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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §11Betreff
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Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Jänner 2019, W193 2162851-1/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: M N, vertreten durch Mag. Robert Bitsche in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stammt aus der Provinz Nangarhar. Er stellte am 4. August 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Begründend brachte er vor, er befürchte Verfolgung durch den IS.
2 Mit Bescheid vom 8. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Es erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 9 BFA-Verfahrensgesetz eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
3 Gegen diesen Bescheid erhob die mitbeteiligte Partei Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG dieser Beschwerde statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
5 Das BVwG ging - zusammengefasst - davon aus, die mitbeteiligte Partei sei Rekrutierungsversuchen durch den IS ausgesetzt gewesen. Bei Rückkehr drohe ihr Gefahr, aufgrund ihrer (unterstellten) politischen Gesinnung verfolgt zu werden. Diese Bedrohung beziehe sich auf das gesamte Staatsgebiet, eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung.
6 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhob gegen dieses Erkenntnis Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Einleitung des Vorverfahrens in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dargestellten Anforderungen an die Begründung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sowie von der Rechtsprechung zu der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen.
8 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragt wird.
9 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Danach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheids geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0433).
11 Das BVwG stellte fest, dass der Mitbeteiligte vom IS bedroht werde und sich diese Bedrohung auf das gesamte Staatsgebiet Afghanistans beziehe. Die Revision zeigt zu Recht auf, dass insbesondere spezifische Feststellungen zur Vernetzung des IS in Afghanistan fehlen. Aus den im Erkenntnis getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan ergibt sich, dass der IS fähig ist, öffentlichkeitswirksame Angriffe auf "highprofile"-Ziele in städtischen Zentren zu verüben. Feststellungen dahingehend, ob es sich beim Mitbeteiligten um eine "high-profile"- Person handle, fehlen jedoch. Mit der bereits im Bescheid des Bundesamts getroffenen Annahme, es handle sich beim Mitbeteiligten (lediglich) um eine "low-profile"-Person, welche nicht im gesamten Staatsgebiet gesucht und gefunden werden könne, setzte sich das BVwG nicht auseinander.
12 Weiters verkennt das BVwG die bisherige Rechtsprechung zur Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative, wonach allein die Tatsache, dass der Mitbeteiligte in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere (vgl. grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001).
13 Im Zusammenhang mit der Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative bedarf es einer Auseinandersetzung mit den allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und den persönlichen Umständen des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 5.4.2018, Ra 2018/19/0154, mwN). Dahingehende Feststellungen lassen sich dem Erkenntnis nicht entnehmen.
14 Weiters fehlen für die Beurteilung der Richtigkeit der Annahme des BVwG, es bestünde keine innerstaatliche Fluchtalternative, Feststellungen dazu, ob und wie der IS in den von ihm nicht kontrollierten Gebieten - beispielsweise in den größeren Städten Afghanistans -, von ihm verfolgte Personen ausforschen bzw. finden kann.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.
Wien, am 21. Mai 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190069.L00Im RIS seit
22.07.2019Zuletzt aktualisiert am
22.07.2019