Entscheidungsdatum
08.04.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2172323-2/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.03.2018, Zahl 1083193610-151122263, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.01.2019 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben aus Ungarn kommend am 18.08.2015 irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am folgenden Tag, nachdem er zunächst durch die Polizeiinspektion (PI) Traiskirchen, Erstaufnahmestelle (EAST), vorläufig festgenommen worden war, einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass der BF am 03.08.2015 im Zuge der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in Debrecen (Ungarn) erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.2. In seiner Erstbefragung am 19.08.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der PI Traiskirchen, EAST, gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem, am XXXX geboren und wisse nicht, aus welcher Provinz in Afghanistan er stamme. Seine Großmutter habe ihn, als er ca. vier oder fünf Jahre alt gewesen sei, gemeinsam mit seinem Bruder und seinem Cousin in den Iran gebracht, wo er in Mashhad aufgewachsen sei. Sein Vater sei seit unbekannter Zeit verschollen, die Adresse seiner Mutter sei unbekannt. Sein 14-jähriger Bruder lebe im Iran.
Den Iran hätte er vor ca. zwei Monaten verlassen und sei schlepperunterstützt über Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Ungarn gebracht worden, wo er von der Polizei aufgegriffen worden sei und ca. zehn Tage in einem Camp verbracht hätte. Gestern sei er selbständig mit einem Reisezug von Budapest über Györ nach Wien gereist und mit einem anderen Zug weiter in dieses Lager gefahren. Auch in Griechenland sei er von der Polizei aufgegriffen worden.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass sein Großvater und sein Vater in Afghanistan eine Feindschaft gehabt hätten. Worum es dabei gegangen sei, könne er nicht sagen, aber sie seien aus diesem Grund in den Iran gezogen. Den Iran hätte er verlassen, weil die iranischen Behörden vorgehabt hätten, ihn in den Krieg nach Syrien zu schicken. Außerdem hätte er im Iran illegal gelebt, daher sei das Leben für ihn sehr schwer gewesen. In Afghanistan habe er niemanden, außerdem gebe es dort die Taliban.
1.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) führte aufgrund der Angaben des BF und des EURODAC-Treffers Konsultationen gemäß Dublin-Übereinkommen mit dem Mitgliedstaat Ungarn bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF, die offenbar - trotz einer schriftlichen Rückübernahmezusage Ungarns vom 16.12.2015 - negativ verliefen.
Der BF wurde offenbar am 31.05.2016 aufgrund Ablaufs der Überstellungsfrist zum materiellen Asylverfahren in Österreich zugelassen.
1.4. Das BFA hatte offenbar Zweifel an dem vom BF angegebenen Geburtsdatum (im Akt liegen ein Schreiben von XXXX vom 10.09.2015, "Bestimmung des Knochenalters", Ergebnis: "GP 31, Schmeling 4", sowie ein Aktenvermerk des BFA mit ausgefülltem Formularvordruck "Indikatoren für Altersfeststellung" ein).
Lautdem vom BFA eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten vom 30.11.2015 nach einer multifaktoriellen Untersuchung am 11.11.2015 (Anamnese, körperliche Untersuchung und radiologische Bildgebung - Zahnstatus, Handröntgen und Schlüsselbein-CT) mit fachärztlicher Befundung war das vom BF angegebene Geburtsdatum XXXX mit dem erhobenen Befund nicht vereinbar.
Aus diesem Gutachten ergab sich ein Mindestalter zum Untersuchungszeitpunkt von 21,6 Jahren sowie ein spätestmögliches fiktives Geburtsdatum XXXX .
1.5. Bei seiner Einvernahme am 09.08.2017 vor dem BFA, Regionaldirektion Steiermark, Außenstelle Graz, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, gab der BF von Beginn an an, er sei im Iran aufgewachsen und der Sprache Dari nicht mächtig. Er wolle in der Sprache Farsi einvernommen werden.
Laut Niederschrift gab der Dolmetscher an, er verstehe den BF sehr gut und könne auch keine iranischen Merkmale in dessen Ausdrucksweise erkennen. Laut Niederschrift übersetzte der Dolmetscher nunmehr in die Sprache Farsi.
Der einvernehmende Organwalter des BFA forderte den BF mehrmals auf, die an ihn gestellten Fragen zu beantworten, woraufhin der BF dabei blieb, er verstehe den Dolmetsch nur schwer, und sich weigerte, inhaltliche Angaben zu machen. Er ersuche, einen iranischen Dolmetscher zu bestellen. Der anwesende Dolmetscher verstehe seinen Akzent nicht.
Der Organwalter des BFA brach schließlich die Einvernahme ab, der BF unterfertigte die Niederschrift.
1.6. Mit offenbar von der UMA-Rechtliche Vertretung von unbegleiteten minderjährigen Asylwerbern, Caritas der Diözese Graz-Seckau, erstelltem und am 29.08.2017 per E-Mail eingebrachtem Schreiben stellte der BF einen Antrag auf neuerliche Einvernahme.
Der BF wiederholte, dass er seit Kindesalter im Iran gelebt hätte und daher Farsi und nicht Dari spreche. Die Muttersprache des bei der Einvernahme am 09.08.2017 anwesenden Dolmetschers sei Paschtu. In der Niederschrift über die vorgenommene Einvernahme des BF sei auf Seite 1 festgehalten, dass der Dolmetscher für die Sprache Dari bestellt und beeidet worden sei. Der plötzliche Wechsel innerhalb der Einvernahme auf die Sprache Farsi sei nicht nachvollziehbar und sei der Dolmetscher dieser Sprache auch nicht mächtig gewesen. Es reiche nicht aus, dass der BF seitens des Dolmetschers verstanden werde, wie auf Seite 3 der Niederschrift ausgeführt, sondern es müsse die beiderseitige uneingeschränkte Verständigung gegeben sei.
Der BF habe nicht seine Mitwirkungspflicht verletzen und für Schwierigkeiten sorgen wollen, sondern bitte um Beiziehung eines Farsi-Dolmetschers für eine neuerliche Einvernahme vor dem BFA.
1.7. Mit Bescheid vom 14.09.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 19.08.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1a bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV.). In Spruchpunkt V. wurde einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 Abs. 1 Z 4 (AsylG) die aufschiebende Wirkung aberkannt.
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, der BF habe entgegen seiner Mitwirkungspflicht die Möglichkeit, ein allfälliges Fluchtvorbringen in seiner Einvernahme vorzubringen, nicht wahrgenommen.
Seine Einwände gegen den Dolmetscher seien haltlos gewesen, zumal dieser in zahlreichen anderen Einvernahmen problemlos sowohl in Dari als auch in Farsi übersetzt habe und der BF auch in seiner Erstbefragung in Dari befragt worden sei. Auch die vom BF gemachten Angaben zu seinem Alter, die eindeutig und zweifelsfrei durch ein medizinisches Sachverständigengutachten widerlegt worden seien, seien ein massiver Indikator für die persönliche Unglaubwürdigkeit des BF im Verfahren.
Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Ein Fluchtvorbringen habe der BF - entgegen seiner Mitwirkungspflicht - in unbegründeter Ablehnung des Dolmetschers bei seiner Einvernahme nicht erstattet.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht gegeben sei - wobei aber nicht ausgeführt wurde, in welche Herkunftsregion der BF zurückkehren könnte.
In eventu bestehe für den BF eine innerstaatliche Fluchtalternative für Kabul bzw. Herat, da es sich bei ihm um einen arbeitsfähigen jungen Mann handle, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Er sei mindestens vier Jahre zur Schule gegangen und danach als Hilfsarbeiter tätig gewesen.
Dass keine Frist für die freiwillige Ausreise des BF festgelegt worden sei, ergebe sich daraus, dass im vorliegenden Fall einer Beschwerde gegen diesen Bescheid gemäß § 18 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt worden sei.
Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung begründete das BFA mit dem Vorliegen des § 18 Abs. 1 Z 4. Der BF habe Verfolgungsgründe nicht vorgebracht. Zudem stehe für die Behörde fest, dass für den BF bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Menschenrechtsverletzung gegeben sei.
1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF fristgerecht und vollumfänglich das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen "unschlüssiger Beweiswürdigung/rechtlicher Beurteilung und in Folge dessen, mangelhaftem Ermittlungsverfahren" ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Erstbehörde in Missachtung ihrer amtswegigen Ermittlungspflicht nicht hinreichend auf das individuelle Vorbringen eingegangen sei. Die Ablehnung des Dolmetschers (mit Muttersprache Paschtu) durch den BF bei seiner Einvernahme mit der Begründung, dass der BF aufgrund seines Aufwachsens im Iran Farsi und nicht Dari spreche, sei voreilig als Verletzung seiner Mitwirkungspflicht angesehen und die Einvernahme zu früh abgebrochen worden, weshalb der BF seine Fluchtgründe nicht ergänzend hätte ausführen können.
Dem BF, der ab seinem fünften Lebensjahr im Iran gelebt hätte, stehe eine zumutbare innerstaatliche Schutzalternative (§ 8 Abs. 3 in Verbindung mit § 11 AsylG), etwa in der Hauptstadt Kabul oder anderen Provinzen, mangels eines sozialen oder familiären Netzwerkes auch nicht zur Verfügung. Er habe keinerlei Bezug zu seinem Herkunftsstaat Afghanistan und würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt sein, welche unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des BF und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Versorgungsbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde. Es ihm Asyl, jedenfalls aber subsidiärer Schutz zu gewähren.
1.9. Mit Beschluss vom 06.10.2017, Zahl W191 2172323-1/3Z, erkannte das BVwG dieser Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nach der dem BVwG zum derzeitigen Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung stehenden Aktenlage bei einer Zurück- bzw. Abschiebung des BF nach Afghanistan nach Durchführung einer Grobprüfung eine Verletzung der Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes für ihn als Zivilperson aufgrund der besonderen Gegebenheiten im konkreten Fall angesichts der kurzen Entscheidungsfrist nicht mit der in diesem Zusammenhang erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden könne.
1.10. Mit Beschluss vom 20.10.2017, W191 2172323-1/4E, behob das BVwG den Bescheid vom 14.09.2017 gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück.
In der Beschlussbegründung führte das BVwG unter anderem aus:
"[...] 2.2.3.1. Das gegenständliche Verwaltungsverfahren wurde jedoch schon in folgendem wesentlichen Punkt mangelhaft geführt und weist somit relevante Mängel auf:
Der BF hat angegeben, er habe ab dem fünften Lebensjahr im Iran gelebt und sei dort aufgewachsen und sozialisiert worden. Er beherrsche daher seine Muttersprache Dari nur mehr wenig, sondern spreche vielmehr die im Iran gebräuchliche Form dieser Sprache, Farsi. Er ersuchte bei seiner Einvernahme vor dem BFA von Beginn an, einen anderen Dolmetscher beizuziehen, da er mit dem anwesenden Dolmetscher große Verständigungsprobleme hätte.
Die belangte Behörde bewertete dieses Vorbringen als haltlos, hielt fest, dass aus der Sicht des Dolmetschers keine Verständigungsprobleme bestünden, und führte die Einvernahme mit diesem Dolmetscher fort, brach sie jedoch nach kurzer Zeit ab, da sich der BF weigerte, weitere Angaben zu machen, da er Verständigungsprobleme mit dem Dolmetscher habe.
Das BFA wertete dieses Verhalten sogar so, dass der BF seine Mitwirkungspflichten verletzt und keinerlei Verfolgungsvorbringen erstattet habe, und erkannte aus diesem Grund sogar anlässlich der Erlassung des erstbehördlichen negativen Bescheides einer allfällig dagegen eingebrachten Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab.
Der BF brachte in seiner Beschwerde vor, dass der Dolmetsch muttersprachlich ein Paschtu-Sprecher sei, was seine Verständigungsprobleme noch unterstreiche.
2.2.3.2. § 39a AVG samt Überschrift lautet: [...]
2.2.3.3. Die Beiziehung eines nichtamtlichen Dolmetschers, der zudem nicht allgemein gerichtlich beeidet war, war somit grundsätzlich zulässig.
Der BF hat jedoch konsistent und von Beginn an deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er mit dem beigezogenen Dolmetscher schwerwiegende Verständigungsprobleme hat. Der Umstand, dass es sich dabei um einen Dolmetscher mit der Muttersprache Paschtu handelte, für den die Sprachen Dari wie auch Farsi somit weitere erlernte Sprachen sind, wären dabei genauso zu beachten wie der Umstand, dass der BF im Iran aufgewachsen und sozialisiert worden ist, was für den beigezogenen Dolmetscher nicht gilt.
Die belangte Behörde hätte daher begründete Zweifel an der guten Verständigung zwischen Dolmetscher und dem BF haben und dem Ersuchen des BF folgen und einen anderen Dolmetscher mit tieferen Sprachkenntnissen zu Farsi bzw. einer besseren Verständigung mit dem BF beiziehen müssen, und hat das durchgeführte Verwaltungsverfahren ohne diese Vorgangsweise daher mit einem erheblichen Mangel belastet. [...]
2.2.3.3. Angemerkt wird noch, dass der Verwaltungsakt nicht durchgehend chronologisch geordnet ist, mehrere Aktenbestandteile doppelt und mehrfach enthält, Umstände wie die Zulassung zum materiellen Verfahren (und Nichterlassung einer Dublin-Zurückweisung) nicht leicht nachvollziehbar sind, und der gesamte Akt unnummeriert vorgelegt worden ist, was die leichte Lesbarkeit des Aktes und Nachvollziehbarkeit des Verfahrens erheblich erschwerte.
2.2.4. Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BFA in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen ist und die Sachlage nicht ausreichend erhoben hat. [...]
2.2.5. Im fortgesetzten Verfahren wird das BFA die dargestellten Mängel zu verbessern und in Wahrung des Grundsatzes des Parteiengehörs dem BF die Ermittlungsergebnisse zur Kenntnis zu bringen haben. [...]"
1.11. Bei seiner Einvernahme im fortgesetzten Verfahren am 04.12.2017 vor dem BFA, Regionaldirektion Steiermark, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Farsi, gab der BF im Wesentlichen Folgendes an:
Er habe im Alter von ca. sieben oder acht Jahren mit seiner Mutter und weiteren Verwandten nach Mashhad (Iran) flüchten müssen. Dort habe er einige Jahre eine afghanische Abendschule besucht und als Hilfsarbeiter in einer Schneiderei und als Tagelöhner gearbeitet. Den Iran habe er verlassen, weil er dort über keinen Aufenthaltstitel verfügt hätte und in Gefahr gewesen sei, nach Syrien in den Krieg geschickt zu werden.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan sei er in Lebensgefahr, weil - wie er mit vorgelegten (vom BFA nicht übersetzten bzw. geprüften) Schriftstücken belegte - sein Großvater (Mod) XXXX als exponiertes Mitglied der Partei Hezb-e Wahdat Islam zunächst aktiven Widerstand gegen das kommunistische Regime geleistet habe und dann am (umgerechnet) 24.07.1999 im Distrikt La'l wa Sar (auch Lalsar) Jangal (Provinz Ghur, auch Ghor) getötet worden sei. Die Mörder des Großvaters waren laut den vorgelegten Unterlagen (Anzeige des Onkels des BF an die Generalstaatsanwaltschaft von Afghanistan) vier Funktionsträger in der Provinz Ghor. Diese Personen seien nach wie vor mächtig und einflussreich.
Ein Sohn des Großvaters und Vater des BF, XXXX , sei seitdem vermisst.
Ein weiterer Sohn seines Großvaters, sein Onkel XXXX , sei mehrmals bedroht worden und habe daher im Jahr 2006 um die Ausstellung eines Waffenscheines für eine Kalaschnikow angesucht, was ihm gewährt worden sei.
Dem BF wurde angeboten, "die aktuellen Feststellungen des BFA" sein Heimatland betreffend übersetzt zu bekommen bzw. sie in Kopie mitzunehmen und eine schriftliche Stellungnahme dazu abzugeben, worauf er verzichtete.
1.12. Mit - gegenständlich angefochtenem - Bescheid vom 01.03.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 15.08.2015 neuerlich gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen seine Abschiebung nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Seine Fluchtgeschichte habe der BF nicht hinreichend glaubhaft machen können, insbesondere da kein hinreichender Zusammenhang zwischen seiner Person und den in den vorgelegten Beweismitteln genannten Personen festgestellt habe werden können.
1.13. Auch gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines damals zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 22.03.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen "Rechtswidrigkeit seines Inhalts, sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, insbesondere wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens" ein.
In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass das BFA die vom BF vorgelegten Schriftstücke weder überprüft, noch Feststellungen dazu getroffen habe.
Bei einer Rückkehr sei der BF als Zugehöriger zur sozialen Gruppe der Familie seines Großvaters bzw. seines Vaters in ganz Afghanistan in Lebensgefahr.
Die schon in der Einvernahme des BF vorgelegten Belege für sein Vorbringen waren auch der Beschwerde wieder beigelegt.
1.14. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt ohne Übersetzung der vorgelegten Schriftstücke vor, beantragte nicht, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen, und verzichtete "aus dienstlichen und personellen Gründen" auf die Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
1.15. Das BVwG veranlasste die Übersetzung der vorgelegten Beweismittel.
Dieser Übersetzung zufolge handelt es sich dabei um eine Biografie/Lebenslauf des ermordeten Großvaters sowie um Anzeigen des Onkels des BF an die Generalstaatsanwaltschaft von Afghanistan bzw. um Bearbeitung derselben durch dortige Sachbearbeiter.
1.16. Das BVwG führte am 28.01.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF persönlich im Beisein seiner nunmehrigen Vertreterin und zweier Vertrauenspersonen erschien.
Mit vorbereitendem Schriftsatz für diese Verhandlung legte die Vertreterin des BF unter anderem einen "Lebenslauf" des BF vor, in dem dieser sein bisheriges Vorbringen zusammengefasst wiederholte und angab, dass sein Großvater von innerparteilichen feindlichen Personen und Gruppen getötet worden sei. Seine Familie werde weiter von ihnen bedroht. Kurz nach ihrer Flucht habe seine Mutter die Familie verlassen und er wisse bis heute nicht, ob sie noch lebe und wo sie sich aufhalte. Auch sein Onkel sei abgängig.
Der Grund für die Tötung des Großvaters sei gewesen, dass er als Chef der Islamischen Bewegung der Provinz Ghor damals, als die Taliban im Begriff gewesen seien, die Provinz anzugreifen, bereit gewesen sei, mit ihnen zu verhandeln, um Blutvergießen zu vermeiden. Seine Gegner hätten ihn daher im Jahr 1999 auf offener Straße ermordet.
In der Verhandlung gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Ich bin ein Afghane, meine Muttersprache ist daher Dari. Wir sprechen untereinander Hazaragi (Anmerkung eine Art Dialekt des Dari). Aufgrund meines fast lebenslangen Aufenthaltes im Iran spreche ich aber besser Farsi. Hier in Österreich habe ich vermehrt Kontakt zu anderen Afghanen bekommen und daher auch wieder Dari verstehen gelernt.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Dari bzw. Farsi.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe.
BF: Bislang ja.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja, derzeit geht es mir gut.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Nein, ich bin noch nicht beim Arzt gewesen. Nur vor ca. sieben Monaten habe ich mir die linke Schulter gebrochen und war deswegen in Behandlung.
VP1 [Vertrauensperson1]: Ich habe gelesen, dass er sich auch das Nasenbein gebrochen hat.
[...]
Der BF hat im Verfahren vor der Erstbehörde folgende Belege vorgelegt (sie wurden auf gerichtliche Veranlassung übersetzt; Anmerkung: Der Vertreter des BF hat mit Eingabe vom 23.01.2019 diese Belege noch einmal, diesmal mit vom BF veranlassten Übersetzungen, vorgelegt):
Eine Abgängigkeitsmeldung betreffend seinen angegebenen Vater XXXX vom 10.22.1384 ([Anmerkung: richtig: 23.11.1384], umgerechnet 30.01.2006), eine Todesanzeige/-meldung betreffend seinen angegebenen Großvater XXXX vom 12.03.1388, eine Zeugenbestätigung betreffend den Tod des Großvaters vom 11.11.1384, eine diesbezügliches nicht zuordenbares Referenzschreiben, eine Anzeigenbestätigung an das afghanische Parlament vom 12.12.1386 sowie des Distrikts Lalsar Jangal vom 19.12.1386, ein Antrag auf Waffenbesitz seines angegebenen Onkels XXXX vom 20.08.1387 sowie Integrationsbelege.
Heute legt der BF weiters vor:
Ein Empfehlungsschreiben der beiden anwesenden VP, sowie einen vom BF verfassten Lebenslauf, die zum Akt genommen werden.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Der Name ist richtig, mein Geburtsdatum ist der XXXX (umgerechnet XXXX ).
RI: Woher wissen Sie Ihr Geburtsdatum?
BF: Üblicherweise schreiben Afghanen ihr Geburtsdatum in ein Buch.
RI wiederholt Frage.
BF: Meine Großmutter hat mir mein Geburtsdatum gesagt, wie Sie selber gesagt haben, stand es auf der letzten Seite im Koran geschrieben.
RI: Wer hat es dort hingeschrieben, Ihre Mutter?
BF: Diese habe ich nicht gefragt, meine Mutter hat uns bereits verlassen, als ich ca. acht oder neun Jahre alt war. Ich war damals im Iran.
RI: Was heißt, sie hat Sie verlassen?
BF: Sie ging weg. Niemand weiß, wohin.
RI: Seit wann ist Ihr Vater verschollen?
BF: Seit ca. 19 oder 20 Jahren, ca. vier Monate, nachdem mein Großvater getötet worden ist. Ich bin mit meiner Mutter, meiner Großmutter, meinem jüngeren Bruder und einem Cousin ca. sechs oder sieben Jahre danach in den Iran gegangen.
RI hält dem BF das erstattete Sachverständigengutachten zur Alterschätzung vor.
BF: Ich kann mein Geburtsdatum nicht belegen, nehmen Sie, was Sie für richtig halten.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Hazara.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Schiitischer Moslem.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Nein.
RI: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?
BF: Nein.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF: Ich habe etwa ab dem 9. Lebensjahr vier oder fünf Jahre eine illegale afghanische Schule im Iran (Mashhad) besucht. Dann habe ich ca. zwei bis drei Jahre lang wie alle Afghanen im Iran als Hilfsarbeiter (etwa auf Baustellen) gearbeitet und bin dann nach Europa gereist.
RI: Warum sind Sie nach Europa gereist?
BF: Im Iran hatte ich Probleme, im Iran haben alle Afghanen Probleme und zwar mit der iranischen Regierung. Man wurde in den Kampf nach Syrien geschickt.
RI: Auch 16-jährige?
BF: Auch 15-jährige wurden in den Krieg geschickt, ich habe es selber gesehen. Einer meiner Freunde wurde in den Krieg geschickt, er wurde dort verletzt, er wurde von einer Kugel im Gesicht getroffen. Ein anderer wurde getötet, seine Hände wurden geschnitten und sein Leichnam wurde an seine Familie geschickt.
RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen? Mit wem haben Sie gelebt?
BF: Mit meiner Großmutter und mit meinem jüngeren Bruder habe ich dort gelebt.
RI: Geben Sie bitte soweit wie möglich chronologisch an, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
BF: Ich bin mit ca. sieben/acht Jahren aus Afghanistan in den Iran gezogen. Die Angabe zu Beginn des Verfahrens stimmt nicht.
RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
BF: In Mashhad leben meine Großmutter, mein jüngerer Bruder sowie Verwandte meines Vaters (Onkeln, Tanten).
RI: Und da könnten Sie sich keine Belege bezüglich Ihrer Identität oder Ihres Fluchtvorbringens nachschicken lassen?
BF: Ja, das könnte ich schon. Ich habe bisher nicht gewusst, dass ich dies tun könnte.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein, aber ich habe afghanische Freunde und Bekannte aus dem Iran in Europa.
RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?
BF: Ja, ich habe viele Freunde.
VP1: Der BF lebt seit Dezember 2018 in einer unserer Mietwohnungen. Wir kennen ihn über einen Verein in XXXX schon etwas länger.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ich verstehe das meiste, was Sie sagen.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen großteils verstanden und halbwegs auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich bin seit drei Jahren in einem Deutschkurs. Prüfung habe ich noch keine abgelegt, aber ich bereite mich derzeit für die Prüfung A2 vor.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?
BF: Derzeit besuche ich einen Deutschkurs, davor hatte ich keine Möglichkeiten, Deutschkurse zu besuchen. Manchmal habe ich Fußball und Tennis gespielt, ich spiele noch immer Fußball.
Die Verhandlung wird um 11:15 Uhr kurz unterbrochen und um 11:20 Uhr fortgesetzt.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein. Ich habe einmal wegen eines Streites im Wohnheim eine Geldstrafe von 120 € in Raten zahlen müssen.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Manchmal kontaktiert mich mein 19-jähriger Bruder über WhatsApp.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint? Sie haben dafür nun ausreichend Zeit und auch die Gelegenheit, allfällige Beweismittel vorzulegen.
BF: Ja.
RI: Warum sind Sie persönlich in Gefahr?
BF: Mein Großvater kämpfte gegen die Taliban, sie forderten ihn auf, mit ihnen an einem Tisch zu verhandeln, sonst würden sie in der Provinz Ghor einmarschieren. Die in meinen Belegen angeführten Personen haben meinem Großvater Verrat vorgeworfen und haben ihn deshalb getötet. Mein Vater ist vier Monate später auf dem Weg von Herat nach Ghor verschwunden. Meine Familie gehörte zur Partei Harakat Islami. Aufgrund des Vorwurfes gegen den Großvater wollten unsere Feinde die ganze Familie umbringen.
RI: Das geschah vor 19 Jahren.
BF: Ich bin ein Jahr vor dem Tod meines Großvaters geboren worden.
RI: Wenn Sie jetzt beispielsweise nach Herat zurückkehren würden, wer würde Ihnen nach dem Leben trachten?
BF: Die Mitglieder aller Parteien, die damals gegen die Taliban gekämpft haben, würden mich in Afghanistan verfolgen, diese Parteien sind an der Regierung beteiligt, sie haben auch ihre Büros in Herat.
RI: Wie würden diese Personen Sie erkennen?
BF: Ich trage einen Namen, auch den Namen meines Vaters, ich bin der Sohn meines Vaters, sie könnten mich durch meine Daten ausfindig machen.
RI: Woher haben Sie diese Belege alle?
BF: Diese Bestätigungen waren alle zuhause bei uns, meine Großmutter hatte sie.
RI: Sie haben mehrere Belege vorgelegt, wie können Sie das nachvollziehbar machen, dass dies Sie betrifft?
BF: Der Cousin meines Vaters mütterlicherseits befindet sich in der Türkei, er war im Iran, meine Großmutter hat diese vorgelegten Dokumente ihm in die Hand gegeben, er sollte das per Post an mich schicken.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV [Vertreterin des BF] Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihr die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
BFV: Ich habe keine Fragen und beziehe mich auf die von meinem Kollegen eingebrachte Stellungnahme vom 23.01.2019.
Dem BF wird eine Frist von - drei Monaten - zur Vorlage ergänzender Belege dafür, dass sich die von ihm bisher vorgelegten Schriftstücke auf ihn beziehen, eingeräumt.
RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BFV, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht. [...]"
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.17. Mit ergänzender Eingabe seiner Vertreterin vom 07. bzw. 15.03.2019 legte der BF unterschriebene, beglaubigte und übersetzte Aussagen von Großmutter, Großonkel und zwei Schwestern (Mashhad) vor, in denen diese die wesentlichen Angaben des BF im Verfahren - abgesehen von kleineren Differenzen in Datumsangaben (das - umzurechnende - Todesdatum des Großvaters differiert um einige Monate im selben Jahr vor ca. 20 Jahren) - bestätigen.
Auch diese Eingabe wurde dem BFA übermittelt, das keine Stellungnahme abgab.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 19.08.2017 und der Einvernahmen vor dem BFA am 09.08.2017 und im fortgesetzten Verfahren am 04.12.2017, sowie die gegenständliche Beschwerde vom 22.03.2018 samt folgenden dazu vorgelegten Beweismitteln zu seinem Fluchtvorbringen:
o Bericht des Vorsitzenden der Anhörungskommission an das Parlament der Islamischen Republik Afghanistan vom 02.05.2009
o Bestätigung des Vorsitzenden des Rates der Islamischen Bewegung Afghanistans vom 31.01.2006
o Beschwerdeantrag von XXXX (Onkel des BF) vom 02.03.2008
o Bestätigung des Leiters des Amtes für Märtyrer und Kriegsversehrte vom 30.01.2006
o Antrag auf Erkundigung an die Direktion der Abteilung für Terrorbekämpfung
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 379 bis 474)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 28.01.2019 sowie Einsicht in die in der Verhandlung vorgelegten Empfehlungsschreiben seiner Vertrauenspersonen
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat und in der Provinz Ghor sowie über die Lage der Minderheit der Hazara (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 08.01.2019) sowie
o Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann.
* Einsichtnahme in folgende vom BF ergänzend vorgelegte Beweismittel:
o Unterschriebene, beglaubigte und übersetzte Aussagen von Großmutter, Großonkel und zwei Schwestern (Mashhad) vom Februar 2019
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Das BVwG geht auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen, glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht aufgrund seines fast lebenslangen Aufenthaltes im Iran besser Farsi.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF wurde im Distrikt Lalsar Jangal, Provinz Ghor (auch Ghur) geboren und musste im Kindesalter mit seiner Mutter, seiner Großmutter, seinem jüngeren Bruder und einem Cousin in den Iran flüchten, wo er in Mashhad aufwuchs, eine afghanische Abendschule besuchte und als Hilfsarbeiter arbeitete.
3.1.3. Der BF verließ den Iran, weil er in Gefahr war, für den Krieg nach Syrien rekrutiert zu werden.
3.1.4. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und bemüht sich um seine Integration in Österreich.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der Großvater des BF, XXXX , war Chef der Islamischen Bewegung der Provinz Ghur. Als die Taliban im Jahr 1999 im Begriff waren, die Provinz anzugreifen, war er bereit, mit ihnen zu verhandeln, um Blutvergießen zu vermeiden. Seine innerparteilichen Gegner haben ihn daraufhin auf offener Straße getötet. Der Vater des BF sei seither abgängig. Auch sein Onkel, ein weiterer Sohn des Großvaters, der zunächst noch Eingaben an die Behörden machte, um wegen Bedrohungen Waffen tragen zu dürfen, wurde nach einigen Jahren vermisst.
Die Mutter des BF, die zunächst mit der Familie nach Mashhad gegangen war, verließ diese dann wieder. Der BF weiß nicht, ob bzw. wo sie lebt.
3.2.2. Im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchtet der BF, auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Familie seines Großvaters bzw. Vaters verfolgt und getötet zu werden.
3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 26.03.2019, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei