Entscheidungsdatum
06.02.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
G309 2175605-1/12E
Schriftliche Ausfertigung des am 03.01.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Ing. Mag. Franz SANDRIESSER über die Beschwerde des XXXX, geb. am XXXX, StA: Irak, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 29.09.2017, Zl. XXXX, betreffend internationalen Schutz nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.01.2019 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) verließ seinen Herkunftsstaat Irak Anfang September 2015 gemeinsam mit seiner Tante und deren Familie und stellte nach seiner Einreise ins Bundesgebiet am 06.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen am 07.10.2015 gab der BF an, den im Spruch genannten Namen zu führen und Staatsangehöriger des Irak zu sein. Er sei am XXXX in Bagdad, Irak, geboren, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung, ledig sowie kinderlos und habe zuletzt bei seiner Tante in Bagdad, XXXX, XXXX, gelebt.
Zu den Gründen seiner Ausreise sowie den Befürchtungen im Falle einer Rückkehr in den Irak befragt, führte der BF wie folgt aus: "In meinem Land herrscht Krieg. Der Sohn meiner Tante wurde am XXXX.2015 für ca eine Woche entführt. Nach seiner Freilassung wurden wir wiederholt bedroht. Es wurde gedroht, meinen Cousin umzubringen, sollten wir unser Haus nicht verlassen. Wir wurden bedroht weil wir Sunniten sind, die in einem schiitischen Gebiet lebten." und "Ich habe Angst getötet, entführt [zu werden] oder bei einer Explosion umzukommen."
2. Am 02.02.2017 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Regionaldirektion Niederösterreich, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Eingangs bestätigte der BF im Verfahren wahrheitsgemäße Angaben gemacht zu haben und sein bisheriges Vorbringen nicht ergänzen zu wollen. Zur Person und seinen Lebensumständen befragt gab der BF an, dass er in Bagdad geboren, bei seiner Tante aufgewachsen und bei seinen Eltern selten zu Besuch gewesen sei und er in Bagdad - bis zu seiner Ausreise - neun Jahre die Schule besucht habe. Seine Eltern und seine zwei Schwestern leben im Irak.
Den Irak habe er verlassen, da er nachdem sein Cousin entführt worden sei, aus Angst entführt zu werden nicht hinausgehen bzw. nicht in die Schule gehen konnte. In seiner Wohngegend dachten alle, dass er der Sohn seiner Tante bzw. der Bruder seines Cousins sei. Beim Verlassen des Herkunftsstaates habe er sich seiner Tante angeschlossen, da sie seine Kernfamilie sei. Ihr Leben [gemeint: das der Familie] im Irak sei sehr schwierig und hatten sie Angst. Irgendwann kam jemand zum Haus der Familie und sagte, dass ein Cousin des BF, XXXX, getötet werde solle. XXXX sei mit der Familie seiner Frau zerstritten und verließ den Irak ohne seine Frau. Abschließend gab der BF an, dass er nicht mehr im Irak leben könne, da die allgemeine Lage schlecht sei. Der BF sei nicht persönlich bedroht worden und schließe er sich den Asylgründen des Ehemannes seiner Tante an. Bei einer Rückkehr fürchte er sich vor der allgemeinen Lage im Irak. Auf die Frage, ob er bei einer Rückkehr bei seinen Eltern wohnen könne, gab er an, dass er nicht bei seinen Eltern wohnen wolle, es im Irak nicht schön sei und das Leben hier viel besser sei.
3. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid des BFA, dem BF zugestellt am 03.10.2017, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des BF in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das BFA nach Wiedergabe des Fluchtvorbringens des BF in der Erstbefragung und in der Einvernahme sowie den Feststellungen zu dessen Person aus, dass der BF im Irak nicht verfolgt wurde, dass es im Herkunftsstaat zwar zu kriminellen Handlungen gegen seinen Cousin gekommen ist, jedoch keine persönliche Bedrohung des BF stattgefunden hat. In der Beweiswürdigung wird diesbezüglich dargelegt, dass das Vorbringen des BF den Irak wegen der unsicheren Lage verlassen zu haben als glaubhaft angesehen werde. Aus der Entführung seines Cousins könne der BF keine Asylrelevanz ableiten. In rechtlicher Hinsicht folgerte das BFA, der BF habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Dem BF sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da im Irak von keiner gegen den BF gerichteten Bedrohungssituation gesprochen werden könne, und bestehe kein Hinweis auf das Vorliegen "außergewöhnlicher Umstände" (lebensbedrohende Erkrankung oder dergleichen), die eine Abschiebung im Sinne von Art. 3 EMRK und § 50 FPG unzulässig machen könnten. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 sei dem BF nicht zu erteilen. Dem BF sei es zuzumuten sich mit Hilfe der eigenen Arbeitsleistung und gegebenenfalls mit der Unterstützung der Familienangehörigen im Irak den Lebensunterhalt zu sichern.
4. Mit Verfahrensanordnung vom 29.09.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Verfügung gestellt.
5. Mit dem am 17.10.2017 beim BFA eingelangten und mit demselben Datum datierten Schriftsatz erhob der BF Beschwerde gegen den oben angeführten Bescheid. In der Beschwerde wurde nach Darlegung der Beschwerdegründe beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine Beschwerdeverhandlung durchführen, den angefochtenen Bescheid zur Gänze beheben und dem BF Asyl gemäß § 3 AsylG 2005 gewähren; in eventu gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 feststellen, dass dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt; in eventu den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit zur Gänze beheben und an die Behörde zurückzuverweisen; in eventu feststellen, dass die Voraussetzungen für die Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gem. § 57 AsylG 2005 vorliegen und dem BF eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz zu erteilen.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) vom BFA vorgelegt und langten am 07.11.2017 beim BVwG ein.
7. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 20.12.2018 wurden den Verfahrensparteien aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur Lage im Irak zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.
8. Am 02.01.2019 langte eine Stellungnahme des BF beim BVwG ein und wurde darin vorgebracht, dass die Sicherheitslage im Bagdad schlecht und der Sicherheitsapparat sowie die Exekutive schwach seien. In Bagdad käme es immer wieder zu konfessionell bedingter Gewalt, Kidnappings und Entführungen. Hinter Kidnappings und Erpressungen könne auch ein politisches oder religiöses Motiv stehen. Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber habe in Bagdad zugenommen.
9. Am 03.01.2019 führte das BVwG in der Außenstelle Graz eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seiner rechtsfreundlichen Vertretung und eines Dolmetschers für die arabische Sprache durch. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem BF einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand der ihm bereits zuvor übermittelten Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Nach Schluss des Beweisverfahrens wurde das gegenständliche Erkenntnis mündlich verkündet.
10. Mit dem am 03.01.2019 eingebrachten und datierten Schreiben (OZ 11) beantragte der BF durch seine Rechtsvertretung die schriftliche Ausfertigung des am 03.01.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF führt den im Spruch angeführten Namen, ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der arabischen Volksgruppe und Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung. Er wurde am XXXX im Irak geboren und wuchs bei seiner Tante, XXXX, geboren am XXXX, (im Folgenden: Tante des BF) und deren Ehemann, XXXX, geboren am XXXX, auf. Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er spricht arabisch und hat Grundkenntnisse der deutschen Sprache.
Der private und familiäre Lebensmittelpunkt des BF befand sich bis zu seiner Ausreise im Irak. Zuletzt lebte der BF gemeinsam mit der Familie seiner Tante in einem schiitisch-sunnitisch gemischten Viertel in Bagdad (Straße XXXX) in einer im Eigentum seiner Tante stehenden Wohnung. Die Eltern des BF und seine beiden Schwestern lebten ebenfalls in Bagdad. Der BF besuchte in Bagdad neun Jahre die Schule. Zuletzt besuchte er bis zu seiner Ausreise eine Berufsschule für Glaserei.
Der Vater des BF besitzt Geschäfte im Bereich Glaserei und hat der BF in seinem Herkunftsstaat bereits mit seinem Vater zusammengearbeitet. Der BF wurde von seinem Vater für die Arbeit bezahlt und von seiner Tante finanziell unterstützt.
1.2. Nach der Entführung ihres jüngeren Sohnes für einige Tage beschloss die Tante des BF mit ihrer Familie den Irak zu verlassen. Aufgrund seiner emotionalen Verbundenheit zu seiner Tante entschied sich der BF ebenfalls auszureisen.
Am 09.09.2015 verließ der BF den Irak legal von Bagdad ausgehend mit dem Flugzeug in die Türkei und reiste in weiterer Folge nach Österreich, wo er am 06.10.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
1.3. Die Tante des BF kehrte am 07.03.2018 freiwillig in den Irak zurück und lebt wie zuvor in der in ihrem Eigentum stehenden Wohnung in Bagdad. Der Ehemann der Tante des BF kehrte am 13.12.2017 freiwillig in den Irak zurück. Der BF hat mit seiner Tante Kontakt via Telefon und Facebook. Der Tante des BF geht es gut.
Die Eltern des BF und seine beiden Schwestern leben in Bagdad. Zwischen der BF und seinen im Irak lebenden Verwandten besteht aufrechter Kontakt.
1.4. Der BF leidet an keiner schweren oder unmittelbar lebensbedrohlichen Erkrankung. Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Der BF verfügt über eine - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat sowie über familiäre Anknüpfungspunkte und eine hinreichende Versorgung mit Nahrung und Unterkunft.
1.5. Der BF verfügt über irakisches Ausweisdokument im Original (Personalausweis und Staatsbürgerschaftsnachweis).
1.6. Das Vorbringen des BF vor dem BFA (AS 71 ff), in der Beschwerde und der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates sowie zu den Befürchtungen im Fall der Rückkehr, wonach - im Wesentlichen zusammengefasst - er den Irak verlassen habe, da seine Tante, bei der er aufgewachsen sei und an der er stark hänge, den Irak verlassen wollte, nachdem ihr jüngerer Sohn für einige Tage entführt worden sei und der BF seinen Herkunftsstaat daher gemeinsam mit der Familie seiner Tante verlassen habe, wird dieser Entscheidung als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt.
1.7. Der BF war im Irak nicht politisch tätig. Der BF gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der BF in seinem Herkunftsstaat vor der Ausreise Drohungen oder Übergriffen aufgrund seiner sunnitischen Glaubensrichtung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
1.8. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des BF festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.
1.9. Ein konkreter Anlass für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Der BF hatte mit den Behörden des Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses, seiner Volksgruppenzugehörigkeit oder seiner politischen Gesinnung Probleme noch sonst irgendwelche Probleme. Auch sonstige Gründe, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat allenfalls entgegenstehen würden, konnten nicht festgestellt werden.
1.10. Der BF hält sich seit spätestens 06.10.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig ins Bundesgebiet ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel. Der BF ist in Österreich ohne regelmäßige Beschäftigung und verfügt über keine hinreichenden eigenen Mittel zur Sicherung seines Lebensunterhaltes. Der BF bezieht seit der Antragstellung bis dato Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und lebt in einer Pension in Niederösterreich.
Der BF ist alleinstehend und für keine Person im Bundesgebiet sorgepflichtig. Der BF absolvierte in Österreich einen Integrationskurs. Er hat weder einen Deutschkurs besucht noch Prüfungen über Sprachkenntnisse abgelegt.
Der BF hat Freunde im Bundesgebiet. Im Bundesgebiet leben eine Cousine und zwei Cousins des BF.
1.11. Zur aktuellen Lage im Irak werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der gegenüber dem BF offengelegten Quellen getroffen:
1. Politische Lage
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.2.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).
Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005).
Am 02.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).
Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018). Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).
Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018; vgl. IRIS 11.5.2018).
Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).
In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogenannte "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).
Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.2.2018).
Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 9.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschlandauswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf.
Zugriff 12.10.2018
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Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker,
https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html, Zugriff 19.10.2018
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BBC - British Broadcasting Corporation (9.12.2017): Iraq declares war with Islamic State is over, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-42291985. Zugriff 18.10.2018
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BBC - British Broadcasting Corporation (3.10.2018): New Iraq President Barham Saleh names Adel Abdul Mahdi as PM, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-45722528. Zugriff 18.10.2018
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CIA - Central Intelligence Agency (17.10.2018): The World Factbook
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Iraq,
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DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salihas-new-president/a-45733912, Zugriff 18.10.2018
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Fanack (27.9.2018): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and- politics-of-iraq/. Zugriff 17.10.2018
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The Guardian (3.10.2018): Iraqi president names Adel Abdul-Mahdi as next prime minister,
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Der Standard (13.5.2018): Wahlen im Irak: Al-Abadi laut Kreisen in Führung,
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Der Standard (3.10.2018): Neue alte Gesichter für Iraks Topjobs, https://derstandard.at/2000088607743/Neue-alte-Gesichter-fuer-Iraks-Topiobs. Zugriff 19.10.2018
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TA - Tagesanzeiger (12.5.2018): Im Bann des Misstrauens, https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/im-bann-des-misstrauens/storv/29434606, Zugriff 18.10.2018
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UNSC - United Nations Security Council (17.1.2018): Report of the Secretary-General pursuant to resolution 2367 (2017), https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/N1800449.pdf Zugriff 19.10.2018
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WZ - Wiener Zeitung (12.5.2018): Erste Wahl im Irak nach Sieg gegen IS stößt auf wenig Interesse, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/welt/weltpolitik/964399_Erste-Wahl-im-Irak-nach-Sieg-gegen-IS-stoesst-auf-wenig-Interesse.html, Zugriff 23.10.2018
1.1. Parteienlandschaft
Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).
Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018).
Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).
Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).
Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).
Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon, unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fath-Bewegung des Milizenführers Hadi al-Amiri und Haider al-Abadi's Nasr ("Victory")-Allianz (LSE 7.2018).
Bild kann nicht dargestellt werden
Quelle: LSE - London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 2.11.2018
Die Wahl im Mai 2018 war von Vorwürfen von Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug begleitet (Al- Monitor 23.8.2018; vgl. Reuters 24.5.2018, Al Jazeera 6.6.2018). Eine manuelle Nachzählung der Stimmen, die daraufhin angeordnet wurde, ergab jedoch fast keinen Unterschied zu den zunächst verlautbarten Ergebnissen und bestätigte den Sieg von Muqtada al-Sadr (WSJ 9.8.2018; vgl. Reuters 10.8.2018). Die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist neu und jung (WZ 9.10.2018).
Im Prozess zur Designierung des neuen Parlamentssprechers, des Präsidenten und des Premierministers stimmten die Abgeordneten zum ersten Mal individuell und nicht in Blöcken - eine Entwicklung, die einen Bruch mit den üblichen, schwer zu durchbrechenden Loyalitäten entlang parteipolitischer, konfessioneller und ethnischer Linien, darstellt (Arab Weekly 7.10.2018).
Quellen:
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Al Jazeera (6.6.2018): Iraq orders recount of all 11 million votes from May 12 election, https://
www.aljazeera.com/news/2018/06/iraq-orders-recount-11-million-votes-12-election-180606163950024.html. Zugriff 23.10.2018
-
Al-Monitor (23.8.2018): Many Iraqi legislators call for canceling election results, https://www.almonitor.com/pulse/originals/2018/05/iraq-election-fraud.html. Zugriff 23.10.2018
-
The Arab Weekly (7.10.2018): Room for optimism in Iraq under new leadership,
https://thearabweekly.com/room-optimism-iraq-under-new-leadership. Zugriff 23.10.2018
-
BP - Baghdad Post (17.12.2017): All Shia political parties have armed militias - Nujaba,
https://www.thebaghdadpost.com/en/Storv/21086/All-Shia-political-parties-have-armed-militias-Nujaba. Zugriff 22.10.2018
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CGP - Center for Global Policy (4.2018): The Role of Iraq's Shiite Militias in the 2018 Elections, https://www.cgpolicy.org/wp-content/uploads/2018/04/Mustafa-Gurbuz-Policy-Brief.pdf, Zugriff 22.10.2018
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Fanack (27.9.2018): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and- politics-of-iraq/. Zugriff 17.10.2018
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The Guardian (12.5.2018): Martyr or master? Future of anti-Isis militias splits Iraq ahead of elections, https://www.theguardian.com/world/2018/may/12/iraq-elections-become-battleground-iranian-influence, Zugriff 22.10.2018
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HoC - House of Commons (12.6.2018): Briefing paper: Iraq and the 2018 election,
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