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19/05 MenschenrechteNorm
AVG §37Betreff
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Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Arbeitsmarktservice St. Pölten in 3100 St. Pölten, Daniel-Gran-Straße 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. Jänner 2019, Zl. W262 2198316-1/3E, betreffend Verlust der Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: A E in G), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 7. März 2018 sprach das revisionswerbende Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) aus, dass der Mitbeteiligte den Anspruch auf Notstandshilfe für die Zeit vom 14. Februar bis 27. März 2018 gemäß § 10 iVm § 38 AlVG verloren habe. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Der Mitbeteiligte habe eine Arbeitsaufnahme als Transitarbeitskraft bei E. verweigert. 2 Der Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Er brachte vor, er habe zur "Jobbörse" nicht erscheinen können, weil er wegen starker Schmerzen im Krankenstand gewesen sei. Die Notstandshilfe sei zu Unrecht gesperrt worden. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 17. Mai 2018 wies das AMS diese Beschwerde gemäß § 14 VwGVG iVm § 56 Abs. 2 und § 58 AlVG ab. Der Mitbeteiligte sei zum Vorstellungsgespräch bei E. am 14. Februar 2018 nicht erschienen. In Anbetracht früherer ähnlich gelagerter Krankenstände bestehe der Verdacht, dass er sich habe krankschreiben lassen, damit er bei der Jobbörse nicht erscheinen müsse. Nachweise über seinen Krankenstand seien nicht vorgelegt worden. Durch sein (unentschuldigtes) Nichterscheinen beim Vorstellungsgespräch habe er den Tatbestand der Vereitelung erfüllt.
3 Der Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag.
4 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht die Beschwerdevorentscheidung vom 17. Mai 2018 ersatzlos behoben. Der Mitbeteiligte sei mit Schreiben des AMS vom 23. November 2017 für den 14. Februar 2018 zu einem Vorstellungsgespräch beim Beschäftigungsprojekt E.
(Altwarenhandel, Sanierung und Gartenpflege) eingeladen worden. Er sei zu dem Termin nicht erschienen, weil er vom
14. bis 28. Februar 2018 arbeitsunfähig gewesen sei. Dies ergebe sich aus der Arbeitsunfähigkeitsmeldung eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 15. Februar 2018. Es liege keine Vereitelung vor.
5 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung sei gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen worden, weil der Sachverhalt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Gewährung der Notstandshilfe aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde hinreichend geklärt erschienen sei. Dem Entfall der Verhandlung würden weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.
6 Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil es "an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Überprüfbarkeit einer Arbeitsunfähigkeitsmeldung in der Arbeitslosenversicherung fehlt".
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision. Der Mitbeteiligte hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Eine abstrakte Beweisregel, wie sie dem Verwaltungsgericht in seiner Begründung der Zulässigkeit der Revision vorschwebt
("Rechtsprechung ... zur Überprüfbarkeit einer
Arbeitsunfähigkeitsmeldung") würde den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung und der Unbeschränktheit der Beweismittel widersprechen. Eine Antwort des Verwaltungsgerichtshofes auf die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene Frage kommt daher nicht in Betracht.
9 Das AMS bringt indes zur Zulässigkeit der Revision vor, der Mitbeteiligte sei seit 2014 insgesamt vier Mal jeweils vor Abhaltung einer "Jobbörse" krank geworden, obwohl er sonst keine Krankenstände aufweise. Es bestehe der Verdacht, dass er unter Angabe falscher Tatsachen der Möglichkeit entgehen wolle, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Er habe im Vorlageantrag vorgebracht, dass er sich zum Zeitpunkt des Vorstellungsgespräches aufgrund starker Schmerzen im Krankenstand befunden habe. Als Beweis sei die Einvernahme des Dr. Herbert F. und der Lebensgefährtin des Mitbeteiligten, Tamara R., als Zeugen beantragt worden. Der Mitbeteiligte habe die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 VwGVG beantragt. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Es hätte durch unmittelbare Beweisaufnahme klären müssen, ob die Krankenstandsmeldung ab 14. Februar 2018 der Wahrheit entsprochen habe.
10 Die Revision ist aus den vom AMS genannten Gründen zulässig und berechtigt.
11 In Anbetracht dessen, dass der Mitbeteiligte die Vernehmung zweier Zeugen und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch das Verwaltungsgericht beantragt hat, durfte das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Verhandlung nur dann absehen, wenn die Akten hätten erkennen lassen, dass durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtsache nicht zu erwarten war, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstanden.
12 Es gibt im vorliegenden Fall, in dem "civil-rights" zu beurteilen sind und das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit des Mitbeteiligten zum Zeitpunkt des durchzuführenden Bewerbungsgespräches strittig war, keinen Hinweis darauf, dass von vornherein angenommen werden könnte, die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung werde nichts zur Klärung der Rechtsache beitragen. Es gehört gerade im Fall zu klärender bzw. widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichtes, dem auch in § 25 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Ist eine Verhandlung nach Art. 6 EMRK geboten, dann ist eine Prüfung der Relevanz des Verfahrensmangels der Unterlassung einer solchen Verhandlung nicht durchzuführen (VwGH 14.6.2017, Ra 2017/07/0009, mwN). Die Unterlassung der demnach gebotenen Verhandlung kann nicht nur von jener Partei, die den Verhandlungsantrag gestellt hat, sondern von jeder Verfahrenspartei geltend gemacht werden. Wurde nämlich bereits (hier: vom Mitbeteiligten als Beschwerdeführer) ein Verhandlungsantrag gestellt, so sind die anderen Parteien (hier: das AMS als belangte Behörde) nicht gehalten, einen eigenen Verhandlungsantrag zu stellen. Dies ergibt sich daraus, dass der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden kann (vgl. VwGH 20.11.2014, Ra 2014/07/0052). 13 Gemäß § 17 VwGVG iVm § 37 und § 39 Abs. 2 AVG wird das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vom Grundsatz der materiellen Wahrheit (Offizialprinzip, Amtswegigkeitsprinzip) beherrscht. Demnach hat das Gericht, soweit die Verwaltungsvorschriften hierüber keine Anordnungen enthalten, von Amts wegen vorzugehen, unter Beobachtung der im AVG enthaltenen Vorschriften den Gang des Ermittlungsverfahrens zu bestimmen und den für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt festzustellen (VwGH 14.11.2018, Ra 2018/08/0193). Daher kann eine (grob fehlerhafte, die Rechtssicherheit beeinträchtigende) Unterlassung gebotener bzw. beantragter Ermittlungen von jeder Partei ungeachtet dessen geltend gemacht werden, von welcher Partei verfahrensrechtliche Anträge gestellt wurden.
14 Da die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf einer Verkennung der Vorgaben des § 24 VwGVG beruhte und die beantragten Zeugenvernehmungen unterlassen worden sind, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
Wien, am 2. Mai 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RO2019080009.J00Im RIS seit
04.09.2019Zuletzt aktualisiert am
04.09.2019