TE Vwgh Erkenntnis 2019/4/29 Ra 2018/20/0031

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Veröffentlicht am 29.04.2019
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §34 Abs1 Z3
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs6 Z2
AsylG 2005 §34 Abs6 Z2 idF 2012/I/087
AsylG 2005 §35
AsylG 2005 §35 Abs5
AsylG 2005 §8
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger, den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision der N A J in L, vertreten durch Dr. Johannes Lehner, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Bethlehemstraße 3, gegen das am 11. September 2017 mündlich verkündete und am 1. Dezember 2017 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, Zl. W251 2137851-1/25E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige von Somalia, stellte am 13. April 2015 bei der Österreichischen Botschaft in Nairobi gemeinsam mit ihrem Vater und ihren Geschwistern einen Antrag auf Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Am 26. Juli 2016 reisten die Antragsteller aufgrund eines Visum D nach Österreich zu der in Österreich subsidiär schutzberechtigten Mutter der Revisionswerberin ein. Zum Zeitpunkt der Einreise sowie der Antragstellung auf internationalen Schutz am 1. August 2016 war die Revisionswerberin noch minderjährig.

2        Mit Bescheid vom 19. September 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Unter einem erkannte ihr die Behörde den Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis 5. Juni 2018.

3        Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gerichtete Beschwerde der mittlerweile volljährig gewordenen Revisionswerberin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11. September 2017 als unbegründet ab. Weiters sprach das BVwG aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte das BVwG aus, dass der Revisionswerberin keine individuelle Verfolgung oder Verfolgungsgefahr in ihrem Herkunftsstaat drohe.

4        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

5        In der Revision wird im Wesentlichen vorgebracht, dass den minderjährigen Geschwistern der Revisionswerberin vom BVwG am 11. September 2017 jeweils gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden sei. Gleichzeitig sei dem Vater als Familienangehörigen seiner minderjährigen Töchter im Sinn des § 2 Z 22 AsylG 2005 gemäß § 34 Abs. 2 und Abs. 4 AsylG 2005 ebenfalls der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden. Der zum Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf internationalen Schutz minderjährigen Revisionswerberin stünde ein von ihrem Vater abgeleitetes Asylrecht zu. Es stelle sich die grundsätzliche Rechtsfrage, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit relevant sei. Das BVwG stelle bei der Beurteilung der Frage nach der Minderjährigkeit unzulässigerweise auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Entscheidung ab.

6        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

7        Die Revision ist zulässig und berechtigt.

8        § 2 und § 34 AsylG 2005 lauten auszugsweise:

„Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist

1. [...]

22. Familienangehöriger: wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat;

23. [...]“

„Familienverfahren im Inland

§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von

1.   einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;

2.   einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder

3.   einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

1.   dieser nicht straffällig geworden ist und

     (Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)

3.   gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn

1.   dieser nicht straffällig geworden ist;

     (Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)

3.   gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und

4.   dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.

(6) Die Bestimmungen dieses Abschnitts sind nicht anzuwenden:

1.   auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;

2.   auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind;

3.   im Fall einer Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30 NAG).“

9        Im vorliegenden Fall wurde jeweils mit dem am 11. September 2017 mündlich verkündeten Erkenntnis des BVwG drei (auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG) minderjährigen Geschwistern der Revisionswerberin gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt, weil ihnen durch die Praxis der Genitalverstümmelung in ihrem Herkunftsstaat schwere Misshandlungen und Körperverletzungen mit lebenslangen Folgen drohten. Gleichzeitig wurde dem Vater der Revisionswerberin vom BVwG gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 und 4 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten in Ableitung von den angeführten (minderjährigen) Töchtern - den Geschwistern der Revisionswerberin - zuerkannt sowie gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

10       Mit den hier maßgeblichen Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem in § 34 AsylG 2005 verwendeten Begriff des Familienangehörigen hat sich der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 24. Oktober 2018, Ra 2018/14/0040 bis 0044, umfassend auseinandergesetzt, sodass gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen werden kann.

11       In der genannten Entscheidung hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass der in § 34 AsylG 2005 verwendete Begriff des Familienangehörigen - anders als etwa bei der Anwendung des § 35 AsylG 2005, der in seinem Abs. 5 festlegt, wer nach dieser Bestimmung als Familienangehöriger anzusehen ist - im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen ist. Weiters ist aus dem Blickwinkel des Kindes, das die Eigenschaft als Familienangehöriger von seinen Eltern ableiten möchte, auf den Zeitpunkt der Antragstellung - bezogen auf den von ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz - abzustellen. Es muss, um als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu gelten, in diesem Zeitpunkt minderjährig und ledig sein. Dem Eintritt der Volljährigkeit vor dem Entscheidungszeitpunkt kommt in diesem Fall keine Bedeutung zu. Für die Anwendung des § 34 AsylG 2005 ist es hinreichend, dass (und solange) zumindest ein Fall des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 gegeben ist.

12       § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 sieht vor, dass die Bestimmungen über das Familienverfahren nicht auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, anzuwenden sind, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind. Nach den Materialien (der Novelle BGBl. I Nr. 122/2009) zu § 34 Abs. 6 AsylG 2005 (RV 330 BlgNR 24. GP, 24) soll damit „verhindert werden, dass es zu sogenannten ‚Ketten-Familienverfahren‘ und damit über verschiedenste Familienverhältnisse vermittelte Gewährungen von Asyl oder subsidiären Schutz kommt, ohne dass oftmals noch irgendein relevanter familiärer Bezug zum ursprünglichen Asyl- oder subsidiär Schutzberechtigten besteht“. Weiters führen die Materialien zu § 34 Abs. 6 AsylG 2005 aus:

„Die Bestimmung des § 34 Abs. 6 Z 2 soll allerdings nicht gelten, wenn es sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges unverheiratetes Kind handelt. Diese können daher ihren Status nach § 34 auch dann von ihren Eltern ableiten, wenn diese ihren Status bereits nach § 34 erhalten haben. Das Kind selbst ist dann aber wiederum keine taugliche Bezugsperson mehr. Die Kette endet daher jedenfalls bei diesem.“

13       Auch wenn in § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 nicht ausdrücklich auf den „Zeitpunkt der Antragstellung“ hingewiesen wird, ergeben sich aus den angeführten Erläuterungen keine Hinweise darauf, dass der Begriff „Familienangehöriger“ innerhalb des § 34 AsylG 2005 unterschiedlich ist und insbesondere der in § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 verwendete Begriff des „minderjährigen ledigen Kindes“ als „Familienangehöriger“ nicht im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen wäre.

14       Für den vorliegenden Revisionsfall bedeutet dies, dass die im Antragszeitpunkt minderjährige (und ledige) Revisionswerberin als Familienangehörige ihres Vaters, der zeitgleich mit ihr einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, anzusehen ist, sodass die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 vorliegen und die Bestimmungen des Familienverfahrens umfänglich anzuwenden sind.

15       In einem solchen Fall schließt § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 eine nach den Bestimmungen des Familienverfahrens erfolgte Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Vater nicht aus, dass auch der Revisionswerberin wiederum im Weg des Familienverfahrens der Status der Asylberechtigten in Ableitung von ihrem Vater zuerkannt werden kann (vgl. nochmals VwGH Ra 2018/14/0040 bis 0044).

16       Indem das BVwG zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass die Bestimmungen des Familienverfahrens nicht auf die Revisionswerberin anzuwenden wären, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

17       Von der vor dem Verwaltungsgerichtshof beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

18       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. April 2019

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018200031.L00

Im RIS seit

19.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

19.01.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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