TE Bvwg Erkenntnis 2018/11/14 L521 2187467-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.11.2018
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

14.11.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L521 2187467-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX alias XXXX, Staatsangehörigkeit Irak, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.01.2018, Zl. 1078628309-150886770, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 08.11.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 19.07.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Breitenfurt am Tag der Antragstellung gab der Beschwerdeführer an, den im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in XXXX geboren und habe zuletzt in XXXX gelebt, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung und ledig.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, den Irak am 06.07.2015 legal von XXXX ausgehend mit dem Reisebus in die Türkei verlassen zu haben. In der Folge sei er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland gelangt und dort von der Polizei aufgegriffen und des Landes verwiesen worden. Anschließend sei er zunächst mit der Eisenbahn und teilweise zu Fuß nach Ungarn gelangt und von dort schlepperunterstützt mit einem Klein-LKW nach Österreich verbracht worden.

Zu den Gründen seiner Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass er von den Milizen des Islamischen Staates aufgefordert worden sei, sich ihnen anzuschließen. Für den Fall der Ablehnung sei ihm angekündigt worden, dass er mit dem Tod bestraft werde, weshalb er geflüchtet sei.

2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 19.10.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich einvernommen.

Eingangs bestätigte der Beschwerdeführer, einvernahmefähig zu sein und die arabische Sprache zu verstehen. Er habe sich bislang wahrheitsgemäß verantwortet und es wären seine Angaben zutreffend protokolliert worden.

Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, er sei am XXXX in XXXX geboren. Seine Eltern und seine Geschwister würden sich derzeit in der Türkei aufhalten, wobei zwei seiner vier Brüder gefallen wären. Er bekenne sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung, sei ledig und habe keine Kinder. Im Irak habe er im Haus seiner Familie gelebt und zunächst neun Jahre die Schule besucht. Nach dem Schulbesuch habe er einen Handyshop betrieben und anschließend daneben auch eine Tätigkeit als Trockenbauer aufgenommen und aus beiden Tätigkeiten zusammen monatlich USD 1.200,00 ins Verdienen gebracht. Den Irak habe er am 01.07.2015 verlassen, die letzte Nacht im Irak habe er in Erbil verbracht. Eigentlich habe er nach Deutschland gewollt, da ein Freund dort leben würde.

Befragt nach den Gründen der Ausreise legte der Beschwerdeführer dar, dass er von den Milizen des Islamischen Staates aufgefordert worden sei, sich ihnen anzuschließen. Wenn er nicht binnen einer Woche einrücken werde, werde er getötet werden. Da er sich dem islamischen Staat nicht habe anschließen wollen, sei er zunächst nach Bagdad gereist. Dort sei nach drei Tagen Aufenthalt in einem Hotel "die schiitische Miliz" um zwei Uhr morgens zu ihm gekommen und habe ihn aufgrund seiner Herkunft aus XXXX beschimpft und geschlagen. Anschließend sei ihm eine Frist von 24 Stunden eingeräumt worden, Bagdad zu verlassen, widrigenfalls er getötet werde. In der Folge sei er nach Erbil geflogen und dort von der kurdischen Polizei ausgewiesen worden, sodass er in die Türkei habe reisen müssen.

Auf Nachfrage legte der Beschwerdeführer dar, dass XXXX zwischenzeitlich zwar vom Islamischen Staat befreit worden sei, er fürchte sich jedoch vor Schläfern des Islamischen Staates. Tatsächlich würden alle sunnitischen Provinzen des Irak unter der Kontrolle des Islamischen Staates stehen. In einer schiitischen Gegend könne er aufgrund seiner Religion nicht leben. Nach seiner Ausreise hätten Kämpfer des Islamischen Staates nach ihm gesucht, da er nicht mehr zuhause gewesen sei, wären zwei seiner Brüder getötet worden.

Seinen Reisepass habe er "im Meer verloren". Er könne sich aber nunmehr mit seinem Personalausweis legitimieren, den ihm ein Freund aus dem Irak geschickt habe. Er könne auch einen Grundbuchsauszug und Lichtbilder aus XXXX vorweisen.

Im Fall einer Rückkehr fürchte er Verfolgung aufgrund seiner Arbeit als Tätowierer und seiner Tätowierungen, ferner sei das Haus der Familie in XXXX zerstört und in Bagdad habe er keine Anknüpfungspunkte.

3. Eine urkundentechnische Untersuchung des vom Beschwerdeführer vorgelegten Personalausweises durch das Landeskriminalamt Oberösterreich am 30.10.2017 ergab, dass es sich dabei um eine Fälschung handelt.

Mit Abschluss-Bericht des Bezirkspolizeikommandos XXXX vom 17.11.2017 wurde der Beschwerdeführer deshalb bei der Staatsanwaltschaft Steyr wegen des Verdachts der Urkundenfälschung angezeigt, wobei sich der Beschwerdeführer gegenüber der Polizei nicht geständig zeigte. Das Ermittlungsverfahren wurde am 24.11.2017 eingestellt.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.01.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde nach der Wiedergabe der Einvernahme des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person aus, es könne nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer zum Entscheidungszeitpunkt im Irak eine vom Islamischen Staat oder schiitischen Milizen ausgehende asylrelevante Verfolgung drohen würde. Der Beschwerdeführer verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte im Irak und sei ihm eine Rückkehr zumutbar und möglich.

Beweiswürdigend wird insbesondere ausgeführt, dass das Ausreisevorbringen des Beschwerdeführers nicht als glaubhaft erachtet werde. Nicht plausibel sei, dass der Islamischen Staat dem Beschwerdeführer eine einwöchige Frist eingeräumt habe, um sich zu melden. Außerdem könne nicht nachvollzogen werden, dass die Familie des Beschwerdeführers behauptetermaßen in XXXX geblieben sei, obwohl nach seiner Flucht mit Vergeltungsmaßnahmen habe gerechnet werden müssen.

Die weiteren Angaben des Beschwerdeführers stünden im Widerspruch zur Erstbefragung, obwohl der Beschwerdeführer deren Richtigkeit eingangs der Einvernahme bestätigt habe. Das Bundesamt gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer den Irak aufgrund der dort gebietsweise vorherrschenden bürgerkriegsähnlichen Situation verlassen habe und nunmehr nach der militärischen Niederlage des Islamischen Staates weitere Asylgründe in Gestalt eines angeblichen Übergriffes schiitischer Milizen konstruiert habe.

Das Bundesamt gehe auch davon aus, dass sich die Familie des Beschwerdeführers tatsächlich im Irak aufhalte, da er von dort seinen Personalausweis und seine Dokumente geschickt bekommen habe. Da der Beschwerdeführer ein gesunder und erwachsener Mann sei, sei darüber hinaus nicht davon auszugehen, dass er im Fall einer Rückkehr nach XXXX in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.

Die Identität des Beschwerdeführers stehe nicht fest, da er sich mit einem gefälschten Dokument ausgewiesen habe.

5. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.01.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

6. Gegen den dem Beschwerdeführer am 26.01.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der beigegebenen Rechtsberatungsorganisation fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen bzw. die dauerhafte Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung festzustellen und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung seiner bereits vorgebrachten Ausreisegründe im Wesentlichen vor, das belangte Bundesamt habe die angefochtene Entscheidung auf unvollständige Länderberichte gestützt und insbesondere Ermittlungen zur Lage sunnitischer Araber im Irak unterlassen. In der Folge wird über mehrere Seiten der Inhalt von Anfragebeantwortungen von ACCORD zur Lage sunnitischer Rückkehrer in vom Islamischen Staat befreite Gebiet und zur Lage in Bagdad sowie Berichte von Amnesty International wörtlich wiedergegeben und zuletzt festgehalten, dass diese Berichte eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers glaubhaft machen würden.

Im Hinblick auf die Beweiswürdigung verweist der Beschwerdeführer auf das nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung bestehende Verbot, Widersprüche zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme zu verwerten, im Übrigen sei er bei der Erstbefragung aufgefordert worden, nur kurze Angaben zu tätigen. Die vom belangten Bundesamt getroffenen Feststellungen zur Lage im Irak würden außerdem den Standpunkt des Beschwerdeführers untermauern. Die Sicherheitslage in Bagdad und XXXX sei außerdem katastrophal und dem Beschwerdeführer eine Rückkehr keinesfalls zumutbar.

7. Die Beschwerdevorlage langte am 28.02.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

8. Mit Note des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.10.2018 wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage im Irak zur Vorbereitung der für den 08.11.2018 anberaumten mündlichen Verhandlung übermittelt und die Möglichkeit einer Stellungnahme freigestellt. Innerhalb der eingeräumten Frist langte keine Stellungnahme beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl setzte das Bundesverwaltungsgericht mit Eingabe vom 23.10.2018 davon in Kenntnis, dass der Beschwerdeführer an diesem Tag von Behörden der Bundesrepublik Deutschland gemäß der Verordnung Nr. 604/2013/EU rückübernommen worden sei. Dem Beschwerdeführer wären dabei die Ladung zur Verhandlung am 08.11.2018 und die Kontaktdaten seiner Rechtsvertretung nachweislich zur Kenntnis gebracht worden. Ferner habe der Beschwerdeführer eine Belehrung nach dem Meldegesetz erhalten.

10. Die rechtsfreundliche Vertretung des Beschwerdeführers setzte das Bundesverwaltungsgericht zunächst mit E-Mail vom 06.11.2018 darüber in Kenntnis, dass sich der Beschwerdeführer nicht zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung gemeldet habe und auch kein Kontakt zu ihm hergestellt werden könne.

Mit Telefax ebenfalls vom 06.11.2018 wurde die vom Beschwerdeführer erteilte Vollmacht seitens der rechtsfreundlichen Vertretung gekündigt.

12. Der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 08.11.2018 bleib der Beschwerdeführer unentschuldigt fern und wurde die Verhandlung in seiner Abwesenheit durchgeführt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt in diesem Verfahren den Namen XXXX und gibt an, am XXXX oder XXXX geboren zu sein. Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest. Sein in Vorlage gebrachter iraksicher Personalausweis, angeblich ausgestellt am 15.09.2013, ist gefälscht.

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Feststellungen zu seinem Religionsbekenntnis, seinem Geburtsort und seiner Herkunftsregion könne nicht getroffen werden. Eigenen Angaben zufolge bekennt sich der Beschwerdeführer zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung, er bringt ferner vor, aus XXXX (Gouvernement Ninawa) zu stammen und dort zuletzt in XXXX in einem Haus im Eigentum seiner Familie gelebt zu haben.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Er ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

Im Irak besuchte der Beschwerdeführer neun Jahre die Schule. Nach dem Schulbesuch eröffnete er einen Handyshop, den er bis zur Ausreise betrieb. Ab dem Jahr 2015 ging der Beschwerdeführer außerdem einer Beschäftigung als Trockenbauer nach und brachte und aus beiden Tätigkeiten zusammen monatlich USD 1.200,00 ins Verdienen.

Feststellungen zum Aufenthaltsort der Eltern und der vier Brüder und zwei Schwestern des Beschwerdeführers können nicht getroffen werden.

Der Beschwerdeführer verließ den Irak am 01.07.2015 oder am 06.07.2015 legal in die Türkei, wobei der Ausgangspunkt seiner Ausreise im Irak nicht festgestellt werden kann. In weiterer Folge gelangte er schlepperunterstützt auf dem Seeweg nach Griechenland und wurde von dort aus zunächst mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dann von Ungarn aus schlepperunterstützt mit einem Klein-LKW nach Österreich verbracht, wo er am 19.07.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seines sunnitischen Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer hatte außerdem vor seiner Ausreise keine Schwierigkeiten mit Behörden, Gerichten oder Sicherheitskräften seines Herkunftsstaates zu gewärtigen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise Drohungen, Übergriffen oder einer versuchten Zwangsrekrutierung seitens der Milizen des Islamischen Staates ausgesetzt war. Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer sonstigen individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt in seinem Herkunftsstaat durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere ist der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt seitens verbliebener Anhänger des Islamischen Staates und/oder schiitischer Milizen ausgesetzt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat von Strafverfolgungsbehörden mit Haftbefehl gesucht wird bzw. ihm im Fall einer Rückkehr in den Irak Strafverfolgung drohen würde. Ferner wird dem Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Anhängerschaft bzw. Unterstützung des Islamischen Staates oder ein sonstiges Naheverhältnis zum Islamischen Staat vor der Ausreise unterstellt werden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass zwei Brüder des Beschwerdeführers von den Milizen des Islamiten Staates aufgrund der Ausreise des Beschwerdeführers ermordet wurden.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.

Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeits- und anpassungsfähiger Mensch mit grundlegender Ausbildung in der Schule und mehrjähriger Berufserfahrung als selbständiger Händler und als Trockenbauer. Der Beschwerdeführer verfügt an seinem behaupteten Herkunftsstaat XXXX im Gouvernement Ninawa oder alternativ in Bagdad über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar.

Dem Beschwerdeführer ist außerdem eine Rückkehr in das Gouvernement Ninava und dort in eines der geöffneten Lager für Binnenvertriebene möglich und zumutbar. Dem Beschwerdeführer stehen etwa die Lager für Binnenvertriebene Hamam Al Alil 2 (betrieben von UNHCR und der irakischen Regierung) und Nargizlia 1 & 2 (betrieben von der irakischen Regierung) zur Verfügung. In sämtlichen Lagern für Binnenvertriebene besteht ausreichend Zugang zu Nahrungsmitteln und Trinkwasser, Unterkunft und medizinischer Versorgung im Wege der dort tätigen Hilfsorganisationen und der irakischen Behörden und somit ebenfalls eine gesicherte Existenzgrundlage.

Sowohl das Gouvernement Ninawa als auch die Hauptstadt Bagdad können im Luftweg (direkt bzw. über Erbil) erreicht werden.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine irakischen Ausweisdokumente im Original.

1.4. Der Beschwerdeführer hielt sich vom 19.07.2015 bis zu einem nicht feststellbaren Tag im zweiten Halbjahr 2018 im Bundesgebiet auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, war stets Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

An einem nicht feststellbaren Tag im zweiten Halbjahr 2018 reiste der Beschwerdeführer eigenmächtig und unrechtmäßig in die Bundesrepublik Deutschland und wurde von dort aus am 23.10.2018 gemäß der Verordnung Nr. 604/2013/EU nach Österreich rücküberstellt (und dabei vom Verhandlungstermin am 08.11.2018 in Kenntnis gesetzt). Der Beschwerdeführer verfügt derzeit über keinen Wohnsitz im Bundesgebiet, sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.

1.5. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

Der Beschwerdeführer bezog von der Antragstellung am 19.07.2015 an bis zum 19.07.2018 Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber. Der Beschwerdeführer ist nicht legal erwerbstätig, er hat auch keine Erwerbstätigkeit am regulären Arbeitsmarkt in Aussicht. Seit dem 09.10.2017 ist er als arbeitssuchend gemeldet. In den Monaten März und April 2017 verrichtete er Aushilfstätigkeiten in einem Supermarkt in XXXX.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten und pflegte im Übrigen normale soziale Kontakte. Er ist für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig und alleinstehend.

Der Beschwerdeführer besuchte Deutschkurse bei der Volkshochschule Oberösterreich im Jahr 2016 auf dem Niveau A1.2. Er legte keine Prüfungen über Kenntnisse der deutschen Sprache ab.

1.6. Zur gegenwärtigen Lage in XXXX werden folgende Feststellungen getroffen:

Der von ACCORD herausgegeneben Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project vom 05.09.2018 zufolge wurden in der Provinz Ninawa mit deren Hauptstadt Mossul im 2. Quartal 2018 72 Vorfälle mit 247 Toten erfasst. Einem Artikel des Irakexperten Joel Wing vom 03.07.2018 über den Wiederaufbau des Islamischen Staates in ländlichen Gebieten Zentraliraks ist zu entnehmen, dass die Angriffe in Ninawa seit Anfang 2017 kontinuierlich zurückgingen und im Juni 2018 mit 0,4 Vorfällen pro Tag einen neuen Niedrigstand erreichten und eine kontinuierliche Abnahme der Angriffe in der Provinz Ninewa zwischen März 2017 und Juni 2018 stattgefunden hat.

Reuters berichtet im Februar 2018, dass 700 Familien in West Mossul provisorische Unterkünfte erhalten haben, die vom UNHCR mit finanzieller Unterstützung aus Japan zur Verfügung gestellt wurden. Diese Unterkünfte sollen für die Dauer von drei Jahren vertriebenen Familien Schutz bieten, die nun nach dem Ende der Kämpfe in die zerstörte Stadt zurückkehren wollen. Der Wiederaufbau der Stadt stellt eine enorme Herausforderung dar. Insgesamt sind während der Schlacht um Mossul über 1 Million Menschen geflohen.

Im Sommer 2017 führte die NGO REACH eine Untersuchung durch, um die Situation der Märkte, der Infrastruktur, der Sicherheit und der Lieferanten in West-Mossul besser verstehen und einen Überblick über Preis und Verfügbarkeit der wichtigsten Güter geben zu können.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich Unternehmer durch infrastrukturelle Probleme insbesondere hinsichtlich der Verfügbarkeit von Elektrizität und Wasser stärker betroffen gefühlt haben als durch mangelnde Sicherheit. Gleichzeitig zeigt die Untersuchung, dass die befragten Einzelhändler und Großhändler sehr optimistisch sind, das Angebot bei Bedarf und Marktnachfrage verdoppeln zu können. Insgesamt wurde festgestellt, dass die bewerteten Waren [Orig. "assessed goods", d.h. die Waren, die untersucht wurden, Anm.] weit verbreitet sind und auf den einzelnen Marktplätzen nur begrenzte Engpässe festzustellen sind. Dennoch wirkte sich die anhaltende Krise auf das Angebot und den Marktzugang aus, oft mit hochgradigen lokalen Unterschieden.

Die New York Times berichtet am 29.5.2018 über den Weg von Mossul zurück zur "Normalität" und beschreibt, wie ein Jahr nach der Vertreibung des IS das Leben in vielen Teilen der Stadt zurückkehrt und das Gefühl der Sicherheit wieder spürbar wird. Neue Geschäfte sind offen und die Menschen bleiben zum ersten Mal seit Jahren bis spät Abends draußen. Man hat den Eindruck, dass Mossul endlich von kriminellen Banden und radikalen Islamisten befreit worden ist. Auch die wieder geöffnete Universität bringt Leben und Energie in die vom Krieg verwüstete Stadt zurück. Einige der ersten Studenten, die seit der Niederlage von ISIS ihren Abschluss gemacht haben, feierten kürzlich zu boomender irakischer Popmusik in einer Empfangshalle im Osten Mosuls. In Form von riesigen "I love you"-Ballons wurde auch der diesjährige Valentinstag gefeiert. Trotz der Anzeichen für ein Wiederaufleben einer Stadt sind die Erinnerungen an den Krieg und die Kosten, die die Niederlage des islamischen Staates gekostet hat, vor allem in der Altstadt, auf der stärker beschädigten Westseite Mosuls, nach wie vor sichtbar. Zivile Fahrzeuge, die in der gesamten Altstadt zerstört und verlassen wurden, werden langsam gesammelt und stehen als ruhiges, rostiges Symbol für die schrecklichen Kämpfe.

Neben der neu errichteten Alten Brücke, die über den Fluss Tigris führt, machte eine Gruppe junger Schrott-Sammler eine Pause von der Arbeit, um sich abzukühlen. Einige der Jungs wussten nicht, wie man schwimmt und stopften sich Polystyrolstücke in die Unterwäsche, um sich über Wasser zu halten. Das Bild von ihnen, die in den Untiefen unter der wunderschön restaurierten Eisenbrücke herumtollen, stand im krassen Gegensatz zu den leblosen Schutthaufen auf der westlichen Seite des Flusses. Der Gegensatz wurde durch das Wissen verstärkt, dass so viele Menschen auf diesem Flussabschnitt getötet wurden, als sie versuchten, der Altstadt beim letzten Angriff im vergangenen Sommer zu entkommen. Mossul zeigt sich laut NYT als Stadt voller Widersprüche.

Die NYT berichtet weiters in einem Artikel vom 6.5.2018, dass die Verwaltung von Mossul kämpft, mit der Rückkehr der Vertriebenen mitzuhalten und nicht über das erforderliche Personal verfügt, um sich auf Räumungsarbeiten und die Beseitigung von Blindgängern zu konzentrieren. Dafür werden auch Müllmänner eingesetzt - eine Aufgabe für die sie nicht ausgebildet sind. Der Artikel berichtet außerdem über das wachsende Müllproblem der Stadt als eine der größten Herausforderungen der Stadtverwaltung. Mit der Rückkehr der Bewohner häuft sich der Abfall. Müllwägen waren vom IS zu LKW-Bomben umfunktioniert und durch Luftangriffe oder von IS-Kämpfern selbst gesprengt worden. Vielerorts sind nun durch die Rückkehr der Bewohner informelle Müllhalden entstanden. Trotz der Probleme haben sich die Dinge in Mossul laut NYT in vielerlei Hinsicht wieder normalisiert, was angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen der letzten Jahre bemerkenswert ist.

Laut USDOS sind alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des Public Distribution Systems (PDS) zu erhalten; die Behörden haben das PDS jedoch sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den kürzlich wieder eroberten Gebieten. Die Behörden verteilten nicht jeden Monat alle Waren, und nicht alle Binnenvertriebenen konnten in jedem Gouvernement auf das PDS zugreifen. Der niedrige Ölpreis hat die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt. Die Bürger konnten die PDS-Rationen nur an ihrem Wohnort und in ihrem eingetragenen Gouvernement einlösen, wodurch Vertriebene den Zugang zu PDS verloren. Nach Militäroperationen in Mossul hat die Regierung das PDS wieder angeboten.

Obwohl Prozess der Rückkehr von Binnenvertriebenen Umfang begonnen hat, können viele Menschen aufgrund der enormen Schäden an der Infrastruktur in ihren Wohngebieten nicht in ihre Heimatgebiete zurückkehren. Fast alle Teile der von den Militäroperationen betroffenen Gebiete in Ninawa haben Schäden an der Infrastruktur erlitten, wobei einige Bezirke vollständig zerstört wurden und der Wiederaufbau Jahre in Anspruch nehmen wird. Massiv beschädigt wurden insbesondere auch Krankenhäuser, Schulen, Arbeitsstätten, Regierungsgebäude sowie religiöse und historische Stätten. Laut dem Wiederaufbaukomitee des Bezirks Ninawa wurden drei Viertel der Straßen Mossuls, fast alle Brücken und 65 Prozent des Stromnetzes zerstört. Ein Großteil der Wasserinfrastruktur der Stadt war während der Kampfhandlungen mit Sprengfallen versehen worden. In der Stadt lebten 1,8 Millionen Menschen, von denen über 875.000 vertrieben wurden. Viele können nicht nach Hause zurückkehren, weil ihre Häuser oder Lebensgrundlagen zerstört sind. Die Hauptprobleme sind nach wie vor die enorme Zerstörung der Infrastruktur für Wasserversorgung, Kraftwerke und medizinische Einrichtungen. Humanitäre Partner stellen Notfallnahrung, Wasser und lebenswichtige Güter zur Verfügung.

USAID berichtet in ihrem Factsheet vom 20. Juli 2018 über die Situation in Mossul wie folgt: Ein USAID/OFDA-Partner hat den Zugang der Bevölkerung in Mossul und Umgebung zu sauberem Trinkwasser verbessert. Zwischen April 2017 und Mai 2018 wurde die Wasserversorgungsinfrastruktur repariert, von der fast 12.900 Haushalte oder rund 77.300 Menschen profitierten. Mittels Wassertransporten wurden weitere 2.000 Haushalte und somit rund 12.000 Menschen mit sauberem Trinkwasser versorgt.

Während der abschließenden Bewertung des Projekts gaben etwa 95 Prozent der befragten Haushalte an, aufgrund der Verbesserung der Wasserversorgungssysteme täglich Zugang zu sauberem Trinkwasser zu haben, und die Mehrheit der Befragten - 84 bzw. 74 Prozent - berichteten von einer verbesserten Wasserqualität und einer Verringerung der Fälle von akutem Durchfall in den Haushalten. Im Mai prüfte ein UNHCR-Partner die Stadtviertel Aghwat und Alzahraa und äußerte schließlich Bedenken vor allem bezüglich der häufigen Kinderarbeit - einschließlich des Einsatzes von Kindern in gefährlichen Aktivitäten. Auch wies er auf die häufige Belästigung von Frauen und Mädchen durch männliche Bewohner und lokale Polizeibeamte hin.

Laut IOM gab es bis zum 15. Juli fast 2 Millionen Vertriebene im Irak, während mehr als 3,9 Millionen Menschen landesweit in ihre Herkunftsgebiete und andere Gebiete zurückgekehrt sind. Zwischen März und Mai befragte IOM 249.000 Haushalte - etwa 1,5 Millionen Menschen -, um die Rückkehrtrends der Bewohner zu bewerten. Demnach beabsichtigen etwa 63 Prozent der Binnenvertriebenen, in den nächsten drei bis sechs Monaten dort zu verbleiben, wo sie gerade leben. Von jenen Haushalten, die keine Pläne haben, langfristig in die Herkunftsgebiete zurückzukehren, planten laut IOM etwa 22 Prozent die Integration in die lokalen Gemeinschaften, da es dort sicherer sei. Beschädigte oder zerstörte Häuser, fehlende Existenzgrundlagen und die Unsicherheit in den Herkunftsgebieten bleiben Haupthindernisse für die Rückkehr von Binnenvertriebenen. (Quelle: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 28.09.2018 betreffend Sicherheitslage, Wohnverhältnisse und Versorgung in Mossul).

1.7. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Im März 2003 kam es zum Einmarsch von Truppen einer Koalition, die von den USA angeführt wurde (BBC 12.7.2017). Als Grund hierfür wurden Massenvernichtungswaffen angegeben, deren Existenz jedoch nie bestätigt werden konnte. Nach dem im März 2003 erfolgten Sturz von Saddam Hussein, einem Angehörigen der sunnitischen Minderheit, wurden die Regierungen von Vertretern der schiitischen Mehrheitsbevölkerung geführt (BPB 9.11.2015). Mit 2003 begann der Aufstieg von [vorwiegend] irantreuen bzw. dem Iran nahestehenden schiitischen Parteien/Milizen, denen die amerikanischen Invasoren erlaubten, aus dem iranischen Exil in ihre Heimat zurückzukehren (SWP 8.2016; vgl. Hiltermann 26.4.2017). Es konnte nach der Entmachtung Husseins weder eine umfassende Demokratisierung noch eine Stabilisierung erreicht werden, da die Strukturen des neuen politischen Systems das Land entlang ethnisch-konfessioneller Linien fragmentierten (BPB 9.11.2015). Die von der US-Besatzung beschlossene Auflösung der irakischen Armee sowie das Verbot der Baath-Partei ließen viele Sunniten, darunter erfahrene Militärs, radikalen islamistischen Gruppen zuströmen (Spiegel 18.4.2015). Die sunnitische Minderheit fühlte sich zunehmend diskriminiert und radikale Anführer konnten immer mehr Anhänger gewinnen (AI 28.5.2008). Zudem hatte die Demontage der irakischen Armee und irakischen Sicherheitskräfte durch die US-geführte Koalition ein Sicherheitsvakuum hinterlassen, das die schiitischen Milizen zu füllen versuchten, wodurch es zu einem sunnitischen Aufstand kam (Hiltermann 26.4.2017). Die US-Regierung (sowohl die Bush-, als auch die Obama-Regierung) arbeitete zum Teil mit diesen Kräften (Badr-Miliz) zusammen, und verschloss vor den Gewaltexzessen der schiitischen Milizen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung die Augen (Reuters 14.12.2015). Während die Revolte der Sunniten gegen die US-Präsenz seit 2003 eher eine nationalistisch als eine religiös geprägte Bewegung war, entwickelte die Revolte zunehmend einen dominanten radikal-sunnitisch-islamistischen Zug. Der in der Folge entstehende konfessionelle Bürgerkrieg (ca. 2005 bis 2007) führte zu einer Änderung der US-Politik im Irak, die wiederum die Niederlage von Al-Qaida im Irak (AQI) herbeiführte. Doch dadurch, dass das Problem der Ausgrenzung der Sunniten weiter bestehen blieb, kam es zu weiteren Protesten in den sunnitischen Gebieten in den Jahren 2013 und 2014, daraufhin zu einer gewaltsamen Antwort von Seiten des Staates und danach zur Übernahme sunnitischer Gebiete durch eine noch radikalere Version von Al-Qaida - durch die Organisation "Islamischer Staat" [IS, auch ISIS oder ISIL, vormals ISI, arabisch Daesh] (Hiltermann 26.4.2017). Diese konnte in große Teile der sunnitischen Gebiete im Westen des Irak, in kurdische Gebiete im Norden des Irak und in Teile Syriens vordringen (ACCORD 12.2016). Als die nach der Entmachtung Saddam Husseins neu aufgestellte Armee vorübergehend "kollabierte", mobilisierten schiitische Führer in Notwehr ihre Gefolgschaft, wodurch die schiitischen Milizen (allen voran die Badr Organisation, Asaib Ahl al-Haq und Kataeb Hezbollah, mit Unterstützung des Irans) verstärkt auf den Plan traten und sich nordwärts in die sunnitischen Gebiete bewegten (Hiltermann 26.4.2017). Das politische Geschehen ist trotz großer Erfolge bei der Rückeroberung von IS weiterhin vom Kampf gegen den IS geprägt (ÖB 12.2016). Seit Ende 2015 wird der IS mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft (AA 7.2.2017).

Nach dem Referendum über die Lossagung Irakisch-Kurdistans vom Irak am 25.9.2017 erklärte der Kurdenführer Mas?ud Barzani am Tag darauf (noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses), dass die Mehrheit der Kurden, die ihre Stimme abgaben, die Unabhängigkeit unterstützen würden. Die Beteiligung lag in etwa bei 72 Prozent (Al-Jazeera 27.9.2017). Wahlberechtigt waren ca. fünf Millionen Einwohner, darunter mehrheitlich Kurden verschiedenen Glaubens, aber auch Christen und die meist sunnitischen Araber und Turkmenen der Region (Tagesspiegel 25.9.2017). Nach vorläufigen Zahlen von Barzanis KDP (Kurdische Demokratische Partei) stimmten beim Referendum knapp 92 Prozent für die Unabhängigkeit. Trotz internationaler Kritik und Warnungen hatte die kurdische Autonomieregierung die Bürger am Montag abstimmen lassen (Standard 27.9.2017). Die Zentralregierung hält das Referendum für verfassungswidrig. Auch die Türkei und der Iran sind strikt gegen einen unabhängigen Kurdenstaat. Bereits kurz nach der Abstimmung hatten die türkische und die irakische Armee ein gemeinsames Militärmanöver begonnen. Laut dem irakischen Generalstabschef Uthman al-Ghanami finde die Übung in der Gegend des Grenzübergangs Habur statt, des Übergangs zwischen der Türkei und der Kurdenregion im Nordirak. Die türkische Armee hatte das Manöver bereits eine Woche zuvor begonnen (Standard 27.9.2017). Die Türkei reagierte auch mit der Ankündigung von wirtschaftlichen Sanktionen. Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Folgetag des Referendums, dass die "irakischen Kurden hungern würden, wenn sein Land keine Lastwagen mehr in die Region ließe." Er drohte darüber zudem mit einem Stopp des kurdischen Ölexports und einer militärischen Intervention im Nordirak nach dem Vorbild des türkischen Einmarschs in Syrien. Das Referendum nannte er "null und nichtig" (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Der Nachbarstaat Iran schloss als Reaktion auf das Referendum nach dem Luftraum laut offiziellen Angaben auch die Landgrenze zu den Kurdengebieten. Allerdings gab es unterschiedliche Berichte darüber, ob ein Grenzübergang weiterhin geöffnet blieb. Parlamentspräsident Ali Larijani kündigte am Dienstag zudem an, dass das Parlament "alles, was zu einer Desintegration der Region führen könnte", nicht anerkennen werde. Medienangaben zufolge gab es wegen des Referendums am Montag spontane Straßenfeiern in mehreren kurdischen Städten im Iran (Standard 26.9.2017). Der Iran und die von ihm finanzierten schiitischen Milizen im Irak. sehen die Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden als Bedrohung einer iranisch dominierten Neuordnung der Region, die über den Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Dazu braucht die iranische Führung einen Irak in seinen jetzigen Grenzen und mit seinen Ölquellen in Kirkuk. Iranische Militärs und Revolutionsgardisten mahnten zunächst in eher blumigen Worten, inzwischen melden sie das Recht auf militärische Aktionen auf kurdischem Territorium an, sollte Erbil die Unabhängigkeit vorantreiben. Sie wittern hinter dem Referendum auch eine amerikanisch-israelische Strategie zur Unterminierung iranischer Interessen. Was in diesem Fall nur zur Hälfte stimmt. Israel ist in der Tat der einzige Staat im Nahen Osten, der das Referendum befürwortet, Kurden und Israelis haben eine lange Geschichte gegenseitiger Unterstützung (Zeit 24.9.2017). Die Türkei und der Iran befürchten darüber hinaus Auswirkungen auf die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen kurdischen Minderheiten. Die USA als wichtiger Verbündeter der Kurden hatten sich ebenfalls gegen das Referendum ausgesprochen, weil sie den Kampf gegen den IS gefährdet sehen (Standard 26.9.2017).

Die irakische Regierung beantwortete den Aufruf Barzanis, mit den Kurden nun in Verhandlungen zu treten, ebenfalls mit einer Drohung. Premierminister Haider al-Abadi forderte die Kurden auf, binnen drei Tagen die Kontrolle der Flughäfen im Norden des Landes an die Zentralregierung zu übergeben. Sollte dies nicht geschehen, werde die irakische Regierung den Luftraum sperren und keine Flüge mehr aus oder in den Nordirak zulassen. Inlandsflüge seien davon jedoch nicht betroffen und internationale Flüge in und aus der Kurdenregion könnten [nach derzeitigem Stand] über Bagdad stattfinden (Al-Jazeera 27.9.2017; vgl. Standard 26.9.2017). Darüber hinaus stimmte das irakische Parlament bereits am Montag dafür, die irakische Armee in jene Gebiete zu schicken, in denen das Referendum abgehalten wurde, die jedoch laut irakischer Verfassung von 2005 als "umstrittenen" gelten - insbesondere Kirkuk und Umgebung, wo die Kurden die völlige Kontrolle übernahmen, nachdem 2014 die irakische Armee vor dem "Islamischen Staat" (IS) geflohen war (Harrer 26.9.2017).

Bild kann nicht dargestellt werden

(Al-Jazeera 27.9.2017)

Der Armeeeinsatz in den umstrittenen Gebieten, insbesondere in Kirkuk und Umgebung, führte zum Zusammenbruch der irakisch-kurdischen Peschmerga unter dem gemeinsamen Druck von Irak und Iran kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit der Kurden am 25. September 2017 und könnte den Nordirak letztlich eher destabilisieren. Die Peshmerga zogen sich am 16. und 17. Oktober 2017 aus den umkämpften Gebieten im Nordirak im Wesentlichen zurück.

Staatsform & Parteien

Der Irak ist formal-konstitutionell eine republikanische, demokratische, föderal organisierte und parlamentarische Republik. So sieht es die gültige Verfassung von 2005 vor. Sitz von Regierung und Parlament ist Bagdad. Staatspräsident ist seit dem 24.07.2014 der Kurde Fuad Massum, Angehöriger der irakisch-kurdischen Partei Patriotic Union of Kurdistan - PUK. Ein Teil des föderalen Staates ist auch das kurdische Autonomiegebiet, das im Nordosten des Iraks angesiedelt ist. Diese Föderale Region Kurdistan hat weitgehende Souveränität. Sie verfügt über eigene exekutive, legislative und judikative Organe und besitzt seit 2009 eine eigene Verfassung, sowie gesonderte Militäreinheiten, die Peschmerga (LIP 6.2015). Im Irak gibt es eine Vielzahl von Parteien (zu einer Anerkennung genügen laut Parteiengesetz 500 Unterschriften).

Wahlen & Premierminister

Die nationalen Wahlen, die im April 2014 stattfanden, hatte zwar abermals der zuvor amtierende Premierminister Nouri al-Maliki gewonnen, da es jedoch auf Grund seines autoritären und pro-schiitischen Regierungsstils massive Widerstände gegen ihn gab, trat er im August 2014 auf kurdischen, internationalen, aber auch auf innerparteilichen Druck hin zurück (GIZ 6.2015). Maliki wird unter anderem vorgeworfen, mit seiner sunnitenfeindlichen Politik (Ausgrenzung von sunnitischen Politikern, Niederschlagung sunnitischer Demonstrationen, etc.) deutlich zur Entstehung radikaler sunnitischer Gruppen, wie dem IS, beigetragen zu haben (Qantara 17.8.2015; vgl. auch Abschnitt "Sicherheitslage"). Infolge dessen wurde die schiitisch dominierte Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki von einer nationalen Einheitsregierung mit Beteiligung von Sunniten und Kurden unter dem gemäßigteren Premierminister Haidar al-Abadi abgelöst (HRW 29.1.2015). Abadi ist ebenfalls Schiite und ein Parteikollege Malikis in der Da'wa-Partei. Er ist mit dem Versprechen angetreten, das ethno-religiöse Spektrum der irakischen Bevölkerung wieder stärker abzudecken (GIZ 6.2015), und zunächst konnten durch seine Ernennung zum irakischen Premierminister tatsächlich einige gesellschaftliche Gräben geschmälert werden. Von einer tatsächlichen Versöhnung zwischen den ethnischen und religiösen Gruppierungen ist jedoch nichts zu bemerken (ÖB 12.2016). Die Besetzung aller politischen Führungspositionen, so auch der Kabinettsposten, folgt seit Jahren einem Kalkül ethnisch/religiöser Balance. Die sunnitischen Regierungs- und Parlamentsmitglieder stehen unter Druck, da ihre Kooperation in Bagdad bislang kaum dazu beitrug, ihre Klientel zu schützen (ÖB 12.2016). Das irakische Parlament wählte den moderaten sunnitischen Politiker Salim al-Jabouri zum Parlamentspräsidenten (Al Arabiya 15.7.2014).

Das irakische Parlament hat am 29.01.2017 die neuen Minister für Verteidigung und Inneres bestätigt. Der Armeegeneral Erfan al-Hiyali von der sunnitischen Minderheit im Land wird künftig das Verteidigungsministerium führen. Kasim al-Aradschi von der schiitischen Badr-Organisation leitet das Ressort Inneres. Ministerpräsident Haider al-Abadi lobte die Entscheidung des Parlaments als "guten Fortschritt zu einer entscheidenden Zeit". Beide Posten waren monatelang unbesetzt (ORF, 30.01.2017).

Am 12.5.2018 wurden im Irak neuerlich Parlamentswahlen abgehalten. Die Wahlbeteilung lag bei 44,5 Prozent - die niedrigste Beteiligung seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 (Die Presse 13.5.2018). Als Sieger geht das Wahlbündnis Sa'irun des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs hervor, das nicht mehr vom ersten Platz zu verdrängen ist und 54 Sitze erreichte. Auf zweitem Platz liegt mit 47 Sitzen das Fatah Bündnis des Milizenführers Hadi al-Ameri, der eng mit den iranischen Revolutionsgarden verbunden ist (Die Presse 13.5.2018). Die Nasr Allianz des amtierenden Ministerpräsidenten Haider al-Abadi kommt mit 42 Sitzen nur auf den dritten Platz (NZZ 15.5.2018). Die Sitzverteilung stellt sich wie Folgt dar:

Bild kann nicht dargestellt werden

Anschuldigungen von Wahlbetrug in der zwischen Kurden und irakischer Zentralregierung umstrittenen Stadt Kirkuk verzögern die Veröffentlichung der Endergebnisse (The Washington Post 17.5.2018). Laut Wahlkommission belagerten Bewaffnete am Mittwoch, den 16.5.2018, etliche Wahllokale in der Stadt und hielten Mitarbeiter der Wahlkommission in Geiselhaft (Reuters 16.5.2018). Der Gouverneur von Kirkuk sowie der Leiter der Exekutivorgane, Generalmajor Maan al-Saadi, bestritten dies und erklärten, dass die Lage stabil sei und es sich um friedliche und unbewaffnete Proteste um die Wahllokale herumhandle (The Washington Post 17.5.2018; Reuters 16.5.2018).

Eine neue Regierung wurde bislang noch nicht gebildet, da keiner der Wahlblöcke eine Mehrheit erreichte und deshalb Koalitionsverhandlungen geführt werden müssen.

Schiitische Milizen, Rolle des Ex-Premierminister Maliki und Einfluss des Iran

Der noch amtierende Ministerpräsident Abadi hat mit dem Iran-freundlichen Ex-Premierminister Maliki (nunmehr Vize-Premierminister und Vorsitzender der State of Law Coalition, sowie Da'wa-Parteiführer) einen starken Widersacher innerhalb seiner Partei. Ein Problem Abadis ist auch die Macht der schiitischen Milizen - einerseits unverzichtbar für Abadi im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (Standard 5.11.2015), gleichzeitig wird deren Einsatz aber von der sunnitischen Bevölkerung als das "Austreiben des Teufels mit dem Beelzebub" gesehen. Das Vertrauen der sunnitischen Bevölkerung in die schiitisch dominierte Zentralregierung bleibt weiterhin minimal. Der Einsatz dieser Milizen im Kampf gegen den IS wird von Sunniten meist abgelehnt, sie fürchten ein ruchloses Vorgehen der Milizen und dulden daher oft die sunnitischen Extremisten in ihren Gebieten. Berichte zu Übergriffen der schiitischen Milizen konterkarieren die Versuche von Premierminister Haidar al-Abadi, den arabischen Sunniten wieder Vertrauen in den irakischen Staat einzuflößen (ÖB 12.2016). Bezüglich der schiitischen Milizen spielt auch der schiitisch dominierte Iran eine große Rolle, der insgesamt einen großen Einfluss auf den Irak ausübt. An den Schalthebeln der Macht in Bagdad werden selbst hochrangige irakische Kabinettsmitglieder von der iranischen Führung abgesegnet oder "hinauskomplementiert". Dadurch kommt es auch dazu, dass Gesetze verabschiedet werden, wie z. B. jenes vom November 2016, das die schiitischen Milizen effektiv zu einem permanenten Fixum der irakischen Sicherheitskräfte macht (NYTimes 15.7.2017), und sie im Rahmen der Dachorganisation PMF (auch PMU, Popular Mobilisation Forces/Units, Volksmobilisierung, arabisch Al-Hashd al-Shaabi) der irakischen Armee gleichstellt (Harrer 9.12.2016). Diese Integration der schiitischen Milizen in die Regierungskräfte, die von vielen sunnitischen Politikern bekämpft wurde (HRW 16.2.2017), ist mehr formeller Natur, um den äußeren Schein zu wahren. In der Realität gibt es im Irak keine offizielle Instanz (auch nicht die Regierung), die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren (Hiltermann 26.4.2017). Die Eingliederung der Milizen in die irakische Sicherheitsstruktur sichert ihnen einerseits eine Finanzierung durch den Irak, während die [effektive] Kontrolle über einige der mächtigsten Einheiten weiterhin dem Iran obliegt. Dem Iran geht es dabei nicht nur um die weitere Ausbreitung der Kontrolle über irakisches Gebiet, sondern auch darum, einen Korridor zu den Stellvertreterkräften in Syrien und im Libanon zu bilden. Was im März 2017 passierte, nämlich, dass Iran-gestützte schiitische Milizen zum ersten Mal den gesamten Weg westwärts bis zur syrisch-irakischen Grenze vorstoßen konnten, quer durch irakisches, vorwiegend sunnitisches Gebiet, veranschaulicht dieses Vorhaben (ICG 31.5.2017; vgl. NY Times 15.7.2017). Der ehemalige Premierminister Maliki, der sich bereits zu seiner Amtszeit stark in Richtung Iran gelehnt hatte, und der nach Ende seiner Amtszeit weiterhin massiv von der Zusammenarbeit mit dem Iran profitierte, spielt heute auf politischer Ebene in Bezug auf die PMF eine zentrale Rolle. Unter anderem aufgrund der Schwäche des Irakischen Staates, der Dominanz des Irans, sowie ganz besonders aufgrund der Hilfe, die der reguläre irakische Sicherheitsapparat für das Zurückschlagen des IS benötigt(e), blieb Abadi keine andere Wahl, als den PMF-Milizen zu noch weiterem Einfluss zu verhelfen - in Fortsetzung der bezüglich der Milizen vorangetriebenen Legitimierungspolitik Malikis. Die PMF sind somit einerseits eine vom Staat mittlerweile legitimierte und der Armee gleichgestellte Dachorganisation von - fast ausschließlich - schiitischen Milizen, gleichzeitig werden sie aber von nicht-staatlichen Anführern befehligt (Carnegie 28.4.2017). Maliki versucht, an die Spitze der irakischen Politik zurückzukehren, und hat als Verbündete dabei den Iran und "seine" neue Hausmacht, die schiitischen Milizen (Harrer 13.2.2017). Gegen dieses Vorhaben regt sich insbesondere auch im Süden verstärkter Widerstand: Die Anhänger der Sadr-Bewegung [Muqtada al-Sadr: Führer der Sadr-Bewegung, einer politischen Partei, sowie Führer der Saraya al-Salam] wollen mittels Demonstrationen die Hoffnung Malikis auf eine Rückkehr verhindern. Ein innerschiitischer Konflikt zwischen Sadristen und Maliki-Anhängern ist spürbar, auch wenn diesbezügliche militärische Auseinandersetzungen unwahrscheinlich sind (Al Monitor 26.1.2017). Zu solchen Auseinandersetzungen war es zwischen diesen beiden Lagern im Jahr 2008 in Basra gekommen (BBC 12.7.2017).

Die Sadr-Bewegung ist aber auch gegenüber Abadis Regierung kritisch eingestellt. Muqtada al-Sadr stilisiert sich als irakischer Nationalist, der gegen den konfessionell-ethnischen Proporz in der irakischen Politik ankämpft, der jedoch andererseits Abadis Reformen zum Teil sogar blockiert, wie z.B. Abadis Versuch, eine Technokratenregierung aufzustellen. Darüber hinaus führt die Sadr-Bewegung regierungskritische Demonstrationen durch, die - trotz Aufrufs Sadrs, friedlich zu protestieren - außer Kontrolle geraten können und zuletzt im Februar 2017 in Bagdad zur wiederholten Erstürmung der Grünen Zone führten. Die Proteste der Sadr-Bewegung spielen Maliki in die Hände und schwächen Abadi zusätzlich, der in der Schusslinie zwischen Sadr und Maliki steht (Harrer 13.2.2017). In Hinblick auf die Parlamentswahl im Jahr 2018 und einen möglichen Erfolg des pro-iranischen Maliki, näherte sich Premierminister Abadi einer Koalition einflussreicher schiitischer religiöser und politischer Führer (darunter auch besagter Muqtada al-Sadr) an, mit dem Ziel Maliki zu isolieren (IFK 9.6.2017).

Der gemeinsame Gegner IS schweißte 2014 das Land und teilweise auch die Bevölkerung etwas zusammen, doch die Bruchlinien bleiben insbesondere mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS akut: Nicht nur zwischen Schiiten und Sunniten oder innerhalb der schiitischen Kräfte, sondern auch zwischen der KRI (Kurdische Region im Irak) und der Zentralregierung, innerhalb der kurdischen Gruppierungen sowie zwischen de facto allen Mehrheitsbevölkerungen und Religionen und den Minderheiten in ihrem Bereich. Mit zunehmenden Erfolgen gegen den IS gehen auch ein verstärkter Terrorismus, neue humanitäre Herausforderungen und wiederaufflammende Spannungen einher. Eine ethnisch-religiöse Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Die Gefahr eines weiteren Zerfalls des Staates, samt bewaffneten Auseinandersetzungen ist nach wie vor nicht gebannt (ÖB 12.2016). Insbesondere ist auch unklar, ob die vom IS zurückeroberten sunnitischen Gebiete auf eine Weise verwaltet werden, die nicht erneuten Unfrieden und eine erneute Rebellion (unter dem Banner des IS oder einer anderen Organisation) provozieren wird (OA/EASO 2.2017). Die Islamisten genießen im Irak in der Bevölkerung nach wie vor Unterstützung, da sie sich als Beschützer der sunnitischen Gemeinschaft präsentieren. Der IS ist ja ursprünglich vorrangig eine irakische Organisation mit starken lokalen Wurzeln (Stansfield 26.4.2017), und selbst das Zurückschlagen des IS in Mossul vermag es nicht, die schiitisch-sunnitischen Spannungen zu lösen, die das Ergebnis einer mangelnden politischen Übereinkunft sind (USCIRF 26.4.2017). Die Gewalt, der die Sunniten seit der US-geführten Invasion im Irak von Seiten Iran-gestützter Regierungen und Milizen ausgesetzt waren [und sind], hat in der sunnitisch-arabischen Bevölkerung ein tiefgreifendes und gefährliches Gefühl der Viktimisierung bewirkt, das Rekrutierungsbemühungen von Jihadisten in die Hände spielt (ICG 22.3.2017). Die Rolle der internationalen Koalition gegen den IS ist zwiespältig. Während diese sich selbst als unparteiischen Akteur sehen mag (abgesehen vom Kampf gegen den IS), sehen das die irakischen Akteure anders, die die Koalition alleine schon auf Grund der Wahl ihrer Verbündeten als völlig parteiisch ansehen (ICG 31.5.2017).

2. Sicherheitslage

Hintergrund

Nachdem die irakische Armee im Sommer 2014 vorübergehend Auflösungserscheinungen zeigte und dem IS kampflos große Gebiete des Landes überließ (Spiegel 15.6.2014), veröffentlichte der schiitische Religionsführer im Irak, Großayatollah Ali al-Sistani einen Aufruf zur Mobilisierung gegen den IS, infolge dessen sich zahlreiche schiitische Milizen gründeten. Auch ältere schiitische Milizen aus der Zeit der religiös motivierten Gewalt von 2006 gewannen wieder an Einfluss. Mit Unterstützung des Irans konnten diese einen Angriff des IS auf die Hauptstadt verhindern und die Terrororganisation weiter nach Norden zurückdrängen. Seit Ende 2015 forciert Bagdad eine Regierungsoffensive gegen den IS, bei der mit Einsatz von schiitischen Milizen, sunnitischen Stammeskämpfern und Luftunterstützung der USA vorige IS-Hochburgen wie Ramadi und Fallujah zurückerobert werden konnten (ACCORD 12.2016). In den Jahren 2015 und 2016 wurden auch die Städte Tikrit, Hit, Rutba, sowie die Gegend um Sinjar, die sich unter der Kontrolle des IS befunden hatten, zurückerobert (ÖB 12.2016). Der bewaffnete Konflikt ging somit im Jahr 2016 unvermindert weiter (AI 31.12.2016), und mit Stand Dezember 2016 waren bereits 60 Prozent des Gebietes, das im Irak unter Kontrolle des IS stand, zurückerobert (ÖB 12.2016). Laut dem Irakexperten des "Institute for the Study of War", Patrick Martin, hat der IS im Irak mit Stand Juli 2017 nur noch etwa sieben Prozent des ursprünglichen IS-Gebietes unter seiner Kontrolle, gleichzeitig warnt er jedoch davor, den IS zu früh als mögliche weitere Bedrohung abzuschreiben (Daily Star 10.7.2017). Im Zuge der Rückeroberungen werden im Irak immer wieder zahlreiche Massengräber gefunden (Standard 11.5.2017; USDOS 3.3.2017, HRW 16.11.2016). Die Offensive zur Rückeroberung Mossuls startete im Oktober 2016 und am 9. Juli 2017 verkündete Premierminister Abadi (nach fast neun Monaten schwerer Kämpfe und fast einer Million Vertriebener) den erfolgreichen Abschluss derselben (OCHA 13.7.2017).

Im Irak leben ca. 36 Millionen Einwohner, wobei die diesbezüglichen Schätzungen unterschiedlich sind. Die letzte Volkszählung wurde 1997 durchgeführt. Im Gouvernement Bagdad leben ca. 7,6 Millionen Einwohner. Geschätzte 99% der Einwohner sind Moslems, wovon ca. 60%-65% der schiitischen und ca. 32%-37% der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (CIA World Factbook 2014-2015, AA 10.5.2016).

Aktuelle Sicherheitslage

Die Rückeroberung Tal-Afars verzögerte sich zunächst auf Grund der Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen teilnehmenden Akteuren. Vom Iran gestützte schiitische Milizen drängten darauf, eine Rolle bei der Eroberung der Stadt zu spielen, was die Türkei und die USA, sowie auch Premierminister Abadi zu verhindern versuchten. Nachdem Premierminister Abadi am 31. August 2017 die gesamte Provinz Ninewah für vom IS zurückerobert erklärt hatte (Rudaw 31.8.2017), liegt der Focus nun auf den Provinzen Anbar und Kirkuk. Am 21. September 2017 startete die Operation zur Rückeroberung der in der Provinz Kirkuk/Tameem liegenden Stadt Hawija und deren Umgebung (BAMF 25.9.2017). Bei der Operation nehmen irakische Truppen, sowie schiitische Milizen teil, die kurdischen Peschmerga sind derzeit nicht beteiligt (Al-Jazeera 23.9.2017). Das Gebiet liegt jedoch im von den Kurden für sich beanspruchten Gebiet (Al-Jazeera 27.9.2017). Gleichzeitig findet eine Offensive zur Rückeroberung der Provinz Anbar statt, an der die irakischen Sicherheitskräfte, einschließlich Polizeieinheiten und schiitischer PMF-Milizen (PMF: Popular Mobilization Forces) teilnehmen (Al-Monitor 26.9.2017).

Ab dem 3.11.2017 mit Stand 17.11.2017 wurden die drei letzten irakischen Städte, die sich noch unter der Kontrolle des IS befanden, Al-Qaim, Ana und Rawa (alle drei im Westen des Landes) von den irakischen Streitkräften zurückerobert. Laut der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS hat dieser nun 95 Prozent jener irakischen und syrischen Territorien verloren, welches er im Jahr 2014 als Kalifat ausgerufen hatte (Telegraph 17.11.2017; IFK 6.11.2017). Das Wüstengebiet nördlich der drei Städte bleibt vorerst weiterhin IS-Terrain. Die Gebiete rund um Kirkuk und Hawija gehören zu jenen Gebieten, bei denen das Halten des Terrains eine große Herausforderung darstellt. (MEE 16.11.2017; Reuters 5.11.2017; BI 13.11.2017). Es stellt sich auch die Frage, wo sich jene IS-Kämpfer aufhalten, die, nicht getötet wurden oder die nicht in Gefängnissen sitzen (Alleine in Mossul gab es vor der Rückeroberung 40.000 IS-Kämpfer). Viele sind in die Wüste geflohen oder in der Zivilbevölkerung untergetaucht. Es gab es auch umstrittene Arrangements, die den Abzug von IS-Kämpfern und ihren Familien erlaubten. Der IS ist somit nicht verschwunden, nur sein Territorium [mit Einschränkungen s.u.] (Harrer 24.11.2017).

Die folgende Grafik zeigt die massiven Gebietsverluste des IS seit Jänner 2015 (Stand 30.10.2017). Der Wüstenbereich nördlich von Al-Qaim wird je nach Quelle als Wüstengebiet oder als IS-Gebiet eingezeichnet (s. untere Karte) eingezeichnet.

Bild kann nicht dargestellt werden

(BBC 3.11.2017)

Bild kann nicht dargestellt werden

(Liveuamap 17.11.2017, Stand 17.11.2017)

Seit der IS Offensive im Jahr 2014 ist die Zahl der Opfer im Irak nach wie vor nicht auf den Wert der Zeit zwischen 2008 - 2014 zurückgegangen, in der im Anschluss an den konfessionellen Bürgerkrieg 2006-2007 eine Phase relativer Stabilität einsetzte (MRG 10.2017; vgl. IBC 23.11.2017). Von dem Höchstwert von 4.000 zivilen Todesopfern im Juni 2014 ist die Zahl 2016 [nach den Zahlen von Iraq Body Count] auf 1.500 Opfer pro Monat gesunken; dieser

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten