TE Vwgh Erkenntnis 2019/4/25 Ra 2018/22/0251

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.04.2019
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z4
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z5
FrPolG 2005 §52 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

?

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revisionen

1.

des M S, 2. der A G, 3. der L S, 4. des R S, 5. der J S, sowie

6.

des M S, alle in G und alle vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. September 2018, Zlen. 1) W234 1310400-5/14E, 2) W234 1310399- 5/13E, 3) W234 1400635-3/12E, 4) W234 1412795-3/12E,

                 5)       W234 1434283-3/9E sowie 6) W234 2164403-1/11E, betreffend Aufenthaltstitel und Rückkehrentscheidung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien (alle sind russische Staatsangehörige und gehören der tschetschenischen Volksgruppe an, der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern der weiteren minderjährigen revisionswerbenden Parteien) stellten am 17. Februar 2017 jeweils einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). 2 Mit Bescheiden vom Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge ab. Unter einem wurde jeweils gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei, und gemäß § 55 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. September 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Parteien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die ordentliche Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt.

4 Das Verwaltungsgericht legte dem Erkenntnis folgenden Sachverhalt zugrunde: Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien seien am 20. Jänner 2007 in das Bundesgebiet eingereist. Mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom 14. Mai 2013 seien die Anträge der erst- bis fünftrevisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz in Verbindung mit einer Ausweisung als unbegründet abgewiesen worden. Neuerliche Anträge dieser fünf revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz vom 14. Oktober 2013 seien wiederum in Verbindung mit einer Ausweisung mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom 6. Dezember 2013 zurückgewiesen worden. Diese Erkenntnisse seien jeweils in Rechtskraft erwachsen. Gegen das am 9. März 2018 geborene jüngste Kind der erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien (A S) sei mit in Rechtskraft erwachsenem Bescheid des BFA vom 26. Juni 2018 (unter einem mit dem Ausspruch, dass ein Aufenthaltstitel gemäß den §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt werde) eine Rückkehrentscheidung erlassen worden.

Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien seien seit ihrer Einreise im Jänner 2007, die übrigen revisionswerbenden Parteien seit ihrer Geburt durchgehend in Österreich aufhältig. Im Herkunftsstaat hielten sich eine Reihe von Angehörigen (Eltern und Geschwister der erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien) auf, zu denen regelmäßiger Kontakt bestehe. Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien würden die deutsche Sprache gut und zudem die tschetschenische und die russische Sprache beherrschen, die übrigen revisionswerbenden Parteien würden die deutsche und die tschetschenische Sprache auf muttersprachlichem Niveau beherrschen bzw. derzeit erlernen. Die Drittrevisionswerberin könne auf schlechtem Niveau russisch sprechen.

Alle revisionswerbenden Parteien würden Leistungen aus der Grundversorgung beziehen. Der Erstrevisionswerber sei ohne Anmeldung (geringfügig) erwerbstätig und habe eine Zusage für eine Vollzeitbeschäftigung. Die Zweitrevisionswerberin habe von 2007 bis 2009 ohne Anmeldung als Reinigungskraft gearbeitet, sie habe ehrenamtlich für einen Verein übersetzt und sie habe eine Zusage für eine geringfügige Anstellung. Die dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien würden die Schule besuchen, seien in die Schulgemeinschaft intensiv integriert und erzielten sehr gute Benotungen. Die fünft- und sechstrevisionswerbenden Parteien würden den Kindergarten besuchen. Alle revisionswerbenden Parteien unterhielten intensiv und regelmäßig gepflegte freundschaftliche Beziehungen zu österreichischen Staatsbürgern und dauerhaft in Österreich aufenthaltsberechtigten Personen. Nach einer Rückkehr in den Herkunftsstaat hätten die revisionswerbenden Parteien keine finanziellen Probleme zu erwarten.

Der Erstrevisionswerber sei zwischen 2008 und 2010 dreimal wegen schwerer Körperverletzung bzw. schweren Raubes - zweimal zu einer bedingten mehrmonatigen Freiheitsstrafe und einmal zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr - sowie 2016 wegen gefährlicher Drohung zu drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ein gegen ihn erlassenes Rückkehrverbot sei mit Bescheid des BFA vom 20. Oktober 2016 aufgehoben worden. Die Zweitrevisionswerberin sei 2016 wegen falscher Beweisaussage zu einer bedingten fünfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden.

5 Zur Interessenabwägung nach § 9 Abs. 2 BFA-VG hielt das Verwaltungsgericht zunächst fest, dass die gesamte Kernfamilie im selben Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen sei, weshalb die Rückkehrentscheidungen nicht in das Familienleben eingreifen würden. Mit dem in Österreich lebenden Onkel des Erstrevisionswerbers werde kein Familienleben geführt, zumal auch kein Abhängigkeitsverhältnis vorliege.

6 Hinsichtlich des vorliegenden Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens verwies das Verwaltungsgericht zunächst auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, der zufolge bei einem mehr als zehn Jahre andauernden Inlandsaufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Es sei aber auch dann eine Gesamtabwägung unter Heranziehung aller maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer.

Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien hätten ihren Inlandsaufenthalt von elf Jahren und sieben Monaten dazu genutzt, "diverse - durchaus ausgeprägte - Integrationsfortschritte zu setzen". Diesbezüglich verwies das Verwaltungsgericht auf die guten Deutschkenntnisse, die Anstellungszusagen, die ehrenamtliche Tätigkeit der Zweitrevisionswerberin und die intensiven freundschaftlichen Beziehungen. Das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung werde aber durch die strafgerichtlichen Verurteilungen (insbesondere des Erstrevisionswerbers) verstärkt. Zudem hätten die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien ihren mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt durch zwei unbegründete Anträge auf internationalen Schutz herbeigeführt und hielten sich seit Dezember 2013 durchgehend rechtswidrig in Österreich auf. Zudem gehe der Erstrevisionswerber einer unerlaubten Erwerbstätigkeit nach und bei der Zweitrevisionswerberin sei dies in der Vergangenheit der Fall gewesen. Sie würden nach wie vor Leistungen aus der Grundversorgung beziehen, hätten bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat keine finanziellen Probleme zu erwarten und hätten sich bei der Setzung ihrer Integrationsschritte ihres unsicheren Aufenthaltes bewusst sein müssen. Insgesamt sei dem gesteigerten öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung trotz der festgestellten Integrationsleistungen ein höheres Gewicht beizumessen als den privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich.

Bei den dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien berücksichtigte das Verwaltungsgericht die intensiven freundschaftlichen Beziehungen auch zu österreichischen Staatsbürgern, den Besuch von Schule bzw. Kindergarten und die diesbezüglich erfolgte Integration, die Deutschkenntnisse sowie den Umstand, dass diese revisionswerbenden Parteien ihre gesamte Lebenszeit in Österreich verbracht hätten, was bei der zehnjährigen Drittrevisionswerberin und dem neunjährigen Viertrevisionswerber besonders schwer wiege. Anders als bei den Eltern sei bei den minderjährigen revisionswerbenden Parteien nicht von einem Bewusstsein ihres unsicheren Aufenthaltsstatus auszugehen. Allerdings gründe sich der Aufenthalt der dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien auf zwei unberechtigte Anträge auf internationalen Schutz und sei der Aufenthalt aller (seit Abschluss der Asylverfahren) rechtswidrig, auch wenn dies den minderjährigen dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien subjektiv nicht im gleichen Ausmaß wie ihren Eltern zugerechnet werden könne. Allerdings sei zu beachten, dass sich alle minderjährigen revisionswerbenden Parteien in einem anpassungsfähigen Alter befinden würden. Alle würden die tschetschenische Sprache beherrschen. Es sei davon auszugehen, dass sie von ihren Eltern mit den kulturellen Gegebenheiten ihres Heimatlandes vertraut gemacht worden seien und sie würden in ihrem Heimatland weiterhin in der Obsorge ihrer Eltern sein. Zudem bestünden noch Bindungen zum Herkunftsstaat, in dem noch zahlreiche Familienmitglieder der Eltern lebten, zu denen auch die minderjährigen revisionswerbenden Parteien laufend Kontakt hätten. Eine Anpassung an die Lebensverhältnisse in Tschetschenien würde somit leichter gelingen. Auch für die minderjährigen dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien ging das Verwaltungsgericht daher von einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung gegenüber dem persönlichen Interesse an einem Verbleib in Österreich aus. Es seien keine unzumutbaren Härten in einer Rückkehr der revisionswerbenden Parteien in ihren Herkunftsstaat zu erkennen.

7 Die Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005 sei daher nicht geboten. Die Abweisung der entsprechenden Anträge sei mit einer Rückkehrentscheidung zu verbinden. Da die minderjährigen revisionswerbenden Parteien gemeinsam mit ihren Eltern ausreisen müssten, sei ein unzulässiger Eingriff in ihr Kindeswohl nicht ersichtlich.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende

außerordentliche Revision.

9 Revisionsbeantwortung wurde keine erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10 In der Revision wird zur Zulässigkeit insbesondere vorgebracht, das Verwaltungsgericht sei bei der Interessenabwägung von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes insbesondere zu einem Überwiegen der persönlichen Interessen bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt entwickelten Grundsätzen in unvertretbarer Weise abgewichen. Das Verwaltungsgericht habe hinsichtlich der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien einen hohen Integrationsgrad anerkannt, dem aber zu Unrecht allein unter Hinweis auf das anpassungsfähige Alter keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen. Bei richtiger Würdigung wäre - jedenfalls hinsichtlich der minderjährigen revisionswerbenden Parteien - von einem Überwiegen der privaten Interessen auszugehen gewesen.

Die Revision ist zulässig und aus nachstehenden Erwägungen auch berechtigt.

11 Bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK vorliegen bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0108, Rn. 8, mwN). 12 Der Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels ausnahmsweise nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (siehe VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11, mwN). In diesem Erkenntnis (Rn. 12) hat der Verwaltungsgerichtshof zudem auf verschiedene Umstände verwiesen, die als integrationsbegründende Aspekte anerkannt worden sind. 13 Bei einer Rückkehrentscheidung, von der Kinder bzw. Minderjährige betroffen sind, sind nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Rahmen der Abwägung gemäß § 9 BFA-VG "die besten Interessen und das Wohlergehen dieser Kinder", insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen sie im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und in welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigen Alter befinden (vgl. VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0205, Rn. 18, mwN).

14 Um von einem - für die Abwägungsentscheidung relevanten - Grad an Integration (§ 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG) ausgehen zu können, müssen sich die betroffenen Minderjährigen während ihrer Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet bereits soweit integriert haben, dass aus dem Blickwinkel des Kindeswohles mehr für den Verbleib im Bundesgebiet als für die Rückkehr in den Herkunftsstaat spricht, und dieses private Interesse mit dem öffentlichen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und damit des Zusammenhalts der Gesellschaft in Österreich korreliert. Aus der Sicht der Minderjährigen bedeutet dies vor allem, dass sie sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, ihre Aus- und/oder Weiterbildung entsprechend dem vorhandenen Bildungsangebot wahrnehmen und sich mit dem sozialen und kulturellen Leben in Österreich vertraut machen, um - je nach Alter fortschreitend - am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich teilnehmen zu können (vgl. zu allem VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0070, Rn. 32).

15 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht hinsichtlich der seit mehr als zehn Jahren in Österreich aufhältigen Drittrevisionswerberin eine Reihe derartiger integrationsbegründender Aspekte anerkannt (die intensiv und regelmäßig gepflegten freundschaftlichen Beziehungen zu österreichischen Staatsbürgern und dauerhaft in Österreich aufenthaltsberechtigten Personen, den Schulbesuch samt intensiver Integration und sehr guten Benotungen, die Beherrschung der deutschen Sprache auf muttersprachlichem Niveau sowie den Umstand, dass die Drittrevisionswerberin ihr gesamtes Leben in Österreich zugebracht habe; vgl. zur Maßgeblichkeit dieser Aspekte auch VwGH 4.8.2016, Ra 2015/21/0249, Rn. 14; 26.1.2017, Ra 2016/21/0305, Rn. 18; sowie VfGH 22.9.2014, U 2082/2013). Die Drittrevisionswerberin hat die im Bundesgebiet verbrachte Zeit somit jedenfalls genützt, um sich sozial zu integrieren. Gemessen an diesen Umständen in Verbindung mit der langen Aufenthaltsdauer wäre somit von einem Überwiegen ihrer persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen.

16 Dass das Verwaltungsgericht dem Umstand des Entstehens des schützenswerten Privatlebens während unsicheren Aufenthaltes hinsichtlich der minderjährigen Drittrevisionswerberin nicht den gleichen Stellenwert beigemessen hat wie bei den Eltern, ist nicht zu beanstanden (vgl. zur fehlenden Vorwerfbarkeit und zum geringeren Gewicht dieses Umstandes bei Kindern wiederum VwGH Ra 2017/18/0070, Rn. 33; Ra 2018/21/0205, Rn. 16; jeweils mwN).

17 Der Verwaltungsgerichtshof hat aber ebenfalls zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können (siehe die beispielhafte Aufzählung wiederum in VwGH Ro 2016/22/0005, Rn. 13).

18 Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht berücksichtigt, dass sich der Inlandsaufenthalt (auch) der Drittrevisionswerberin auf zwei unberechtigte Asylanträge stütze und seit Abschluss des zweiten Asylverfahrens unrechtmäßig sei. Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar eine zweifache Asylantragstellung als Umstand anerkannt, der auf Seiten des öffentlichen Interesses in Anschlag gebracht werden kann (vgl. VwGH 26.3.2015, Ra 2014/22/0078). Fallbezogen wäre aber zu berücksichtigen gewesen, dass das zweite Asylverfahren (nach einer Dauer des ersten Verfahrens hinsichtlich der Drittrevisionswerberin von mehr als fünf Jahren) lediglich zwei Monate gedauert hat, somit keine wesentliche Verlängerung der Aufenthaltsdauer bewirkt hat und für die lange Aufenthaltsdauer nicht kausal war. Der Umstand der zweimaligen Asylantragstellung für sich allein könnte daher vorliegend am Überwiegen der persönlichen Interessen der Drittrevisionswerberin an einem Verbleib in Österreich nichts ändern (vgl. zu einem Überwiegen im Einzelfall trotz zweier Asylanträge auch VwGH 14.4.2016, Ra 2016/21/0029). Hinweise auf Umstände, die einer zwangsweisen Durchsetzung des Ausreisebefehls betreffend die Drittrevisionswerberin während des rechtswidrigen Aufenthaltes bzw. nach Ablauf des infolge der Schwangerschaft der Zweitrevisionswerberin gewährten Durchführungsaufschubes bis 7. Mai 2014 entgegengestanden wären, enthält das angefochtene Erkenntnis nicht.

19 Der Verwaltungsgerichtshof hat dem Umstand, ob sich Kinder in einem anpassungsfähigen Alter befinden, Relevanz für die Interessenabwägung bzw. das dabei zu berücksichtigende Kindeswohl zuerkannt (vgl. den Nachweis in Rn. 13). Dies führt aber nicht dazu, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt und einem Vorliegen maßgeblicher integrationsbegründender Umstände die noch gegebene Anpassungsfähigkeit (hier der Drittrevisionswerberin) die Aufenthaltsdauer entscheidungserheblich relativieren bzw. das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verstärken würde.

20 Der Umstand der Anpassungsfähigkeit spielt allerdings auch bei der Beurteilung eine Rolle, ob Minderjährige einen Eingriff in ihr Privatleben durch eine gemeinsame Ausreise mit dem Obsorgeberechtigten hinzunehmen haben, weil dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Obsorgeberechtigten eine überragende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Zusammenhang VwGH 7.3.2019, Ra 2019/21/0044, Rn. 18). Fallbezogen ist aber jedenfalls hinsichtlich der zweitrevisionswerbenden Mutter der Drittrevisionswerberin eine derartige überragende Bedeutung nicht zu ersehen. Angesichts des elfeinhalbjährigen Aufenthaltes der Zweitrevisionswerberin in Österreich sowie der zahlreichen auch vom Verwaltungsgericht anerkannten integrationsbegründenden Umstände führt die vorliegende strafgerichtliche Verurteilung der Zweitrevisionswerberin (wobei im angefochtenen Erkenntnis die zugrunde liegende Straftat nicht dargestellt wurde) - auch unter Berücksichtigung der zweimaligen Asylantragstellung (siehe dazu allerdings wiederum die Ausführungen in Rn. 18) sowie des unsicheren Aufenthaltes - nicht dazu, dass dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung der Zweitrevisionswerberin ein derart großes Gewicht beizumessen wäre, dass die zehneinhalbjährige, seit ihrer Geburt durchgehend in Österreich aufhältige und gut integrierte Drittrevisionswerberin fallbezogen den durch eine gemeinsame Ausreise mit ihrer Mutter bewirkten erheblichen Eingriff in ihr Privatleben in Kauf nehmen müsste. 21 Ausgehend davon vermag der Verwaltungsgerichtshof das Ergebnis der Interessenabwägung des Verwaltungsgerichtes jedenfalls hinsichtlich der Drittrevisionswerberin nicht zu teilen. Die dargestellten Erwägungen lassen sich auf die im Wesentlichen vergleichbare Situation des Viertrevisionswerbers übertragen.

22 Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, dass gegenständlich kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens erfolge, weil hinsichtlich aller Mitglieder der Kernfamilie (der erst- bis sechstrevisionswerbenden Parteien sowie des A S) eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen worden sei. Daraus ergibt sich, dass die Rechtswidrigkeit der Entscheidung hinsichtlich der Drittrevisionswerberin und des Viertrevisionswerbers auf alle anderen revisionswerbenden Parteien durschlägt, weil die zugrunde gelegte Prämisse, gegenüber allen Familienmitgliedern sei eine Rückkehrentscheidung erlassen worden, nicht mehr zutrifft und hinsichtlich der weiteren revisionswerbenden Parteien die Zulässigkeit eines Eingriffs in das Familienleben geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH Ra 2016/21/0305, Rn. 22, mwN). Dies trifft auch auf den erstrevisionswerbenden Vater zu, wobei diesbezüglich hinsichtlich der Zulässigkeit eines Eingriffs in das Familienleben allenfalls zu prüfen wäre, ob eine Trennung im Hinblick auf das (durch dessen Strafbarkeit gesteigerte) öffentliche Interesse hinzunehmen wäre. 23 Angesichts der dargelegten Ausführungen ist das angefochtene Erkenntnis bezüglich der Abweisung der Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005 sowie der Erlassung von Rückkehrentscheidungen mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher - samt den auf die Rückkehrentscheidung aufbauenden Absprüchen nach § 52 Abs. 9 und § 55 FPG - zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. 24 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. April 2019

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018220251.L00

Im RIS seit

25.07.2019

Zuletzt aktualisiert am

25.07.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten