TE Vwgh Erkenntnis 2019/4/29 Ra 2018/20/0462

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Veröffentlicht am 29.04.2019
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Index

E1P
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §19 Abs1
BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des A M G in W, vertreten durch Dr. Wolfgang Emberger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Plankengasse 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. August 2018, Zl. L504 2199634-1/5E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 23. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Zu seinen Fluchtgründen gab er zusammengefasst an, er habe sich im Jahr 2013 freiwillig für den Wehrdienst bei den Peschmerga gemeldet. Als die Kämpfe mit dem IS im Jahr 2014 begonnen hätten, habe er das Militär nicht mehr verlassen können. Er sei desertiert, wobei er ein von ihm gelenktes Militärfahrzeug zurückgelassen habe. Im Falle einer Rückkehr würden ihm als Deserteur Konsequenzen drohen.

2        Mit Bescheid vom 29. Mai 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in den Irak, Autonome Kurdenzone des Nordirak, zulässig sei. Die Frist für seine freiwillige Ausreise legte es mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3        Begründend legte das BFA seiner Entscheidung zugrunde, dass der Revisionswerber zwar seine Tätigkeit als Soldat bei den Peschmerga glaubhaft habe machen können, nicht jedoch die von ihm behauptete Desertion. Der Revisionswerber habe sein Fluchtvorbringen zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA angepasst, indem er zunächst angegeben habe, aus Angst vor den IS-Terroristen und wegen der unsicheren Lage im Irak geflüchtet zu sein. Erst im Zuge der Einvernahme vor dem BFA habe der Revisionswerber eine Desertion angesprochen.

4        Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Der Beweiswürdigung des BFA hielt er entgegen, die Erstbefragung sei nur sehr kurz gewesen und ihm sei keine Gelegenheit gegeben worden, seinen Fluchtgrund detailliert zu schildern. Er sei darauf verwiesen worden, dass er in der Einvernahme ausreichend Zeit bekommen werde, seinen Fluchtgrund konkret anzugeben. Weiters wendete er sich substantiiert gegen die vom BFA aufgezeigte angebliche Anpassung seines Vorbringens und versuchte diese aufzuklären. Der Revisionswerber fürchte sowohl die Verfolgung durch die Peschmerga aufgrund seiner Desertion als auch die Rache des IS, weil er an Kriegshandlungen gegen diesen teilgenommen habe, weltweit Fotos und Videos veröffentlicht worden seien und er auch aufgenommen worden sei. Im Übrigen rügte die Beschwerde das Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den vom BFA herangezogenen Länderberichten und dem ins Treffen geführten Buch als unzureichend.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig. In der Begründung der Entscheidung schloss es sich den beweiswürdigenden Ausführungen des BFA an und legte seiner rechtlichen Beurteilung in Bezug auf das Begehren auf Asyl allein die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens zu den Fluchtgründen zugrunde.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache unter anderem geltend gemacht wird, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe, obwohl das verwaltungsbehördliche Ermittlungsverfahren nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprochen habe und die Beweiswürdigung des BFA in der Beschwerde substantiiert bestritten worden sei. Der Sachverhalt könne daher nicht als geklärt erachtet werden.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision und der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und berechtigt.

9        Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung „geklärt erscheint“, folgende Kriterien beachtlich:

10       Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 5.12.2018, Ra 2018/20/0433, mwN).

11       Die Voraussetzungen für den Entfall einer mündlichen Verhandlung lagen im gegenständlichen Revisionsfall nicht vor:

12       Das BVwG hat die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung unterlassen, obwohl der Revisionswerber die Beweiswürdigung des BFA, die sich darin erschöpft, abzustellen, dass der Revisionswerber sein Vorbringen zur Verfolgung durch die Peschmerga wegen Desertion in der Erstbefragung nicht erwähnt hatte, in seiner Beschwerde hinreichend substantiiert bekämpft hatte. Aufgrund dessen lagen die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFAV-G nicht vor.

13       Es ist nämlich nicht zu erkennen, dass die in der aktuellen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts bereits aufgezeigten Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung, die sich nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, in die Erwägungen des BFA eingeflossen sind. Auf dem Boden des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 ist es zwar weder der Behörde noch dem Bundesverwaltungsgericht verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zu späteren Angaben einzubeziehen, es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 14.6.2017, Ra 2017/18/0001, mwN). Dem Vorbringen des Revisionswerbers in der Beschwerde, dass die Erstbefragung nur sehr kurz gewesen und er auf eine spätere Einvernahme verwiesen worden sei, bei der er „ausreichend Zeit bekommen wird, um seinen Fluchtgrund konkret anzugeben“, hat das BVwG keine Beachtung geschenkt. Da - was die Beschwerde auch aufgezeigt hat - die Begründung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung somit nicht mängelfrei erfolgte, durfte das BVwG nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass es von der Durchführung einer Verhandlung hätte absehen dürfen.

14       Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 20.9.2018, Ra 2018/20/0149).

15       Schon aus diesem Grund war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG - zur Gänze, weil die rechtlich vom hier in Rede stehenden Ausspruch abhängenden Spruchpunkte ihre Grundlage - verlieren.

16       Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. April 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018200462.L00

Im RIS seit

21.08.2020

Zuletzt aktualisiert am

25.08.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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