TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/2 W261 2170125-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.04.2019
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Entscheidungsdatum

02.04.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W261 2170125-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.08.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der nunmehrige Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 02.07.2015 in die Republik Österreich ein und stellte am 03.07.2015 Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung am 03.07.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi an, dass er Hazara und schiitischer Moslem sei. Er stamme aus Kabul und habe dort 12 Jahre lang die Schule besucht. Er habe Afghanistan verlassen, weil dort Bürgerkrieg herrsche. Die Taliban, aber vor allem der IS würden willkürlich Menschen töten, vor allem Schiiten, wie den BF und seine Familie. Die Situation werde immer schlimmer, einige seiner Bekannten seien bereits umgebracht worden. Deshalb habe er fliehen müssen, um nicht selbst Opfer zu werden. Er habe keinerlei Zukunftsperspektive in Afghanistan gehabt.

Am 06.04.2017 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien (in der Folge belangte Behörde) im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari. Der BF gab an, er sei in Kabul geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise mit seiner Familie gelebt. Er habe nicht gearbeitet, er habe nur gelernt. Bis zum natürlichen Tod seines Vaters im Jahr 2014 habe dieser für die Familie gesorgt, nach dessen Tod habe dies sein Bruder übernommen. Er hätte insgesamt vier Brüder gehabt, die allesamt bei Bombenanschlägen ums Leben gekommen seien. Drei davon seien im Jahr 2011 getötet worden, und ein Bruder sei im Jahr 2016 einem Attentat auf eine schiitische Moschee zum Opfer gefallen. Seine Mutter lebe im Iran. Er habe noch einen Onkel väterlicherseits in Afghanistan, mit welchem er jedoch keinen guten Kontakt habe. Er habe noch Cousins und Cousinen, zu denen er jedoch keinen Kontakt habe. Er sei lediglich wegen der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan, und weil seine Brüder Anschlägen zum Opfer gefallen seien, geflohen. Er würde gerne in Sicherheit leben, lernen, arbeiten und wie andere Menschen leben. Er könne sich nicht vorstellen, wieder nach Afghanistan zurückzukehren. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Mit Eingabe ohne Datum, eingelangt am 09.05.2017, gab Herr Rechtsanwalt Mag. Robert Bitsche das Vollmachtsverhältnis bekannt.

Mit Schreiben vom 11.07.2017 übermittelte die belangte Behörde dem BF die aktuellen Länderinformationen und räumte ihm die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Der BF gab keine Stellungnahme ab.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt III.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass der BF keinerlei Schwierigkeiten mit Behörden gehabt habe. Er sei keiner individuellen Bedrohung ausgesetzt gewesen. Er habe Afghanistan aus dem Grund verlassen, um persönlich eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation zu erreichen. Auch die allgemeine Sicherheitslage habe ihn veranlasst, sein Heimatland zu verlassen. Ihm drohe auf Grund der Volksgruppenzugehörigkeit als Hazara in Afghanistan keine konkret gegen ihn gerichtete psychische oder physische Gewalt. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt gewesen sei, bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Eine Rückkehr nach Kabul sei für den BF möglich und zumutbar. Der BF sei volljährig, gesund und arbeitsfähig und könne seinen Lebensunterhalt in Kabul bestreiten. Er liefe nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können und in eine aussichtlose Lage zu geraten.

Der BF erhob mit Eingabe vom 07.09.2017, bevollmächtigt vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass er als Hazara seinen Herkunftsstaat aus begründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe. Er habe Kabul aus begründeter Furcht um sein Leben verlassen. Seine Brüder seien bei Bombenanschlägen ums Leben gekommen. Sein Vater sei verstorben und seine Mutter lebe im Iran. Der BF habe keine Verwandten mehr in Afghanistan, wäre im Falle einer Rückkehr auf sich alleine gestellt und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine ausweglose Situation geraten. Der BF habe in Österreich Deutschkurse besucht und strebe den Hauptschulabschluss an. Die Situation in Afghanistan, insbesondere in der Stadt Kabul, sei in jeder Hinsicht prekär. Die belangte Behörde hätte dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gehabt, jedenfalls jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten. Gleichzeitig mit seiner Beschwerde legte der BF weitere Integrationsunterlagen vor.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 08.09.2017 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Der BF gab am 07.02.2017 eine umfangreiche Stellungnahme ab. Die Lage der Hazara habe sich insbesondere in Kabul in letzter Zeit verschlechtert, wie dies die in der Stellungnahme zitierten Länderinformationen bestätigen würden. Auch die Sicherheitslage in Kabul sei prekär. Die Verfolgung der Hazara, wie es der BF ist, sei asylrelevant, jedenfalls wäre dem BF subsidiärer Schutz zu gewähren. Der BF habe keine Berufserfahrung. Der Tod seiner Brüder stelle für den BF eine psychische Belastung dar. Er verfüge über kein familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan. Als junger Mann im wehrfähigen Alter laufe er Gefahr zwangsrekrutiert zu werden. Es werde beantragt, ein psychologisches Gutachten zur Frage einzuholen, inwieweit die Tatsache, dass alle vier Brüder des BF bei Bombenanschlägen ums Leben gekommen seien, im Falle seiner erzwungenen Rückkehr psychische Störungen oder Krankheiten auslösen könnte, die in der Folge seine Arbeits- und Überlebensfähigkeit beeinträchtigen könnten.

Der Verein Menschenrechte Österreich gab bekannt, dass dieser am 04.02.2017 die Vollmacht niedergelegt habe.

Das BVwG führte am 20.02.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seiner Vertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Der BF legte eine Reihe von Fotos, Integrationsunterlagen, Zeitungsartikeln und Länderinformationen vor.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 30.01.2018 und den EASO Bericht zu Afghanischen Netzwerken vom Jänner 2018, vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Der BF führte in seiner Stellungnahme vom 01.03.2018 im Wesentlichen aus, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan kontinuierlich verschlechtere. In dem in der Verhandlung ausgehändigten Länderinformationsblatt seien viele Angaben, insbesondere zur Sicherheitslage überholt, vor allem sei die Herkunftsregion des BF, Kabul, wo in der letzten Zeit zahlreiche Anschläge stattgefunden hätten, alles andere als sicher. Weiters seien die Städte Herat und Mazar-e Sharif mangels ausreichender Sicherheit keine innerstaatliche Fluchtalternative. Der BF habe 12 Jahre die Schule besucht, verfüge aber über keine Berufsausbildung oder -erfahrung und müsste im Falle einer Rückkehr zunächst eine Arbeit als Hilfsarbeiter suchen. Dabei könnte er nicht auf das Netzwerk der Hazara oder Schiiten zurückgreifen, da er bei Bombenanschlägen auf schiitische Moscheen bereits vier Brüder verloren habe und aufgrund dieser traumatischen Verluste keine Mosche betreten und keine gemeinsamen religiösen oder kulturellen Veranstaltungen besuchen könne. Damit würde ihm ein ganz wesentliches Element fehlen, das für die Unterstützung im Falle einer Rückkehr wichtig sei. Gleichzeitig würde er aber aufgrund seiner äußeren Erscheinung als Hazara in vielen Lebensbereichen diskriminiert und benachteiligt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in Afghanistan würde der BF im Fall einer Rückführung in eine sehr ernste bis aussichtslose Lage geraten, was eine Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK bedeuten würde. Die familiären Traumata durch die Verluste seiner Brüder würde sich mit großer Wahrscheinlichkeit noch zusätzlich negativ auf die Möglichkeit auswirken, sich wieder ein Leben in Afghanistan aufzubauen. Seine Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Religion und Nationalität im Sinne von ethnischer Zugehörigkeit sei wohlbegründet, habe er doch immerhin bereits vier Brüder bei zwei Anschlägen auf schiitische Moscheen verloren. In den UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016 würden sowohl Schiiten als auch Hazara unter den Risikoprofilen genannt. Der Stellungnahme wurde eine ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan: "Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konfliktes zwischen Kuchis und Hazara" vom 02.09.2016, eine Stellungnahme von Amnesty International vom 05.02.2018 an das VG Wiesbaden und ein Online Artikel des Spiegel vom 24.02.2018 angeschlossen.

Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

Das BVwG übermittelte den Parteien des Verfahrens mit Schreiben vom 26.02.2019 die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt in der aktualisierten Fassung mit Stand 08.01.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018 und Auszüge aus den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018.

Das BVwG führte am 27.02.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach der BF seit 04.07.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.

Aus dem vom BVwG am 27.02.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass für den BF im Strafregister der Republik Österreich keine Verurteilungen aufscheinen.

Der BF führte in seiner Stellungnahme vom 18.03.2019 im Wesentlichen aus, dass er nach den traumatischen Erlebnissen, bei welchen seine Brüder getötet worden sei, keine Moschee mehr besuchen könne, wie er dies auch bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung ausgesagt habe. Er möchte auch nicht, dass ihm die Religion aufgezwungen werde. Der BF entspreche mehreren Risikoprofilen der aktuellen UNHCR Richtlinie. Er sei schiitischer Hazara, und also solcher gefährdet, Opfer von Diskriminierungen und Anschlägen zu werden. Auch im Gutachten von Fredericke Stahlmann von März 2018 werde auf die Gefahr der Verfolgung der Hazara, welche nicht regional begrenzt sei, hingewiesen. Die Taliban würden aktuell versuchen, Distrikte zu erobern, die mehrheitlich von Hazara besiedelt würden. Auch habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan insgesamt verschlechtert, wie dies sowohl die Länderinformationen als auch die aktuellen UNHCR Richtlinien belegen würden. Das Recht auf Religionsfreiheit würde zunehmend ins Visier regierungsfeindlicher Kräfte geraten. Der BF würde auch dem Risikoprofil Verwestlichung und Gefahr von Zwangsrekrutierung entsprechen. Er lebe seit ca. vier Jahren in Österreich und habe sich einen westlichen Lebensstil angewöhnt und lehne jegliche öffentliche Religionsausübung ab. Der BF falle auch unter das Risikoprofil von Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen und Personen die angeblich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte verstoßen würden. Da der BF in Afghanistan über kein soziales Netzwerk verfüge, würden sich diese mindestens fünf Risikoprofile noch verstärken. Er sei ein Hazara, werde als Schiit wahrgenommen, sei im wehrfähigen Alter und würde nach vier Jahren aus Europa zurückkehren, werde aufgrund seiner Weigerung der öffentlichen Religionsausübung in Afghanistan nunmehr nicht nur als verwestlicht wahrgenommen, sondern auch als vom Islam abgewandt, dies umso mehr, als Hazara ohnehin als dem Westen nahestehende eingestuft werden und von den regierungsfeindlichen Kräften als "Ungläubige" angesehen werden würden. Hinzu komme die extrem schlechte Sicherheits-, Menschenrechts- und Wirtschaftslage, und damit der akuten Gefahr, ohne familiäres und soziales Netz in eine existenzbedrohende Lage zu geraten, und in dieser den angeführten Gefährdungen wesentlich mehr und schutzloser ausgeliefert zu sein. Die Faktoren in ihrer Gesamtheit würden den BF einer enormen Gefahr unmenschlicher bis lebensbedrohlicher Lage zu geraten aussetzen, die einer Verfolgung gleichzusetzen sei und daher asylrelevant sei. Ein innerstaatliche Fluchtalternative würde dem BF nicht zur Verfügung stehen.

Sollte dem BF kein internationaler Schutz gewährt werden, so sei ihm jedenfalls subsidiärer Schutz einzuräumen. In seiner Herkunftsprovinz Kabul sei die Sicherheitslage aufgrund der vielen Anschläge für Zivilisten sehr schlecht. Er werde auch in den Hazara Vierteln in Kabul keine Unterstützung erhalten, da er auf kein familiäres Netzwerk zurückgreifen könne und sich auch nicht an der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung beteiligen werde. Er sei daher als Einzelner ganz besonders exponiert und bedroht. Auch die Städte Mazar- e Sharif und Herat würden als innerstaatliche Flucht und Schutzalternative nicht zur Verfügung stehen. Die Sicherheitslage habe sich in beiden Provinzen nach den zitierten Länderinformationen verschärft, in Herat sei auch die Ernährungssicherheit nicht gewährleistet. Auch in Mazar-e Sharif sei weder ausreichend Nahrung, noch Wohnraum, noch Zugang zu Trinkwasser gegeben, auch die Abwasserentsorgung sei unzureichend, ebenso wie die Gesundheitsversorgung. Die Arbeitslosenrate sei hoch, der Zugang zum Arbeitsmarkt sei ohne soziales Netzwerk äußerst schwierig. Es liege eine hohe Kriminalität vor, und es gäbe keine nennenswerte Polizeipräsenz. Für den BF würde dies bedeuten, dass es ihm aufgrund seiner individuellen Lage nicht zumutbar sei, sich in Mazar-e Sharif oder Herat neu anzusiedeln. Der BF legte ein ÖSD Zertifikat B1 vom 23.05.2018 vor.

Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , in der Stadt Kabul, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Moslem, gesund und ledig. Die Muttersprache des BF ist Dari. Der BF ist Zivilist.

Der BF wuchs in der Stadt Kabul bei seiner Familie auf. Der BF besuchte 12 Jahre lang die Schule.

Der Vater des BF hieß XXXX , er war Bauarbeiter und verstarb im Jahr 2014 eines natürlichen Todes. Seine Mutter heißt XXXX . Sie lebt aktuell in XXXX , Iran, bei ihrem Bruder.

Der BF hatte insgesamt vier Brüder. Drei dieser Brüder kamen bei einem Anschlag auf eine Moschee in Kabul im Dezember 2011 ums Leben. Im Jahr 2016 wurde der vierte Bruder durch einen Anschlag zu "Ashura" in einer Moschee namens XXXX getötet.

Die Familie des BF ist Eigentümerin eines Hauses und von Grundstücken in der der Provinz Maidan Wardak.

Der BF hat einen Onkel väterlicherseits, der in Kabul lebt und Landwirt ist, und einen Onkel mütterlicherseits, der im Iran lebt und in einer Fliesenfabrik tätig ist. Der Onkel väterlicherseits verwaltet das familieneigene Grundstück. Das Verhältnis zwischen seinem Onkel väterlicherseits und dem BF ist angespannt.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF reiste im Jahr 2015 aus Afghanistan aus und gelangte über den Iran, die Türkei über Griechenland und weitere Staaten nach Österreich, wo er am 02.07.2015 illegal einreiste und am 03.07.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2 Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der BF hat aufgrund der zahlreichen Anschläge auf Schiiten in der Stadt Kabul, bei welchen auch drei seiner Brüder als Besucher einer schiitischen Moschee getötet wurden, Afghanistan verlassen. Er wollte nicht selbst auch Opfer eines derartigen Anschlages werden und sah keine Zukunftsperspektive für sich in Afghanistan.

Der BF war in seinem Heimatland Afghanistan keiner individuellen psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr zu befürchten.

Der BF wurde in Afghanistan nie persönlich bedroht oder angegriffen, es droht ihm auch künftig keine psychische und/oder physische Gewalt von staatlicher Seite, und/oder von Aufständischen, und/oder von sonstigen privaten Verfolgern, wie beispielsweise seinem Onkle väterlicherseits, in seinem Herkunftsstaat.

Dem BF droht wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religion konkret und individuell keine physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Nicht jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion ist in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Es ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich seit etwas weniger als vier Jahren in Europa aufhält bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre. Ebenso wenig kann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner "westlichen Wertehaltung" psychische und/oder physische Gewalt drohen würde.

Es ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der BF aufgrund des Umstandes, dass er öffentliche Religionsausübung ablehnt, physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt sein wird.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem BF in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im Juli 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Der BF besuchte Deutschkurse, zuletzt auf Niveau B1, und verfügt über gute Kenntnisse der deutschen Sprache.

Er hat in Österreich ein Jugendcollege besucht und plant in Österreich die Schule zu besuchen. In seiner Freizeit geht der BF ins Fitness-Center, spielt Fußball, geht schwimmen und spazieren. Er hilft ehrenamtlich bei der täglichen Reinigung seiner Unterkunft und begleitet Asylwerber bei ihren Terminen, um für sie zu übersetzen. Der BF hat in Österreich keine Familienangehörigen. Neben Freundschaften konnten keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens des BF in Österreich festgestellt werden.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Heimatstaat droht diesen kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 der Konvention.

Dem BF eine Rückkehr und (Wieder-)Ansiedlung in der Stadt Kabul möglich.

Dem BF steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative auch eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm auch möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF droht bei seiner Rückkehr nach Kabul oder nach Mazar-e Sharif mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der BF ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Kabul oder in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat eine 12 Schulausbildung und ist arbeitsfähig.

Der BF ist gesund. Der BF läuft im Falle der Rückkehr in eine nach Kabul oder Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 08.01.2019, in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

1.5.1.1 Die Provinz Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt, die Herkunftsprovinz der BF. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa. im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten: Bagrami. Chaharasyab/Char Asiab. Dehsabz/Deh sabz. Estalef/Istalif. Farza. Guldara. Kabul Stadt. Kalakan. Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar. Mirbachakot/Mir Bacha Kot. Musayi/Mussahi. Paghman. Qarabagh. Shakardara. Surobi/Sorubi. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt.

In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt.

Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. In den letzten Jahren kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte.

Im Zeitraum 01.01.2017- 30.04.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte).

Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen.

Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich. Für den Zeitraum 01.01.2017 - 31.01.2018 wurden in der Provinz Kabul vom IS verursachte Vorfälle registriert (Gewalt gegenüber Zivilist/innen und Gefechte).

UNHCR stellt fest, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt. Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden. Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungsinstitutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind. Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt. Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen. Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt. Insgesamt beinhaltet dieser neue Sicherheitsplan 52 Maßnahmen, von denen die meisten nicht veröffentlicht werden. Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden.

Die Provinz Kabul zählt laut EASO zu jenen Provinzen Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist.

1.5.1.2 Provinz Balkh

Hingegen handelt es sich bei der Provinz Balkh, mit deren Hauptstadt Mazar-eSharif, laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein.

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Im gesamten Jahr 2017 wurden 129 zivile Opfer (52 getötete Zivilisten und 77 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet einen Rückgang von 68% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt. Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben.

1.5.2 Sichere Einreise

Sowohl die Satdt Kabul als auch die Stadt Mazar-e Sharif sind jeweils über deren internationalen Flughafen sicher erreichbar.

Der internationale Flughafen Kabul ist Teil des Stadtgebietes von Kabul City.

Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher.

1.5.3 Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant.

1.5.3.1 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Kabul

In die Stadt Kabul, der Herkunftsstadt der BF, ziehen zahlreiche Menschen aus unsicheren Provinzen auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen. In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen.

In Kabul besteht keine Lebensmittelknappheit. Sichere Unterkunftsmöglichkeiten sind in Kabul vorhanden, wobei diese Stadthäuser überwiegend als "Elendsviertel" bezeichnet werden. In Kabul gibt es ein Überangebot an hochwertigen Unterkünften, welche jedoch für die Mehrheit der Stadtbewohner von Kabul nicht leistbar sind. Der Zugang zu Trinkwasser stellt insbesondere in den Elendsvierteln von Kabul eine große Herausforderung dar. Was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft, sind die Arbeitslosenzahlen auch in Kabul aufgrund der momentanen Wirtschaft-s und Sicherheitslage durchaus hoch. Der zunehmende Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt resultiert aus der wachsenden Zahl arbeitssuchender Vertriebener. Angesichts der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist eine Abhängigkeit von vernetzten Beziehungen heute größer als je zuvor.

1.5.3.2 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region.

In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Als Alternative dazu stehen ferner günstige Unterkünfte in "Teehäusern" zur Verfügung. Generell besteht in Mazar-e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keinerlei Lebensmittelknappheit. In Mazar-e Sharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu besseren Sanitäreinrichtungen. Schulische Einrichtungen sind in Mazar-e Sharif vorhanden.

1.5.4 Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung ist in Afghanistan insbesondere in größeren Städten wie etwa auch in Kabul und Mazar-e Sharif sowohl in staatlichen als auch privaten Krankenhäusern verfügbar. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar.

1.5.5 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Die schiitische Minderheit der Hazara, zu welchen der BF zählt, macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können.

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert.

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt. Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke.

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.

1.5.6 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 10-15 % Schiiten, wie es auch der BF ist.

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS.

1.5.7 Rückkehrer

In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.

Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

1.5.8 Terroristische und aufständische Gruppierungen

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte grundsätzlich vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus. Die Taliban haben hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet. Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans. Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung des BF beruhen auf dessen plausiblen, im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im Laufe des Asylverfahrens. Die Angaben dienen zur Identifizierung im Asylverfahren.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Bereits die belangte Behörde wertete das Vorbringen des BF betreffend eine asylrelevante Verfolgungsgefahr als nicht relevant.

Der BF schilderte glaubhaft, dass zunächst im Jahr 2011 drei seiner Brüder bei einem Anschlag in einer schiitischen Moschee ums Leben kamen und im Jahr 2016 auch sein vierter Bruder bei einer religiösen Veranstaltung getötet wurde. Der tragische Tod seiner Brüder ist zwar aus nachvollziehbaren Gründen traumatisch für den BF, es lässt sich daraus jedoch keine individuelle, asylrelevante Verfolgung des BF ableiten. Der BF konnte nicht glaubhaft darlegen, inwiefern der Tod seiner Brüder bei Terroranschlägen eine konkrete individuelle Verfolgung seiner Person zur Folge hätte. Er ist zwar Schiit und Hazara und als solcher mit großer Wahrscheinlichkeit, wie sich aus den Länderberichten ergibt, Diskriminierungen durch die Mehrheitsbevölkerung und durch die Aufständischen ausgesetzt, dies hat jedoch nichts mit seiner Tätigkeit oder mit seiner individuellen Persönlichkeit zu tun, sondern gründete sich ausschließlich aufgrund seine Volksgruppenzugehörigkeit. Hinweise dafür, dass alleine dieser Umstand zu einer asylrelevanten Verfolgung des BF führt, sind den Länderberichten zu Afghanistan nicht zu entnehmen. Hinsichtlich der behaupteten Gruppenverfolgung der Hazara wird auf die Ausführungen in der rechtlichen Beurteilung verwiesen.

Die Frage in der mündlichen Beschwerdeverhandlung, ob er persönliche Feinde in Afghanistan habe, verneinte der BF und gab an, nur ernsthafte Probleme mit seinem Onkel väterlicherseits zu haben, davor würde er sich fürchten (vgl. S 18 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung am 20.02.2018). Der Onkel verwalte Grundstücke, auf die er keinen rechtlichen Anspruch habe, da der Großvater diese eigentlich an den Vater des BF vererbt habe. Würde der Onkel von der Rückkehr des BF erfahren, würde er den BF vermutlich töten, weil er glaube, dass der BF zurückgekehrt sei, um ihm die Grundstücke wegzunehmen (vgl. S 12 bzw. S 18 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung am 20.02.2018). Dieses Vorbringen des BF widerspricht seinen eigenen Angaben vor der belangten Behörde: "Ich hatte zwar ein Problem mit meinem Onkel väterlicherseits wegen dem Grundstück in Behsoud, war aber zu keinem Zeitpunkt deswegen verfolgt oder mein Leben in Gefahr. Es waren lediglich familiäre Unstimmigkeiten wegen des Besitzes. Ich bin lediglich wegen der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan und weil auch meine Brüder bereits Opfer von Anschlägen wurden, aus Afghanistan ausgereist." (vgl. S 7 der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 06.04.2017). Auf Befragen in der mündlichen Verhandlung blieb der BF betreffend die Grundstücksstreitigkeit vage und gab an, sein Onkel habe noch nie Kontakt mit ihm aufgenommen.

Im Gesamtzusammenhang betrachtet ist daher nicht davon auszugehen, dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan speziell gegen seine Person gerichtete Übergriffe drohen.

Der BF bringt in seiner Stellungnahme vom 18.03.2019 unter anderem vor, dass er zu den Personen zähle, die vermeintlich Werte oder ein Erscheinungsbild angenommen hätten, die mit westlichen Ländern in Verbindung gebracht werden würden, welche nach den UNHCR-Richtlinien als "verwestlicht wahrgenommene" Personen ein sogenanntes potentielles Risikoprofil haben würden, und er deshalb von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen werden würde. Dazu ist festzuhalten, dass sich der BF erst seit Juli 2015 in Österreich aufhält und aufgrund der Kürze dieses Aufenthalts in Zusammenhang mit dem von ihm in der Beschwerdeverhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck nicht davon ausgegangen wird, dass der BF eine "westliche Lebenseinstellung" in einer solchen Weise übernommen hätte, dass er alleine deshalb bei einer Rückkehr einer Verfolgungsgefährdung ausgesetzt wäre. Aus den Länderberichten zu Afghanistan lässt sich nicht entnehmen, dass per se jeder Rückkehrer aus Europa, aus diesem Grund einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Der BF selbst brachte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG auch nichts diesbezüglich Konkretes vor, und ist es ihm auch nicht gelungen, eine derartige Verfolgung im Einzelfall glaubhaft zu machen, weswegen die entsprechende Feststellung zu treffen war.

Daran vermag auch der Hinweis auf das Gutachten Stahlmann und die anderen zitierten Länderinformationen etwas zu ändern. Auch die zitierte UNHCR Richtlinie verweist bei den einzelnen Risikoprofilen stets darauf, dass jeweils eine individuelle Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, wie dies im gegenständlichen Beschwerdeverfahren auch erfolgt.

Dies gilt auch für die Feststellung, wonach nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der BF aufgrund des Umstandes, dass er öffentliche Religionsausübung ablehnt, in Afghanistan bedroht werden. In diesem Punkt ist dem BF vorzuhalten, dass er den Umstand, dass er eine öffentliche Religionsausübung ablehne, erstmals in seinem Schriftsatz am 01.03.2018 und verstärkt in seinem Schriftsatz vom 18.03.2019 vorbrachte. Bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 20.02.2018 führte er zum Thema Religion im Wesentlichen aus, dass er schiitischer Moslem ist (vgl. S 6 der NS der Beschwerdeverhandlung). Er spricht auch davon, dass er entfernt von religiösen, ethnischen und sprachlichen Vorurteilen leben möchte (vgl. S 19 der NS der Beschwerdeverhandlung), und dass es ihm nicht wichtig ist, seine Religion wieder öffentlich auszuleben (vgl. S 20 der NS der Beschwerdeverhandlung) und dass er nicht möchte, dass ihm jemand seine Religion aufzwingt (vgl. S 20 der NS der Beschwerdeverhandlung). Von einer dezidierten Ablehnung der öffentlichen Religionsausübung, wie der BF dies in seinen Stellungnahmen vom 01.03.2018 und vom 18.03.2019 ausführlich darlegt, ging er offensichtlich bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung noch nicht aus. So groß aufgrund des tragischen Todes seiner Brüder das Verständnis dafür ist, dass der BF zwar seine Religion im Herzen haben und als Mensch nicht auf seine Religion reduziert, bedroht und selbst potentielles Opfer eines Selbstmordanschlages werden möchte, so macht es dennoch einen Unterschied, ob eine öffentliche Religionsausübung strikt abgelehnt wird, oder ob sie einem - im Lichte des Todes der Brüder - bloß nicht wichtig ist.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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