenommen hat. Das trifft im vorliegenden Fall auf die Erstbeklagte nicht zu. Dazu kommt, dass der MBW 100 samt Fahrer am Unfall gar nicht beteiligt war, sodass es auch an einem haftungsbegründenden Zusammenwirken eines Triebfahrzeugs der Erstbeklagten mit der Infrastruktur der Zweitbeklagten fehlen würde.

I.6 Aus diesen Gründen ist die Erstbeklagte im konkreten Fall nicht als Betriebsunternehmerin iSd § 5 EKHG zu qualifizieren. Somit trifft sie weder die Gefährdungshaftung nach dem EKHG noch haftet sie gemäß § 19 Abs 2 EKHG für das Verschulden des KL-Führers.

In Stattgebung der Revision der Erstbeklagten ist das gegen sie gerichtete Klagebegehren daher abzuweisen.

I.7 Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 ZPO, im Rechtsmittelverfahren iVm § 50 Abs 1 ZPO, wobei der für das Berufungsverfahren verzeichnete Streitgenossenzuschlag nicht gebührt (RS0036223).

Das Unterliegen der Klägerin gegenüber der Erstbeklagten hat zur Folge, dass auch die Verfahrenskosten der Erstnebenintervenientin anteilig zu ersetzen sind. Nur diese ist dem Verfahren auch auf Seiten der Erstbeklagten beigetreten.

II. Zur außerordentlichen Revision der Zweitbeklagten:

Die außerordentliche Revision der Zweitbeklagten ist mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

II.1 Bereits in der Entscheidung 2 Ob 238/17i wurde ausdrücklich klargestellt, dass für die Haftung des EIU eine besondere von der Infrastruktur ausgehende Gefährlichkeit nicht erforderlich ist. In der Entscheidung 2 Ob 18/16k wurde zwar eine „Gleiserhöhung“ als ein typisches Gefahrenmoment der in der Verfügungsgewalt des EIU stehenden Schienentrasse angesehen, nicht aber die Zurechnung des Unfalls zum Betrieb des EIU und die Anwendbarkeit des EKHG von dieser Gefahrenerhöhung abhängig gemacht. Auf die Frage, ob im vorliegenden Fall das Gefälle der Schienentrasse von 9 Promille eine besondere Gefährlichkeit bewirkte, kommt es daher nicht an. Dass die in 2 Ob 18/16k und 2 Ob 69/17m aufgestellten Haftungsgrundsätze auch auf Baustellen gelten, wurde ebenfalls bereits mehrfach ausgesprochen (2 Ob 73/17s; 2 Ob 238/17i; 2 Ob 34/18s).

II.2 Nach § 19 Abs 2 EKHG haftet der Betriebsunternehmer für das Verschulden der Personen, die mit seinem Willen beim Betrieb der Eisenbahn tätig waren. Diese Bestimmung ordnet eine über die §§ 1313a und 1315 ABGB hinausgehende Gehilfenhaftung an (RS0028617). Unerheblich ist, ob vom Willen des Betriebsunternehmers auch ein anlässlich des Tätigwerdens gesetztes Fehlverhalten umfasst ist (RS0058312). Auch auf das Vorliegen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses kommt es nicht an (RS0058481). Nur für Tätigkeiten, die ganz aus dem Rahmen des Vorgesehenen fallen, hat der Betriebsunternehmer nicht einzustehen (vgl RS0058472).

Nach diesen Kriterien begegnet die Rechtsansicht der Vorinstanzen keinen Bedenken: Die Tatsache, dass der KL-Führer im Rahmen der bestehenden Vertragsverhältnisse von der Erstbeklagten der Zweitbeklagten und von dieser der Drittnebenintervenientin beigestellt wurde, vermag die Zurechnung seines Fehlverhaltens zur Zweitbeklagten ebenso wenig auszuschließen, wie der Umstand, dass er die konkret anfallenden Tätigkeiten eigenverantwortlich durchzuführen hatte und die Gefahrenbeherrschung bei ihm lag. Denn die vom Willen der Zweitbeklagten gedeckte Tätigkeit des KL-Führers beim Betrieb der Eisenbahn umfasste jedenfalls das gesamte Spektrum seiner auf der Baustelle in Frage kommenden Leistungen beim Verschub. Dazu zählte nach den Feststellungen auch das „Sichern von Fahrzeugen“ und – wie im konkreten Fall – auch von Wagen, wofür die Zweitbeklagte selbst die erforderlichen Klemmkeile zur Verfügung gestellt hatte. Gerade dabei ist dem KL-Führer aber der zum Unfall führende Fehler unterlaufen. Ob der unzureichend gesicherte Waggon in der Folge durch das Zweiwegefahrzeug oder ein anderes Triebfahrzeug oder auf sonstige Weise ins Rollen gebracht wurde, ist für die Frage der Zurechnung dieses Fehlverhaltens nicht von Bedeutung. Ebenso wenig relevant ist daher, ob die Zweitbeklagte dem Einsatz des Zweiwegefahrzeugs zugestimmt hatte, wobei aber ohnehin feststeht, dass sie jedenfalls von diesem Einsatz wusste und dieser „für sie in Ordnung war“.

Wenn daher die Vorinstanzen zu dem Ergebnis gelangten, der KL-Führer sei im Unfallszeitpunkt mit dem Willen der Zweitbeklagten beim Betrieb der Eisenbahn tätig gewesen, so wirft dies keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

II.3 Aus welchen Gründen ihre Haftung für den Betriebsgehilfen nach § 19 Abs 2 EKHG infolge Bestellung von Koordinatoren im Sinn des Bauarbeitenkoordinationsgesetzes (BauKG) nicht zum Tragen kommen sollte, zeigt die Zweitbeklagte in der Revision nicht auf, die in diesem Zusammenhang jegliche Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Lehre vermissen lässt. Mit ihren Ausführungen zu „Verfall“ und (angeblicher) Verjährung geht die Zweitbeklagte mit keinem Wort auf die umfangreiche Begründung des Berufungsgerichts ein. Auch in diesen Punkten zeigt sie daher keine erhebliche Rechtsfrage auf.

II.4 Da keine Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zu lösen ist, ist die außerordentliche Revision der Zweitbeklagten zurückzuweisen.

III. Zum Antrag auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens:

III.1 Eine Prozesspartei hat nach ständiger Rechtsprechung keinen verfahrensrechtlichen Anspruch, die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union durch das Gericht zu beantragen, sodass auch der entsprechende Antrag zurückzuweisen ist (2 Ob 212/18t; 3 Ob 250/18p; RS0058452).

III.2 Unionsrechtliche Bedenken bestehen nicht. Die Zweitbeklagte sieht einen Verstoß gegen Unionsrecht darin, dass im EKHG die strikte Trennung von EIU und EVU nicht umgesetzt worden sei, was dazu führe, dass ein Unternehmen für Fehlleistungen des anderen zu haften habe. Richtigerweise müsse die Haftung des EIU und des EVU jeweils getrennt beurteilt werden. Genau das ist aber im vorliegenden Fall ohnedies geschehen.

Textnummer

E125411

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:0020OB00097.18F.0624.000

Im RIS seit

05.07.2019

Zuletzt aktualisiert am

31.07.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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