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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2018/19/0325Ra 2018/19/0326Betreff
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Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens, die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler, sowie die Hofrätin Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision der 1. N A, 2. H G, 3. S G, alle in Wien, alle vertreten durch MMag. Dr. Robert Winkler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Neutorgasse 12, gegen die Erkenntnisse vom 8. Mai 2018,
1)
Zl. L519 2141765-1/36E, 2) Zl. L519 2141766-1/31E und
3)
Zl. L519 2141767-1/31E, des Bundesverwaltungsgerichts, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweit- und Drittrevisionswerber. Die revisionswerbenden Parteien sind armenische Staatsangehörige und stellten am 11. Jänner 2016 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.
Die Erstrevisionswerberin brachte im Wesentlichen vor, von ihrem Exmann regelmäßig misshandelt und bedroht worden zu sein. Sie habe sowohl schriftlich Anzeige erstattet als auch telefonisch Kontakt zur Polizei aufgenommen. Die Behörde habe jedoch nichts unternommen, weil ihr Exmann einflussreiche Kontakte in Armenien habe. Der Onkel ihres Exmannes sei Abgeordneter in der Herkunftsregion der revisionswerbenden Parteien und schütze und unterstütze diesen. Der Exmann der Erstrevisionswerberin habe auch den Zweit- und Drittrevisionswerber misshandelt und habe diese der Erstrevisionswerberin wegnehmen wollen. Aus diesem Grund seien die revisionswerbenden Parteien geflüchtet. Der Zweit- und Drittrevisionswerber hätten keine eigenen Fluchtgründe. 2 Mit Bescheiden vom 24. November 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte fest, dass die Abschiebungen nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig seien. 3 Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 27. Februar 2017 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. In seiner Begründung hielt das Bundesverwaltungsgericht zunächst fest, dass den revisionswerbenden Parteien in ihrem Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung drohe. Es beurteilte weder die Übergriffe durch den Exmann noch die Behauptung, dieser werde von seinem Onkel unterstützt und geschützt, beziehungsweise sei dieser Verwandte ein Abgeordneter in der Herkunftsprovinz der revisionswerbenden Parteien, als glaubwürdig. Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, dass die revisionswerbenden Parteien Armenien aus wirtschaftlichen beziehungsweise privaten Gründen verlassen hätten. Selbst im Fall einer hypothetischen Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens liege kein asylrechtlich relevanter Sachverhalt vor, da die revisionswerbenden Parteien nur eine Verfolgung durch nichtstaatliche Organe vorgebracht hätten und eine solche nur im Fall fehlender staatlicher Schutzfähigkeit oder Schutzwilligkeit asylrelevant wäre. Den Länderberichten seien jedoch keine konkreten Hinweise zu entnehmen, dass in Armenien keine ausreichenden Schutzmechanismen bestünden.
4 Der Verwaltungsgerichtshof behob diese Entscheidung infolge einer außerordentlichen Parteirevision mit Erkenntnis vom 29. November 2017, Ra 2017/18/0157 bis 0159, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Zum Verfahrensgang wird auf dieses Erkenntnis verwiesen. Hervorzuheben ist, dass der Verwaltungsgerichtshof zum Ergebnis gelangte, dass die Beweiswürdigung nicht als schlüssig im Sinne der höchstgerichtlichen Judikatur anzusehen sei. Auch die in der Eventualbegründung vorgenommene hypothetische Wahrunterstellung sei nicht tragfähig, weil das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht von einer Wahrunterstellung des gesamten Vorbringens der revisionswerbenden Parteien ausgegangen sei.
5 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde im fortgesetzten Verfahren (soweit aus dem vorliegenden Verwaltungsakt ersichtlich ohne weitere Ermittlungen anzustellen bzw. eine weitere Verhandlung durchzuführen) erneut als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gem. Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 In seiner Begründung hielt es zunächst fest, dass die Erstrevisionswerberin in Armenien von ihrem Exmann vor und nach ihrer Scheidung mehrfach misshandelt und vergewaltigt worden sei. Auch der Zweit- und Drittrevisionswerber seien misshandelt worden. Aus diesem Grund habe sich die Erstrevisionswerberin einmal an die Polizei gewandt und ansonsten keine Anzeigen erstattet. Den revisionswerbenden Parteien sei es zumutbar, sich an die Behörden ihres Herkunftsstaates zu wenden, zumal Armenien ein sicherer Herkunftsstaat im Sinne der Herkunftsstaaten-Verordnung sei und die dortigen Behörden grundsätzlich schutzfähig und schutzwillig seien.
7 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass das Vorbringen der Erstrevisionswerberin zwar Indizien dafür aufweise, dass es sich zu großen Teilen um ein konstruiertes Fluchtvorbringen handle, nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes das Grundvorbringen betreffend die Probleme mit dem Exmann jedoch als glaubwürdig beurteilt werde. Es sei jedoch nicht glaubwürdig, dass die revisionswerbenden Parteien von der Polizei keine Hilfe erhalten hätten, weil der Exmann der Erstrevisionswerberin einen Verwandten mit guten Beziehungen zur Polizei habe. Zur Begründung dieser Annahme berief sich das BVwG im Wesentlichen auf dieselben Argumente, wie in dem vom VwGH aufgehobenen Vorerkenntnis. Zudem sei es ihr nicht gelungen, ein tatsächliches Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Abgeordneten und ihrem Exmann, etwa durch Vorlage von Beweismitteln wie gemeinsamer Fotos, nachzuweisen. Auch das Vorbringen zur Einflussnahme des Abgeordneten auf die Polizei sei vage geblieben. Selbst bei Wahrunterstellung des gesamten Vorbringens der revisionswerbenden Parteien liege keine Anknüpfung an einen Konventionsgrund und somit keine asylrelevante Verfolgung vor. Die von der Erstrevisionswerberin geschilderten Übergriffe würden amtswegig zu verfolgende strafbare Handlungen darstellen. Aus den Länderberichten ergebe sich, dass von einer grundsätzlich ausreichenden Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des armenischen Staates ausgegangen werden könne, wenngleich gewisse Defizite zuzugestehen seien.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:
9 In der Revision wird zu ihrer Zulässigkeit sowohl eine Verletzung der Ermittlungspflichten als auch eine unvertretbare Beweiswürdigung vorgebracht. Das Bundesverwaltungsgericht sei in diesem Zusammenhang von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
10 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig; zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht - wie dies hier aus den im Folgenden dargestellten Gründen der Fall ist - die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Hingegen ist der zur Rechtskontrolle berufene Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen; das heißt sie mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. zu alldem VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0236; 23.2.2016, Ra 2015/20/0161; 29.11.2017, Ra 2017/18/0157, je mwN).
11 Der Verwaltungsgerichtshof hat die Beweiswürdigung hinsichtlich der vermeintlichen Widersprüche in den Angaben der Erstrevisionswerberin zum eigentlichen Verfolger schon im Vorerkenntnis Ra 2017/18/0157 als unschlüssig beurteilt. 12 Die Revision verweist zutreffend darauf, dass auch die neu ins Treffen geführte Begründung, die revisionswerbenden Parteien hätten das Verwandtschaftsverhältnis des Exmannes zu dem genannten Abgeordneten nicht "mit Beweismitteln wie etwa Fotos" belegen können, nicht tragfähig ist. Die Erstrevisionswerberin ist nach den Feststellungen seit dem Jahr 2005 von ihrem Mann geschieden und lebte seit diesem Zeitpunkt nicht mehr im gemeinsamen Haushalt mit ihm. Wie die revisionswerbenden Parteien vor diesem Hintergrund auf Fotos oder Dokumente des Exmannes zurückgreifen sollten, legt das Bundesverwaltungsgericht nicht dar. 13 Ähnlich verhält es sich mit dem Argument des Bundesverwaltungsgerichts, die Erstrevisionswerberin habe keine genauen Angaben über die angebliche Einflussnahme des Abgeordneten bei der Polizei tätigen können. Es wäre lebensfremd anzunehmen, dass das Opfer einer derartigen Intervention über die genaue Vorgehensweise der Handelnden informiert wird.
14 Die Frage, ob die generelle Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der armenischen Behörden in Fällen häuslicher Gewalt (insbesondere vor dem Hintergrund der Einordnung Armeniens als "sicherer Herkunftsstaat") trotz der teils bedenklichen einschlägigen Länderberichte ohne weiteres zu bejahen ist, kann fallbezogen dahingestellt bleiben (vgl. zur Frage der staatlichen Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit armenischer Behörden in Fällen häuslicher Gewalt ausführlich VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0119, mwN). Die revisionswerbenden Parteien machten nämlich keine generelle Schutzunfähigkeit oder Schutzunwilligkeit der armenischen Behörden geltend, sondern brachten eine Schutzunwilligkeit der zuständigen Behörden aufgrund der Intervention eines Abgeordneten in ihrem konkreten Fall vor. Die Beweiswürdigung, wonach diese Intervention mangels Detailangaben nicht glaubwürdig sei, erweist sich, wie oben bereits dargelegt, als nicht tragfähig.
15 Das Bundesverwaltungsgericht zog zudem eine "hypothetische Wahrunterstellung" als Alternativbegründung heran. Dieser legte es den gesamten Sachverhalt, also "Der Onkel G des Ex-Ehegatten der BF 1 ist Abgeordneter in Armenien und hat den Ex-Ehegatten unterstützt und unter anderem auch Polizisten beeinflusst, die Anzeigen der BF 1 nicht entgegenzunehmen" zugrunde. Rechtlich führte das Bundesverwaltungsgericht dazu aus, dass dieses Vorbringen keine Asylrelevanz habe, da es sich dabei um eine rein kriminelle Verfolgung durch eine Privatperson ohne Anknüpfung an einen Konventionsgrund handle.
16 Dem ist Folgendes zu entgegnen: Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. erneut VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0119).
17 Dazu ist festzuhalten, dass die Annahme des BVwG, wonach das Vorbringen der Revisionswerber grundsätzlich keine Relevanz für die Gewährung von internationalen Schutz entfalten könne, nicht zutreffend ist (vgl. schon das Vorerkenntnis des VwGH 29.11.2017, Ra 2017/18/0157 sowie 30.8.2017, Ra 2017/18/0119).
18 Somit erweist sich auch die herangezogene Alternativbegründung nicht als tragfähig, da die hypothetischen Feststellungen die daraus abgeleitete rechtliche Beurteilung nicht zu tragen vermögen.
19 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 25. April 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018190324.L00Im RIS seit
26.08.2019Zuletzt aktualisiert am
26.08.2019