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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3Betreff
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Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des H M, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Jänner 2019, Zl. W119 2152085-1/18E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin am 28. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Fluchtgründe brachte er vor, die Familie seiner Lebensgefährtin sei gegen die geplante Eheschließung gewesen und habe ihm und seiner Lebensgefährtin mit dem Tod gedroht, weil sie unterschiedlichen Volksgruppen angehört hätten, woraufhin sie geflohen seien. Sein Bruder habe ihn und seine Lebensgefährtin sodann in Abwesenheit verheiratet. Die Lebensgefährtin des Revisionswerbers sei ursprünglich einem anderen Mann versprochen gewesen. Da der Revisionswerber und seine Lebensgefährtin eine außereheliche körperliche Beziehung geführt hätten, hätten sie das Vergehen der "Zina" begangen. 2 Mit Bescheid vom 22. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I), erteilte dem Revisionswerber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II) sowie gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III).
3 Die gegen Spruchpunkt I erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig. 4 Begründend führte das BVwG - soweit entscheidungsrelevant - aus, dem Revisionswerber drohe keine asylrelevante Verfolgung, weil das vorgebrachte Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber Afghanistan wegen einer außerehelichen sexuellen Beziehung mit seiner Lebensgefährtin verlassen habe. Es könne auch nicht festgestellt werden, dass er seine Lebensgefährtin geheiratet habe. Da weder die behauptete Beziehung noch die Eheschließung des Revisionswerbers zu seiner nunmehrigen Lebensgefährtin festgestellt habe werden können, könne daraus auch keine westliche Orientierung des Revisionswerbers abgeleitet werden. 5 Nach näher angeführten Länderfeststellungen seien in Afghanistan verschiedene Arten der Ehe möglich. Da der Revisionswerber erklärt habe, die Ehe sei in Abwesenheit beider Eheleute geschlossen worden, komme im gegenständlichen Fall nur die Stellvertreterehe in Betracht. Dabei handle es sich um ein legales Abkommen, welches es Paaren erlaube, in Abwesenheit eines oder beider Ehepartner zu heiraten. Ein Ehepartner könne eine dritte Person als Stellvertreter ernennen. Der Mann oder dessen Vertreter sowie die Frau und deren Vormund müssten dabei alle physisch am selben Ort anwesend sein. Die Stellvertreterehe sei erlaubt, sofern beide Parteien damit einverstanden und repräsentiert seien. Auf den Revisionsfall übertragen, bedeute dies, dass sowohl der Revisionswerber als auch seine Partnerin bei der Eheschließung repräsentiert sein hätten müssen. Wenngleich der Revisionswerber anführe, sein Bruder habe in seiner Abwesenheit die Ehe geschlossen und dies als Stellvertretung für ihn angenommen werden könne, sei jedoch zu keinem Zeitpunkt hervorgekommen, dass die nunmehrige Lebensgefährtin des Revisionswerbers von einer anderen Person als dem Bruder des Revisionswerbers repräsentiert worden sei, weshalb keine gültige Stellvertreterehe vorliege.
6 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vorbringt, das BVwG sei von den vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien zur Begründungspflicht abgewichen. Das individuelle Vorbringen eines Asylwerbers sei ganzheitlich zu würdigen, dies unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz seiner Angaben, seiner persönlichen Glaubwürdigkeit und der objektiven Wahrscheinlichkeit des Vorbringens, wobei letztere eine Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten verlange. Das angefochtene Erkenntnis des BVwG befasse sich nur mit den theoretischen Voraussetzungen der Eheschließung in Afghanistan. Über die gesellschaftliche Akzeptanz von Verbindungen zwischen Personen, die unterschiedlichen Volksgruppen angehörten, insbesondere aber über die Konsequenzen im Falle einer Nichtakzeptanz solch einer Verbindung, seien dagegen keine Feststellungen getroffen worden.
7 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht
bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 16.1.2019, Ra 2018/18/0239-0241, mwN).
11 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Bereits in der Einvernahme vor dem BFA brachte der Revisionswerber vor, dass er mit seiner Lebensgefährtin eine außereheliche körperliche Beziehung geführt habe und damit das Vergehen der "Zina" begangen habe. Auch in der Beschwerde wies der Revisionswerber ausführlich auf die drohende Gefahr von Ehrenmorden aufgrund begangener "Zina" hin. Selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wiederholte der Revisionswerber sein Vorbringen, dass er zu seiner Lebensgefährtin eine körperliche Beziehung gehabt habe und deshalb geflohen sei. 12 Das BVwG verneinte im gegenständlichen Fall eine Stellvertreterehe, setzte sich in weiterer Folge aber nicht mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zur "Zina" und einer daraus für ihn und seine Lebensgefährtin allfällig drohenden Verfolgungsgefahr auseinander.
13 Feststellungen zum Umgang mit vor- bzw. außerehelichem Geschlechtsverkehr in Afghanistan hat das BVwG nicht getroffen. Solcher Feststellungen bedarf es vor dem Hintergrund des Vorbringens des Revisionswerbers im gegenständlichen Fall jedoch, um eine asylrelevante Verfolgung beurteilen zu können. Dabei hätte sich das BVwG u.a. auch damit auseinandersetzen müssen, ob und inwieweit die "Zina" - etwa durch die nachträgliche "Eheschließung" - legitimiert werden könnte und ob vor diesem Hintergrund im Revisionsfall noch eine aktuelle Verfolgungsgefahr besteht.
14 Da nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensfehler hätte anders ausfallen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 5. Juni 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180062.L00Im RIS seit
19.07.2019Zuletzt aktualisiert am
19.07.2019