TE Vwgh Erkenntnis 2019/4/30 Ro 2018/10/0035

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Veröffentlicht am 30.04.2019
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Index

L92008 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung Vorarlberg
L92105 Behindertenhilfe Rehabilitation Salzburg
001 Verwaltungsrecht allgemein
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

ABGB §947
ASVG §330a idF 2017/I/125
ASVG §707a idF 2017/I/125
BehindertenG Slbg 1981 §10a
BehindertenG Slbg 1981 §17 Abs2
MSG Vlbg 2010 §8 Abs3 idF 2018/017
VwRallg

Betreff

?

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Bleiweiss, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch in 6800 Feldkirch, Schloßgraben 1, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg vom 8. August 2018, Zl. LVwG-340-23/2018-R3, betreffend eine Angelegenheit nach dem Vorarlberger Mindestsicherungsgesetz (mitbeteiligte Partei: C K in K, vertreten durch Dr. Frank Philipp, Rechtsanwalt in 6800 Feldkirch, Bahnhofstraße 16), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Das Land Vorarlberg hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 19. Juni 2018 wies die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch (die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht und nunmehrige Revisionswerberin) den Antrag der Mitbeteiligten auf Übernahme der Unterkunfts- und Verpflegskosten für die Wohngemeinschaft W. im Haus K. ab dem 1. Jänner 2018 aus Mitteln der Mindestsicherung mit der Begründung ab, es liege keine finanzielle Hilfsbedürftigkeit vor, weil die Mitbeteiligte die anfallenden Kosten für die Unterbringung und Verpflegung aus den von ihr einzusetzenden Eigenleistungen aus der Pension, dem Pflegegeld sowie den von ihr zu fordernden Schenkungszinsen gemäß § 947 ABGB (für die Schenkung ihrer Liegenschaftsanteile an ihre Töchter mit Übergabsvertrag vom 21. März 2013) decken könne.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis hat das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (im Folgenden: VwG) über die dagegen von der Mitbeteiligten erhobene Beschwerde dahingehend entschieden, dass für die Mitbeteiligte die Unterkunfts- und Verpflegskosten der Wohngemeinschaft W. im Haus K. ab 1. Jänner 2018 übernommen würden. Die Mitbeteiligte müsse von den eigenen Einkünften 80 % der monatlichen Pension, das Pflegegeld, soweit es 10 % der Stufe 3 übersteige, sowie 100 % allfälliger Vermögenserträge einsetzen. Dabei stützte sich das VwG auf die §§ 1, 5 Abs. 3 und § 8 des Vorarlberger Mindestsicherungsgesetzes (MSG) iVm § 1 Abs. 3, § 5 Abs. 1 und 4, § 6 Abs. 3 und § 9 der Mindestsicherungsverordnung. Eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde gemäß § 25a VwGG für zulässig erklärt.

3 Dabei ging das VwG von folgendem Sachverhalt aus: Die Marktgemeinde G. betreibe mittelbar über eine ausgelagerte GmbH unter anderem das Haus K. mit der Wohngemeinschaft W. Dort lebten 12 Personen mit der Pflegestufe 1 bis 3. Voraussetzung für die Aufnahme in diese Wohngemeinschaft sei die Einstufung zumindest in der Pflegestufe 1. Im Pflegeheim W. seien tagsüber (7 bis 21 Uhr) jeweils zwei Pflegefachkräfte anwesend. In den Nachtstunden bestehe eine Rufbereitschaft für eine diplomierte Pflegefachkraft. Die Leitung des Pflegeheims obliege einer diplomierten Pflegefachkraft. Die Zimmer der Wohngemeinschaft seien wie in einem Pflegeheim ausgestattet; es bestehe ein gemeinsamer Wohnbereich, in welchem auch eine Betreuung stattfinde. Die Mitbeteiligte, die sich seit 15. März 2017 in der Wohngemeinschaft W. aufhalte, bewohne dort ständig (Tag und Nacht) ein Einzelzimmer. Sie habe sich vom 1. Jänner 2018 bis Ende Februar 2018 in der Pflegestufe 2 befunden, seit 1. März 2018 sei sie in der Pflegestufe 3 eingestuft. Das Entgelt für die Unterkunft und die Verpflegung in der Wohngemeinschaft W. richte sich nach der Einstufung in eine Pflegestufe entsprechend dem jeweiligen Betreuungs- und Pflegebedarf, wobei die Tagsätze sich nach den Tagsätzen der Landesregierung für die Heimabrechnungen bemäßen. Von der Betreiberin werde unter anderem die für die Bewohner angemessene Pflege und Behandlungspflege durch geeignetes Personal erbracht. Die monatlichen Kosten der Wohngemeinschaft W. betrügen in der Pflegestufe 2 EUR 2.346,24, in der Pflegestufe 3 EUR 3.011,74. Die monatliche Pension der Mitbeteiligten betrage EUR 1.319,13, das Pflegegeld der Stufe 2 EUR 290,--, das Pflegegeld der Stufe 3 EUR 451,80.

4 In rechtlicher Hinsicht führte das VwG nach Darstellung der als maßgeblich erachteten Rechtsgrundlagen aus, dass es sich - entgegen der Ansicht der belangten Behörde - bei der gegenständlichen Wohngemeinschaft um eine "stationäre Pflegeeinrichtung" im Sinn des § 330a ASVG handle. Der Begriff "Pflege" sei im Pflegegeldrecht definiert und umfasse Betreuungs- und Hilfeleistungen. "Stationär" bedeute jedenfalls eine Unterbringung während des Tages und der Nacht sowie einen Anspruch des Betroffenen auf Pflegegeld zur Abdeckung der Pflegekosten. Die Mitbeteiligte lebe in einer Wohngemeinschaft, sie sei somit in einer Einrichtung stationär aufgenommen, in der nur Personen aufgenommen würden, die sich zumindest in der Pflegestufe 1 des Bundespflegegeldgesetzes befänden. Die Mitbeteiligte selbst befinde sich in der Pflegestufe 2 und seit dem 1. März 2018 in der Pflegestufe 3. In der Einrichtung seien tagsüber zwei Pflegefachkräfte anwesend und in der Nacht bestehe eine Rufbereitschaft für eine diplomierte Pflegefachkraft. Es sei somit davon auszugehen, dass für die gegenständliche Wohngemeinschaft das Verbot des Pflegeregresses gelte, weshalb keine Schenkungszinsen gemäß § 947 ABGB für den von der Mitbeteiligten übergebenen Anteil an einem näher bezeichneten Grundstück eingefordert werden dürften.

5 Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage fehle, was unter einer "stationären Pflegeeinrichtung" im Sinn des § 330a ASVG zu verstehen sei.

6 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision.

7 Die Mitbeteiligte brachte eine Revisionsbeantwortung ein.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revisionswerberin schließt sich hinsichtlich der Zulässigkeit der Revision den Ausführungen des VwG an und führt ergänzend aus, dass es keine bundesweit einheitliche Definition des Begriffs der "stationären Pflegeeinrichtung" gebe und auch das ASVG weder im Gesetzestext noch in den Erläuterungen ausführe, welche Einrichtungen vom Begriff umfasst seien. Die Auslegung des Begriffs der "stationären Pflegeeinrichtung" sei für weite Teile der Bevölkerung von unmittelbarer rechtlicher und wirtschaftlicher Bedeutung, weil zahlreiche ältere Menschen in alternativen Wohnformen aufgenommen seien und betreut würden. Darüber hinaus lebten auch viele Menschen mit Behinderung in stationären Einrichtungen. Ohne eine klare Grenzziehung (qualifizierter Pflegebedarf - Stufe 4, Zielgruppe der älteren Menschen) würde für jede Person in einer stationären Einrichtung (zB Kolpinghäuser) das Verbot des Pflegeregresses gelten, sofern sie Bundespflegegeld der Stufe 1 bezöge. Einer weiten Auslegung des Begriffs "stationäre Pflegeeinrichtung" stünden Ziel und Zweck der betreffenden Verfassungsbestimmung entgegen.

9 Die Revision ist im Hinblick auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zulässig.

10 § 330a (Verfassungsbestimmung) des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955 in der Fassung des Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetzes (SV-ZG), BGBl. I Nr. 125/2017, lautet:

"ABSCHNITT II a

Verbot des Pflegeregresses

§ 330a. (Verfassungsbestimmung) Ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten ist unzulässig."

11 Die Erläuterungen zu dem Abänderungsantrag AA-225 XXV. GP, auf welchen die Einfügung unter anderem des § 330a ASVG zurückzuführen ist, führen zu dieser Bestimmung aus:

"Die in den landesgesetzlichen Vorschriften verankerten Regelungen, die einen Zugriff auf das Vermögen pflegebedürftiger Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen betreut werden, bzw. ihrer GeschenknehmerInnen ermöglichen, führen beim betroffenen Personenkreis oftmals zur gänzlichen Verwertung sämtlicher oft mühsam erworbener Vermögenswerte, wie etwa eines Eigenheimes oder Sparguthabens.

Dadurch kann die im Rahmen des Österreichischen Pflegevorsorgesystems intendierte Wahlmöglichkeit für die Betroffenen insofern eingeschränkt werden, als dadurch ein allfällig sachlich gebotener oder von der betroffenen Person gewünschter Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung oftmals nicht realisierbar ist.

Durch die vorgeschlagene Verfassungsbestimmung soll der Pflegeregress verboten werden."

12 § 8 Abs. 3 letzter Satz Vorarlberger Mindestsicherungsgesetz, LGBl. Nr. 64/2010 idF LGBl. Nr. 17/2018, lautet:

"§ 8

Form und Ausmaß der Mindestsicherung

...

(3) ... Bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen

untergebracht sind, ist das Vermögen überhaupt nicht zu berücksichtigen."

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 29. November 2018, Ra 2018/10/0062, bereits ausgesprochen, dass zum einen der Begriff der "stationären Pflegeeinrichtung" iSd § 330a ASVG schon nach seinem Wortlaut nicht auf Pflegeheime für betagte oder kranke Personen beschränkt ist und zum anderen von einer Aufnahme in einer solchen Einrichtung nur gesprochen werden kann, wenn die davon betroffenen Personen dort dauernd (Tag und Nacht) untergebracht sind und Pflege- und Betreuungsleistungen erhalten.

14 Der Verfassungsgerichtshof hat sich jüngst in seinem Erkenntnis vom 12. März 2019, G 276/2018, mit den Bestimmungen der §§ 330a und 707a Abs. 2 ASVG beschäftigt. Er ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das Verbot des Pflegeregresses nach § 330a ASVG unter seinen übrigen Voraussetzungen auch auf stationäre Pflegeleistungen, die Menschen mit Behinderung erbracht werden, bezieht. Weiters hat er Maßnahmen der "Hilfe zur sozialen Betreuung" im Sinn von § 10a Salzburger Behindertengesetz 1981 als vom Pflegebegriff des § 330a ASVG erfasst qualifiziert, sodass er die Rechtsgrundlage für den Kostenersatz (§ 17 Abs. 2 Salzburger Behindertengesetz) für die Unterbringung in der dort verfahrensgegenständlichen Einrichtung gemäß § 707a Abs. 2 ASVG als mit Wirkung vom 1. Jänner 2018 außer Kraft getreten beurteilte.

15 Dem lag die Unterbringung einer Person mit einer "schweren psychiatrischen Störung" in einer Betreuungseinrichtung zu Grunde, die Vollversorgung in Bezug auf Wohnen und Verpflegung gewährleistete. Tagsüber war die Einrichtung von 7 bis 19 Uhr mit Diplomkrankenpersonal, Fachsozialbetreuern und Pflegeassistenten besetzt, in der Nacht bestand ab 19 Uhr eine Rufbereitschaft, die seitens der Bewohner bei Bedarf in Anspruch genommen werden konnte. Im konkreten Fall lag der Schwerpunkt der Betreuung nicht in der Pflege, sondern im Bereich der Betreuung und der Medikation. Die untergebrachte Person bezog Pflegegeld der Stufe 2.

16 Der gegenständlich vom VwG festgestellte Sachverhalt gleicht jenem, der der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 12. März 2019 zu Grunde gelegen ist. Auch im gegenständlichen Verfahren hält sich die Bewohnerin Tag und Nacht in der Einrichtung auf, in der sie betreut und gepflegt wird. In den Nachtstunden besteht Rufbereitschaft von Pflegepersonal. Auch die Mitbeteiligte ist pflegebedürftig und bezieht Pflegegeld der Stufe 2 bzw. 3.

17 Ausgehend davon hat das VwG im gegenständlichen Fall eine Unterbringung in einer stationären Pflegeeinrichtung zu Recht angenommen, zumal - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - von einer "stationären Pflegeeinrichtung" im Sinn des § 330a ASVG auch dann ausgegangen werden kann, wenn den dort untergebrachten Personen Pflegepersonal in der Nacht lediglich über eine bestehende Rufbereitschaft zur Verfügung steht.

18 Daran vermögen auch die Revisionsausführungen, wonach dem Betriff der "stationären Pflegeeinrichtung" kein weites Begriffsverständnis zugrunde zu legen sei, sodass alternative Formen des betreuten Wohnens nicht umfasst seien, nichts zu ändern.

19 Liegt aber eine Unterbringung der Mitbeteiligten in einer stationären Pflegeeinrichtung vor, so greift das Verbot des Pflegeregresses des § 330a ASVG, der auch einen Vermögenszugriff auf die Geschenknehmer zur Abdeckung der Pflegekosten für unzulässig erklärt, sodass die Mitbeteiligte nicht dazu verpflichtet werden kann, Schenkungszinsen gemäß § 947 ABGB zu fordern.

20 Damit geht auch der Vorwurf, der Spruch des angefochtenen Erkenntnisses sei dahingehend zu konkretisieren, dass die Mitbeteiligte 100 % der gesetzlichen Zinsen gemäß § 947 ABGB aus der Schenkung vom 21. März 2013, also monatlich EUR 1.200,--, einzusetzen habe, ins Leere.

21 Die Revision war daher als unbegründet abzuweisen.

22 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am 30. April 2019

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RO2018100035.J00

Im RIS seit

26.07.2019

Zuletzt aktualisiert am

26.07.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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