TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/16 W241 2217270-1

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Veröffentlicht am 16.04.2019
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Entscheidungsdatum

16.04.2019

Norm

AsylG 2005 §5
BFA-VG §21 Abs3 Satz2
B-VG Art.133 Abs4
FPG §61

Spruch

W2412217270-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hafner über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.03.2019, Zahl 445470807/190074485, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 2. Satz BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (in der Folge BF) brachte nach am 11.12.2018 erfolgter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 22.01.2019 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) einen Antrag gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 (in der Folge AsylG), ein.

2. Eine VIS-Abfrage ergab, dass die BF über ein durch die estnische Vertretungsbehörde in Moskau ausgestelltes, von 10.12.2018 bis 25.12.2018 gültiges Visum verfügt.

3. Im Zuge der Erstbefragung am 22.01.2019, durchgeführt auf Deutsch, gab die BF an, im siebten Monat schwanger zu sein, der Vater des Kindes wäre ein österreichischer Staatsbürger.

Am 10.12.2018 hätte sie ihren Wohnort in Russland verlassen und wäre über Estland nach Österreich gereist. Grund dafür wäre gewesen, dass sie bereits zuvor seit 2008 in Österreich gelebt hätte und der Vater ihres Kindes hier aufhältig sei. Bei der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung wäre festgestellt worden, dass sie an einer Zervixinsuffizienz leide und ein erhöhtes Risiko einer Frühgeburt bestehe.

4. Am 28.01.2019 wurde eine Anfrage gemäß Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), an Estland gestellt.

Mit Schreiben vom 06.02.2019 stimmte die estnische Dublinbehörde der Aufnahme der BF gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO ausdrücklich zu.

5. Im Rahmen der auf Deutsch durchgeführten Einvernahme am 19.02.2019 gab die BF im Wesentlichen an, dass es ihr nicht gut gehe und ein hohes Risiko einer Frühgeburt bestehe. Mit dem Lebensgefährten, dem Vater des Kindes, bestehe keine Beziehung mehr und es gäbe auch keinen Kontakt. Auf Vorhalt, dass ihr dieser in mehreren ans BFA übermittelten Mails böswillige Absichten unterstelle, gab die BF an, dass dies nicht stimme, es sei jedoch selbstverständlich, dass er für sein Kind sorgen müsse. Sie sei völlig vom ehemaligen Lebensgefährten abhängig, bekomme aktuell aber kein Geld mehr von ihm. Nach Estland könne sie nicht, da ja der Vater des Kindes in Österreich lebe.

6. Die BF legte folgende Unterlagen vor:

* Boarding Pass Tallinn-Wien

* Russischer Reisepass

* Mutter-Kind-Pass, errechneter Geburtstermin 01.04.2019

* Haftungserklärung, Wohnrechtsvereinbarung und Kopie des Reisepasses des ehemaligen Lebensgefährten der BF

* Ärztlicher Befundbericht vom 25.01.2019

* Wohnbestätigung des Frauenhauses Wien

Ferner sind im Akt mehrere vom ehemaligen Lebensgefährten der BF verfasste E-Mails sowie eine Niederschrift im Verfahren vor dem BFA vom 22.01.2019 enthalten.

7. Mit beschwerdegegenständlichem Bescheid vom 22.03.2019 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und sprach aus, dass Estland für die Prüfung des Antrags gemäß Art. 12 Abs. 4 der Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Die Außerlandesbringung der BF wurde gemäß § 61 Abs. 1 Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), angeordnet und festgestellt, dass demzufolge die Abschiebung der BF nach Estland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Der Antrag auf internationalen Schutz sei zurückzuweisen, weil gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO Estland für die Prüfung des Antrages zuständig sei.

Beweiswürdigend wurde unter Anderem zum Privat- und Familienleben der BF Folgendes ausgeführt (Schreibfehler nicht korrigiert):

"Dass offensichtlich keine besondere Integrationsverfestigung Ihrer Person in Österreich besteht, ergibt sich einerseits aus der Kürze Ihres bisherigen Aufenthalts in Österreich, in Verbindung mit dem Umstand, dass Sie seit Ihrer illegalen Einreise nach Österreich - unter objektiven Gesichtspunkten betrachtet - realistischerweise zu keinem Zeitpunkt Ihres Aufenthalts in Österreich davon ausgehen konnten, dass Ihnen ein nicht auf das Asylgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht in Österreich zukommen würde. Auch haben Sie im Verfahren nicht dargelegt, dass in Ihrem Fall besonders gewichtige Interessen an einem Verbleib in Österreich vorliegen. Unter diesen Gesichtspunkten ist praktisch auszuschließen, dass bislang eine Integrationsverfestigung Ihrer Person in Österreich erfolgen konnte."

Der rechtlichen Beurteilung ist weiters zu entnehmen:

"Insbesondere vermag die Dauer Ihres Aufenthalts im Bundesgebiet kein im Sinne des Art. 8 EMRK relevantes Recht auf Achtung des Privatlebens zu begründen.

Im Zusammenhang mit einer Ausweisungsentscheidung und im Hinblick auf die Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer wird zudem auf das Erkenntnis des VfGH vom 06.03.2008, B 2400/07-9, verwiesen:

"Zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides hielt sich der Beschwerdeführer also rund vier Monate in Österreich auf. Der Behörde kann nicht entgegengetreten werden, wenn sie davon ausgeht, dass die Ausweisung schon wegen der kurzen Aufenthaltsdauer auch Art 8 EMRK nicht verletzt."

Auch in Ihrem Fall geht die Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet nicht über die vorstehend angeführte Vergleichsentscheidung des VfGH hinaus. Abgesehen von der kurzen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet haben sich im Verfahren auch keine Hinweise auf vorliegende und besonders gewichtige private Interessen an einem Verbleib in Österreich ergeben, insbesondere erfolgte Ihre Einreise nach Österreich illegal, während Ihres gesamten Aufenthalts in Österreich musste Ihnen - unter objektiven Gesichtspunkten betrachtet - Ihr unsicherer Aufenthaltsstatus in Österreich bewusst sein und es sind im vorliegenden Fall auch keine Anhaltspunkte für eine Integrationsverfestigung in Österreich ersichtlich.

Die Außerlandesbringung stellt daher keinen Eingriff in das in Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens dar.

[...]

In Ihrem Fall liegen insbesondere auch keine konkreten Hinweise vor, dass Sie aufgrund Ihrer persönlichen Situation in die hiesigen Verhältnisse hineingewachsen sind, unter gleichzeitiger Entfremdung von Ihrem Heimatland. Insbesondere sprechen Sie nach wie vor die in Ihrem Heimatland gesprochenen Sprachen besser als Deutsch, was sich schon allein daraus ergibt, dass die Einvernahmen bzw. Befragungen im gegenständlichen Asylverfahren nur unter Beiziehung von geeigneten Dolmetschern möglich war.

[...]

Zu Ihren Verhältnissen zum angeblichen Kindesvater in Österreich ist im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Privatlebens weiters folgendes anzumerken:

Allfällige sich aus Ihrem Aufenthalt in Österreich ergebende und direkte Beziehungen zu Verwandten entstanden in der Zeit, als Ihnen Ihr unsicherer Aufenthaltsstatus in Österreich bewusst gewesen sein musste....

[...]

Die gegenständliche Zurückweisungsentscheidung ist gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG mit einer Anordnung zur Außerlandesbringung zu verbinden.

So die Durchführung der Anordnung zur Außerlandesbringung aus in der Person des Asylwerbers gelegenen Gründen eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist gemäß § 61 Abs. 3 FPG die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.

In Ihrem Fall sind keine solchen Gründe hervorgekommen.

Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat gem. § 61 Abs. 2 FPG zur Folge, dass die Abschiebung in den Zielstaat zulässig ist."

8. Am 24.03.2019 übermittelte die BF dem BFA ärztliche Unterlagen betreffend die am XXXX per Notkaiserschnitt zur Welt gebrachte Tochter sowie deren Geburtsurkunde und einen Meldezettel.

Am 03.04.2019 langte beim BFA ein Schreiben der MA 11 der Stadt Wien ein, demzufolge die BF am XXXX eine Tochter geboren hat und wolle, dass ihr ehemaliger Lebensgefährte die Vaterschaft anerkenne und Unterhalt zahle. Ein Antrag auf Feststellung der Vaterschaft und ein Unterhaltsantrag seien eingebracht worden, auf eine Entscheidung des Gerichts werde gewartet.

9. Gegen den angeführten Bescheid richtet sich die mit 05.04.2019 fristgerecht eingebrachte Beschwerde der BF an das Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG).

10. Die Beschwerdevorlage an die zuständige Gerichtsabteilung des BVwG iSd § 16 Abs. 4 BFA-VG erfolgte am 10.04.2019.

11. Am 12.04.2019 wurde eine Ladung eines Bezirksgerichtes betreffend eine Verhandlung in der Familienrechtssache der Tochter der BF am 08.08.2019 übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das BVwG durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt. In Asylverfahren tritt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an die Stelle des Bundesasylamtes (vgl § 75 Abs 18 AsylG 2005 idF BGBGl I 2013/144).

§ 16 Abs. 6 und § 18 Abs. 7 BFA-VG bestimmen für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, dass §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden sind.

Zu A) Aufhebung des angefochtenen Bescheids:

Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) lauten:

"§ 5 (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuwiesen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzuhalten, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.

...

(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet."

Die maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-Verordnung) lauten:

Art. 3 Abs. 1:

"(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaats-angehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird."

Art. 7 Abs. 1:

"(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung."

Art. 12:

"(1) Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

(2) Besitzt der Antragsteller ein gültiges Visum, so ist der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, es sei denn, dass das Visum im Auftrag eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen einer Vertretungsvereinbarung gemäß Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft ( 1 ) erteilt wurde. In diesem Fall ist der vertretene Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.

(3) Besitzt der Antragsteller mehrere gültige Aufenthaltstitel oder Visa verschiedener Mitgliedstaaten, so sind die Mitgliedstaaten für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz in folgender Reihenfolge zuständig:

a) der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der den zuletzt ablaufenden Aufenthaltstitel erteilt hat;

b) der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat, wenn es sich um gleichartige Visa handelt;

c) bei nicht gleichartigen Visa der Mitgliedstaat, der das Visum mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat.

(4) Besitzt der Antragsteller nur einen oder mehrere Aufenthaltstitel, die weniger als zwei Jahre zuvor abgelaufen sind, oder ein oder mehrere Visa, die seit weniger als sechs Monaten abgelaufen sind, aufgrund deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, so sind die Absätze 1, 2 und 3 anwendbar, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat.

Besitzt der Antragsteller einen oder mehrere Aufenthaltstitel, die mehr als zwei Jahre zuvor abgelaufen sind, oder ein oder mehrere Visa, die seit mehr als sechs Monaten abgelaufen sind, aufgrund deren er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, und hat er die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten nicht verlassen, so ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.

(5) Der Umstand, dass der Aufenthaltstitel oder das Visum aufgrund einer falschen oder missbräuchlich verwendeten Identität oder nach Vorlage von gefälschten, falschen oder ungültigen Dokumenten erteilt wurde, hindert nicht daran, dem Mitgliedstaat, der den Titel oder das Visum erteilt hat, die Zuständigkeit zuzuweisen. Der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel oder das Visum ausgestellt hat, ist nicht zuständig, wenn nachgewiesen werden kann, dass nach Ausstellung des Titels oder des Visums eine betrügerische Handlung vorgenommen wurde."

§ 21 Abs. 3 BFA-VG lautet:

"§ 21 (3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint."

2. Im gegenständlichen Verfahren ging das BFA unter Zugrundelegung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens zutreffend davon aus, dass in materieller Hinsicht die Zuständigkeit Estlands zur Prüfung des in Rede stehenden Antrags auf internationalen Schutz in Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO begründet ist, da die BF über ein von einer estnischen Vertretungsbehörde ausgestelltes, zum Zeitpunkt der Asylantragstellung seit weniger als sechs Monaten abgelaufenes Visum verfügte.

2.1. Allerdings ist der bekämpfte Bescheid - wie im Folgenden ausgeführt - in bedeutenden Punkten mit Mangelhaftigkeit behaftet und daher zu beheben:

Zum einem ist festzuhalten, dass die im Bescheid durch das BFA getätigten Ausführungen zum Privat- und Familienleben der BF Textbausteine darstellen, die mit den tatsächlichen Gegebenheiten und den persönlichen Verhältnissen der BF nicht in Einklang stehen.

So hielt die Erstbehörde mehrmals - unter Zitierung verschiedener höchstgerichtlicher Entscheidungen - fest, dass die kurze Dauer des Aufenthalts der BF im Bundesgebiet kein im Sinne des Art. 8 EMRK relevantes Recht auf Achtung des Privatlebens begründen würde und keine Anhaltspunkte für eine Integrationsverfestigung in Österreich ersichtlich seien. Auch sei die Einreise illegal erfolgt und spreche die BF nach wie vor die in ihrem Heimatland gesprochenen Sprachen besser als Deutsch, zumal die Einvernahmen bzw. Befragungen nur unter Beiziehung von geeigneten Dolmetschern möglich gewesen wären.

Dabei wird offenbar, dass das BFA in ihren Feststellungen, der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung den Umstand, dass sich die BF vor ihrer Asylantragsstellung mehrere Jahre legal in Österreich aufgehalten hat, vollständig ignoriert und mit keinem Wort darauf eingeht. So ist dem Zentralen Melderegister zu entnehmen, dass die BF von 03.04.2008 bis zum 31.08.2018 - ihrer Rückkehr nach Russland - durchgehend in Österreich aufrecht gemeldet war. Wie den Aussagen der BF und auch dem Informationssystem Zentrales Fremdenregister zu entnehmen ist, war die BF aufgrund einer Aufenthaltsbewilligung für Studierende legal in Österreich aufhältig, wobei sie - am Ende erfolglos - ein Studium betrieb, laut ihren Angaben drei Jahre lang arbeitete und sich auch Deutschkenntnisse aneignete. Letzteres wird dadurch bestätigt, dass mit der BF die Erstbefragung und die Einvernahme auf Deutsch durchgeführt werden konnte und den Ausführungen im Bescheid, die Einvernahmen bzw. Befragungen im gegenständlichen Asylverfahren seien nur unter Beiziehung von geeigneten Dolmetschern möglich gewesen, jegliche Grundlage fehlt. Selbiges gilt auch für die Feststellung des BFA, die BF wäre illegal eingereist, obwohl sie nachweislich zum Zeitpunkt ihrer Einreise nach Österreich über ein gültiges Schengenvisum verfügte.

Zusammengefasst hätte die Erstbehörde somit in ihren Feststellungen und der Beweiswürdigung auf den mehr als zehnjährigen - und größtenteils legalen - Aufenthalt der BF in Österreich eingehen und diesen Umstand - zumal das BFA seine rechtlichen Ausführungen auf höchstgerichtliche Entscheidungen stützt, in denen von einer Aufenthaltsdauer von lediglich drei, sechs bzw. sieben Jahren gesprochen wird - in ihre Beurteilung, ob die Außerlandesbringung einen Eingriff in das in Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens darstellt oder nicht, miteinfließen lassen müssen.

Festzuhalten ist auch, dass zwischen der Einvernahme der damals schwangeren BF am 19.02.2019 und dem Verfassen des Bescheids am 22.03.2019 die Tochter der BF am XXXX geboren wurde. Da das BFA jedoch - obwohl die Tochter an der Adresse der Mutter seit 20.03.2019 gemeldet ist - vor Bescheiderlassung keinerlei Erkundigungen einholte, ob die BF bereits ein Kind zur Welt gebracht hat, enthält der gegenständliche Bescheid keinerlei Ausführungen zum bereits geborenen Kind.

Dass jedoch die BF zum Entscheidungszeitpunkt am 22.03.2019 nach einer Risikoschwangerschaft in Form einer Zervixinsuffizienz und einem errechneten Geburtstermin am 01.04.2019 bereits am XXXX ein Kind per Kaiserschnitt entbunden hat, hat folgende Auswirkungen:

In den §§ 3 und 5 Mutterschutzgesetz, BGBl Nr. 221/1979 (MSchG), wird für Frauen (im Fall einer Spontangeburt von Einlingen) ein Beschäftigungsverbot von acht Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung normiert (Mutterschutz). Dienstnehmerinnen dürfen bis zum Ablauf von acht Wochen nach ihrer Entbindung nicht beschäftigt werden. Bei Frühgeburten, Mehrlingsgeburten oder Kaiserschnittentbindungen beträgt diese Frist mindestens zwölf Wochen.

Die hinter diesen Bestimmungen liegende generelle Wertung, dass schwangere bzw. kürzlich entbundene Frauen in diesem Zeitraum einer körperlichen Schonung bedürfen, kann auch auf Ausweisungen im Asylrecht übertragen werden.

Da im gegenständlichem Fall zum Zeitpunkt der Entscheidung die Schutzfrist vorlag, wäre das BFA verpflichtet gewesen, einen Durchführungsaufschub gemäß § 61 Abs. 3 FPG auszusprechen, zumal aufgrund der Risikoschwangerschaft der BF und der damit verbundenen vorzeitigen Geburt ihrer Tochter per Kaiserschnitt eine Verletzung ihrer Rechte gemäß Art. 3 EMRK im Falle einer Überstellung nicht ausgeschlossen werden kann.

Zu guter Letzt ist anzumerken, dass der bekämpfte Bescheid - neben einigen Flüchtigkeitsfehlern wie beispielsweise einer Buchstabenfolge anstatt eines Datums auf Seite 8 - im Verfahrensgang das Einvernahmeprotokoll einer anderen Asylwerberin enthält und somit die von der BF getätigten Aussagen dem Bescheid nicht nachvollziehbar zu entnehmen sind.

2.2. Die belangte Behörde wird folglich im fortgesetzten Verfahren neuerlich und den Tatsachen entsprechende Feststellungen zum Privat- und Familienleben der BF zu treffen haben und sich damit beweiswürdigend auseinandersetzen müssen. Dabei wird auch der Umstand, dass das Kind der BF zwischenzeitlich per Kaiserschnitt geboren wurde und gegenüber dem ehemaligen Lebensgefährten ein Antrag auf Feststellung der Vaterschaft und ein Unterhaltsantrag bei Gericht eingebracht wurde, in die Überlegungen miteinzubeziehen sein.

3. Eine mündliche Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 6a und 7 BFA-VG unterbleiben, zumal sämtliche verfahrenswesentliche Abklärungen eindeutig aus den vorliegenden Verwaltungsakten beantwortet werden konnten.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im Übrigen trifft § 21 Abs. 3 BFA-VG eine klare, im Sinne einer eindeutigen, Regelung (vgl. OGH 22.03.1992, 5Ob105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde
Sachverhaltsfeststellung, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W241.2217270.1.00

Zuletzt aktualisiert am

24.06.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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