TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/17 W158 2137835-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.04.2019
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Entscheidungsdatum

17.04.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a

Spruch

W158 2137835-3/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Yoko KUROKI-HASENÖHRL über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R01, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde letztlich durch Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 06.11.2017 zu W248 2137835-1 rechtskräftig abgewiesen. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird hinsichtlich des Verfahrensgangs auf die Ausführungen im genannten Erkenntnis verwiesen.

I.2. Am XXXX stellte der BF den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und wurde dazu am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien niederschriftlich erstbefragt. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, er habe sein Land aus Angst vor den Taliban verlassen. In seinem Dorf hätten die Taliban Jugendliche gesammelt und mitgenommen. Sie hätten gewollt, dass er für die Taliban propagiere. Seine Heimatprovinz sei teilweise von den Taliban und teilweise vom IS eingenommen worden. Neu komme hinzu, dass seine Angehörigen nach dem Tod seiner Mutter Afghanistan verlassen hätten.

I.3. Am XXXX wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und seiner Rechtsberaterin niederschriftlich einvernommen. Befragt, ob sich an den Fluchtgründen etwas geändert habe, gab der BF an, sein Bruder sei von den iranischen Behörden nach Afghanistan abgeschoben worden. Dort hätten ihn die Taliban erwischt und eingesperrt. Seine Mutter habe einen Herzinfarkt erlitten und sei gestorben. Er habe Angst, auch von den Taliban getötet zu werden.

I.4. Anlässlich der Einvernahme wurde mittels mündlich verkündeten Bescheid der faktische Abschiebeschutz aufgehoben. Mit Beschluss vom 24.04.2018 sprach das Bundesverwaltungsgericht zu W260 2137835-2 aus, dass die Aufhebung rechtmäßig war.

I.5. Mit Bescheid vom XXXX , dem Vertreter am XXXX zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.).

Der BF habe keine neuen asylrelevanten Gründe glaubhaft vorgebracht und es liege auch kein neuer objektiver Sachverhalt vor, der Antrag sei daher zurückzuweisen.

I.6. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.7. Am XXXX erhob der BF durch seinen Vertreter Beschwerde in vollem Umfang wegen unrichtiger Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Es wurde beantragt, den "Asylantrag" des BF inhaltlich zu behandeln; dem BF die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen; allenfalls subsidiären Schutz zu gewähren; allenfalls den Bescheid aufzuheben und zur Ergänzung des Verfahrens an das BFA zurückzuverweisen; aufschiebende Wirkung zu gewähren; einen landeskundigen Sachverständigen zu beauftragen, der sich mit der aktuellen Situation in Afghanistan befasst; eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen; allenfalls einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zu erteilen; allenfalls eine Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären; allenfalls festzustellen, dass die Abschiebung unzulässig war.

I.8. Am XXXX langte die gegenständliche Beschwerde samt dem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

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Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle und die vom BF vorgelegten Unterlagen;

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Einsicht in die in das Verfahren eingeführte Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

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Einsicht in das Strafregister, das Melderegister und das Grundversorgungssystem.

II.1. Sachverhaltsfeststellungen:

II.1.1. Zum BF und seinen Fluchtgründen:

Der BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an. Seine Identität kann nicht festgestellt werden. Der BF spricht Paschtu, Dari und Farsi.

Der BF stammt aus der Provinz XXXX , besuchte vier Jahre die Schule und war als Maurer und Bauarbeiter tätig.

Der BF reiste im XXXX erstmals nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Aufgrund der damaligen Zuständigkeit Ungarns für das Asylverfahren wurde eine Außerlandesbringung gegen den BF angeordnet. Der BF entzog sich dem Verfahren und reiste nach Griechenland. Dort war er als Orangenpflücker und Pizzabäcker tätig. Im XXXX reiste der BF erneut in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.

Diesen begründete er damit, bis 2003 in seinem Heimatdorf gelebt zu haben. Dann hätten die Amerikaner im Zuge von Kämpfen gegen die Taliban eine Bombe auf das Haus der Familie geworfen. Bei diesem Angriff sei die Schwester des BF getötet worden, sein Vater habe beide Beine und sein Bruder ein Bein verloren. Die wirtschaftliche Situation seiner Familie sei sehr schlecht gewesen. Der BF sei 2003 in den Iran geflüchtet, um dort zu arbeiten und seiner Familie Geld schicken zu können. Sowohl die wirtschaftliche Lage seiner Familie als auch die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan hätten den BF letztlich dazu bewogen, zu flüchten. Zudem sei sein Vater als Kommunist von den Mujaheddin als Ungläubiger bezeichnet und bedroht worden. Seine Familie habe den BF auch wegschicken wollen, weil er aus diesem Grund von den Mujaheddin verfolgt hätte werden können. Im Iran habe der BF als Bauarbeiter gearbeitet. Da ihm die Abschiebung nach Afghanistan gedroht habe, sei er nach Europa geflüchtet.

Dieser Antrag wurde vom BFA abgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 06.11.2017 zu W248 2137835-1 abgewiesen, da dem Kernvorbringen des BF (schlechte wirtschaftliche Lage seiner Familie, schlechte Sicherheitslage in Afghanistan) kein Vorbringen entnommen werden konnte, welches eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen würde. Nicht festgestellt werden konnten seine in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben zu allfälligen weiteren Fluchtgründen (Gefahr einer Anwerbung durch die Taliban für den Dschihad; mögliche Unterstellung, vom Islam abgefallen zu sein, aufgrund seines Aufenthalts im Ausland), da diese vom BF nicht näher konkretisiert wurden und äußerst oberflächlich und pauschal geschildert wurden.

Aus den vom Bundesverwaltungsgericht damals herangezogenen herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen ergab sich, dass die Provinz XXXX als relativ friedliche Provinz anzusehen war, zumal dort ein flächendeckender Zugriff der Sicherheitskräfte gewährleistet war und militärische Operationen durchgeführt wurden, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien. Eine allfällige Rückführung des BF in diese Region war folglich mit keiner ernstzunehmenden Gefahr für Leib und Leben verbunden, weshalb ihm eine Rückkehr dorthin zugemutet werden konnte. Auch war XXXX von Kabul aus für afghanische Verhältnisse hinreichend sicher erreichbar und es war dem BF zumutbar, die Kosten für die Reise aus eigenem aufzubringen. Aufgrund seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, konnte beim BF die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden, sodass anzunehmen war, dass er in seiner Heimatprovinz in der Lage sein wird, ein ausreichendes Einkommen zu sichern.

Das Erkenntnis wurde dem Vertreter des BF am 09.11.2017 zugestellt.

Seinen nunmehrigen Antrag auf internationalen Schutz begründete der BF damit, dass sein Bruder zwischenzeitlich nach Afghanistan abgeschoben und etwa im Jänner 2018 von den Taliban entführt worden sei. Seine Mutter habe einen Herzinfarkt erlitten und sei gestorben. Sein Vater sei bei der afghanischen Nationalarme bei der kommunistischen Regierung gewesen und sei seit 1996 verschollen. Die Mujaheddin seien nach der Machtübernahme zum Haus der Familie gekommen und hätten wissen wollen, wo der Vater sei. Seine Mutter und er seien geschlagen worden, daraufhin sei sein Vater verschollen.

Eine maßgebliche Änderung hinsichtlich der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens über den letzten Antrag auf internationalen Schutz des BF kann ebenso wenig festgestellt werden wie zur Frage des Vorliegens einer maßgeblichen Bedrohung des BF in Afghanistan.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er verfügt über keine nennenswerten Deutschkenntnisse. Der BF war kein Mitglied in einem Verein und betätigte sich nicht ehrenamtlich, sondern lebte von der Grundversorgung. Der BF zeigte während seines Aufenthaltes keine nennenswerten integrativen Bemühungen und knüpfte keine sozialen Kontakte in nennenswertem Ausmaß. Er ist strafrechtlich unbescholten. Am XXXX wurde der BF begleitet nach Afghanistan abgeschoben. Im Bundesgebiet befinden sich keine Familienangehörigen des BF.

II.1.2. Zur Situation in Afghanistan:

Politische Lage:

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018

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Tolonews (19.12.2017): Special Interview With Arghandiwal - Head of Hizb-e Islami,

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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