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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §54Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 19. Dezember 2018 mündlich verkündete und am 23. Jänner 2019 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zl. W233 2178291-28E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: A A), zu Recht erkannt:
Spruch
Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A) II. betreffend die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die Erteilung eines Aufenthaltstitels, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, gelangte am 21. Juli 2015 nach Österreich und stellte am gleichen Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 24. Oktober 2017 wurde der Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
3 Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 17. April 2018 wurde die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. des Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) als unbegründet abgewiesen. Dem Mitbeteiligten wurde jedoch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
4 Gegen die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die erteilte Aufenthaltsberechtigung erhob das BFA eine außerordentliche Revision. Mit hg. Erkenntnis vom 10. September 2018, Ra 2018/19/0312, wurde das Erkenntnis des BVwG in diesen Spruchpunkten wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
5 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis des BVwG wurde die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen den Spruchpunkt II. des Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten) als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt A) I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes III. des Bescheides wurde der Beschwerde stattgegeben. Gleichzeitig wurde gemäß § 9 BFA-VG festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 54 Abs. 1 Z 1, § 58 Abs. 1 Z 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten erteilt (Spruchpunkt A) II.). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
6 Begründend führte das BVwG zur Person des Mitbeteiligten (unter anderem) aus, er sei ein Staatsangehöriger Afghanistans und stamme aus der Provinz Herat. Seine Mutter und seine Geschwister würden im Iran leben. Der Mitbeteiligte verfüge in Afghanistan über keine Familienangehörigen oder Bekannte, mit denen er in Kontakt stehe. Er sei im Jahr 2015 nach Österreich gekommen, wobei inzwischen eine "ausgeprägte und verfestigte entscheidungserhebliche Integration" vorliege. Er absolviere im dritten Lehrjahr eine Lehre als Koch, wofür eine Beschäftigungsbewilligung bestehe. Der Mitbeteiligte besuche die Berufsschule und sei in allen Pflichtgegenständen positiv beurteilt worden. Er verfüge über ein ÖSD-Zertifikat über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1. Er lebe in einer Personalunterkunft des Lehrbetriebes; er sei in der Lage, sich selbst zu erhalten, und beziehe keine Leistungen aus der Grundversorgung. Der Mitbeteiligte sei in seiner Aufenthaltsgemeinde sozial integriert. Er sei dort Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und verfüge in Österreich über freundschaftliche Kontakte. Er sei strafgerichtlich unbescholten.
7 In rechtlicher Hinsicht erwog das BVwG, aus § 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 2 Integrationsgesetz (IntG) ergebe sich in Zusammenschau mit den im IntG vorgesehenen Maßnahmen unter Berücksichtigung der Erläuterungen, dass Sprachkenntnisse, wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit sowie die Anerkennung und Einhaltung der österreichischen und europäischen Rechts- und Werteordnung die drei Grundpfeiler der Integration darstellen würden (Verweis auf ErläutRV 1586 BlgNR 25. GP 1).
8 Der Mitbeteiligte weise gute Deutschkenntnisse auf, sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt selbsterhaltungsfähig, und es sei auch davon auszugehen, dass er nach dem Lehrabschluss in der Lage sein werde, sich selbst zu erhalten. Er halte die österreichische Rechtsordnung ein und erkenne diese an. Er habe sich in einer gemeinnützigen Organisation freiwillig engagiert. Seine Bindungen zum Herkunftsstaat seien nur mehr schwach ausgeprägt, weil er seit dem Jahr 2010 nicht mehr dort gelebt habe und dort über keine Familie, Freunde oder Bekannte verfüge.
9 Zwar habe dem Mitbeteiligten grundsätzlich bewusst sein müssen, dass ihm kein sicherer Aufenthaltsstatus zukomme, es könne ihm andererseits aber nicht unterstellt werden, dass ihm der negative Ausgang seines Verfahrens habe bewusst sein müssen. Im vorliegenden Fall sei die Behörde zwei Jahre untätig geblieben. Dem Mitbeteiligten könne die Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten nicht vorgeworfen werden. Er habe seine Zeit in Österreich intensiv genützt, um sich beruflich und sozial zu integrieren. Er beziehe seit Beginn des Lehrverhältnisses keine Leistungen aus der Grundversorgung und sei in der Lage, sich durch eigene berufliche Tätigkeit selbst zu erhalten. Im Hinblick auf die überdurchschnittliche soziale Integration, insbesondere sein Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr sowie seine Einbindung im Lehrbetrieb, sei von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten an einem Aufenthalt im Bundesgebiet auszugehen.
10 Es werde nicht verkannt, dass dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, insbesondere der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften im Rahmen einer Güterabwägung grundsätzlich ein hoher Stellenwert zukomme.
11 Im vorliegenden Fall sei jedoch in einer Gesamtschau festzustellen, dass der Mitbeteiligte die in Österreich verbrachte Zeit genutzt habe, sich sozial, sprachlich und beruflich zu integrieren. Das BVwG komme daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung im konkreten Einzelfall zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei.
12 Sodann führte das BVwG mit näherer Begründung aus, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen gewesen sei.
13 Gegen den Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
14 Zur Zulässigkeit führt die Revision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aus, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die nach der hg. Rechtsprechung zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Dieses werde nur in Ausnahmefällen vom Interesse des Fremden an seinem Privatleben in Österreich überwogen. Eine derart außergewöhnliche Konstellation liege hier nicht vor, dass trotz des erst ca. dreijährigen Aufenthalts das öffentliche Interesse überwogen werde. Alle vom BVwG herangezogenen Aspekte seien dadurch gemindert, dass sie während eines unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden seien. Dass die Bindungen zum Herkunftsstaat nur mehr schwach ausgeprägt seien, könne angesichts dessen, dass der Mitbeteiligte die ersten vierzehn Lebensjahre dort verbracht habe, auch nicht ausschlaggebend sein.
15 Der Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.
16 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
17 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet. 18 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs
ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. für viele VwGH 4.3.2019, Ra 2018/14/0055; 28.2.2019, Ra 2019/18/0063; 29.5.2018, Ra 2018/20/0224, jeweils mwN).
19 Die in der vorliegenden Rechtssache durch das BVwG in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).
20 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:
21 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 5.12.2018, Ra 2018/20/0371; 8.11.2018, Ra 2016/22/0120, jeweils mwN).
22 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 25.4.2018, Ra 2018/18/0187; 6.9.2017, Ra 2017/20/0209; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072; 20.6.2017, Ra 2017/22/0037, jeweils mwN).
23 Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. etwa VwGH 28.1.2016, Ra 2015/21/0191, mwN).
24 Die vorliegende Amtsrevision zeigt jedoch zutreffend auf, dass im gegenständlichen Fall eine derart "außergewöhnliche Konstellation" - entgegen der Ansicht des BVwG - nicht vorliegt. Der Mitbeteiligte hält sich seit rund dreieinhalb Jahren im Bundesgebiet auf. Es wird zwar nicht verkannt, dass der unbescholtene Mitbeteiligte - wie das BVwG ins Treffen führte - besondere Bemühungen bei der Erlangung von Deutschkenntnissen und eines Lehrverhältnisses als Koch gezeigt hat, er keine Leistungen aus der Grundversorgung bezieht und auch Anstrengungen zur sozialen Integration in seiner Heimatgemeinde unternommen hat. Allerdings besteht allein dadurch noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste.
25 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).
26 Sofern das BVwG schließlich ausführt, dass die Bindungen des Mitbeteiligten zum Herkunftsstaat nur mehr schwach ausgeprägt seien, übersieht es - wie die Revision zutreffend darlegt -, dass der Mitbeteiligte die ersten vierzehn Jahre seines Lebens, und damit sehr prägende Jahre, in Afghanistan verbracht hat.
27 Den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten steht aber das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Dieses öffentliche Interesse wurde vom BVwG vor dem Hintergrund der geschilderten Leitlinien der Rechtsprechung fallbezogen letztlich nicht ausreichend gewichtet (vgl. auch VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, wonach eine Lehre in einem Mangelberuf nicht bereits ihrerseits als besonderes öffentliches Interesse zu berücksichtigen ist).
28 Insgesamt bewegte sich das BVwG daher bei seiner Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK nicht innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Grundsätze.
29 Das angefochtene Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 10. April 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180058.L00Im RIS seit
25.07.2019Zuletzt aktualisiert am
25.07.2019