TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/19 W182 2216990-1

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Veröffentlicht am 19.04.2019
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Entscheidungsdatum

19.04.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W182 2216988-1/4E

W182 2216989-1/4E

W182 2216987-1/4E

W182 2216990-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX ,

3.) XXXX , geb. XXXX und 4.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.03.2019, Zlen. ad 1.) 1102821900 - 171149760 /

BMI-BFA_WIEN_AST_01, ad 2.) 1102830104 - 180249046 /

BMI-BFA_WIEN_AST_01, ad 3.) 1102830202 - 180249038 / BMI-BFA_WIEN_AST_01 und ad 4.) 1143919709 - 180249054/ BMI-BFA_WIEN_AST_01, nach § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I. Nr. 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführenden Parteien, eine Mutter und ihre drei Kinder im Alter von XXXX , XXXX und XXXX Jahren (im Folgenden BF), sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, sind Muslime und haben im Herkunftsland in einer Stadt im XXXX gelebt. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) reiste zusammen mit ihrer älteren Tochter (im Folgenden: BF2) und ihrem Sohn (im Folgenden: BF3) im Jänner 2016 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte hier für sich und ihre Kinder am 19.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 20.01.2016 gab die BF1 zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass sie nach Österreich wolle, weil ihr Verlobter hier leben würde, den sie heiraten wolle. Nachdem ihr Ex-Gatte, von dem sie geschieden sei, Alkoholiker sei, habe sie beschlossen, noch einmal zu heiraten. Ihr Ex-Gatte habe ihr angedroht, ihr im Falle einer neuen Verehelichung die Kinder wegzunehmen bzw. sie umzubringen. Deshalb sei sie mit ihren Kindern nach Österreich gekommen. Im Zuge ihrer Reise habe sie aber in Polen um Asyl ansuchen müssen, ansonsten sie nicht nach Österreich hätte kommen können. Sie wolle nicht nach Polen zurück; die Menschen seien dort grob mit ihnen umgegangen. Sie hätten die BF1 gezwungen, ihr Kopftuch abzulegen. Die BF haben das Herkunftsland Ende November 2015 verlassen.

Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) vom 09.04.2016, Zlen 1102821900-160098765, 1102830104-160098779 und 1102830202-160098787, wurden die Anträge der BF1 und BF2 sowie des BF3 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Polen für die Prüfung der Anträge gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. c zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen sie gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Polen gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.06.2016, Zlen W153 2126748-1/3E, W153 2126749-1/3E und W153 2126747-1/3E, gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG in allen Spruchpunkten als unbegründet abgewiesen. Die Entscheidungen wurden den BF am 21.07.2016 zugestellt und rechtskräftig.

Die BF1 ist in weiterer Folge mit ihren Kindern untergetaucht. Seitens des Bundesamtes wurde am 02.08.2016 gegen die BF1 ein Festnahmeauftrag nach § 34 Abs. 2 Z 2 und Abs. 3 Z 3 BFA-VG erlassen.

2. Im XXXX 2017 wurde die Viertbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF4) als Tochter der BF1 und eines in Österreich asylberechtigten russischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet geboren. Etwa 10 Tage nach der Geburt erfolgte eine Wohnsitzmeldung der BF im Bundesgebiet und wurde für die BF4 am 24.02.2017 beim Bundesamt ein "Antrag auf Familienverfahren" gestellt, wobei für die BF4 ausdrücklich keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht wurden. Dazu gab die BF1 in einer Einvernahme beim Bundesamt am selben Tag an, dass der Kindesvater in Österreich standesamtlich mit einer anderen Frau verheiratet sei, sie diesen aber nach islamischen Recht geheiratet habe. Sie habe (ohne Meldung) in einer Wohnung eines Bekannten ihres Lebensgefährten gewohnt. Sie habe für die BF4 einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollen, und dafür eine andere Frau vorgeschickt, weil sie Angst vor einer Abschiebung gehabt habe, da ihr bewusst gewesen sei, dass über ihr Verfahren negativ entschieden worden sei.

In einer Einvernahme beim Bundesamt am 05.04.2017 brachte die BF1 im Wesentlichen vor, dass die BF4 das Kind eines anerkannten Flüchtlings sei und die beiden nicht getrennt werden sollten. Die BF4 würde (wie die übrigen BF) nicht mit dem Kindesvater, der bei seiner Frau und seinen anderen sieben Kindern wohne, zusammenleben. Dieser besuche die BF 3-4 Mal pro Woche.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 21.04.2017, Zl. 1143919709/170246228-EAST Ost, wurde der Antrag der BF4 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Polen für die Prüfung des Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. c zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF4 gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Polen gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.). Der Bescheid wurde der BF1 als gesetzlichen Vertreterin der BF4 am 05.05.2017 zugestellt und in weiterer Folge rechtskräftig.

Am 17.05.2017 stellte die BF1 für sich und ihre Kinder einen Antrag auf eine unterstütze freiwillige Rückkehrhilfe für eine beabsichtigte Rückkehr ins Herkunftsland.

3. Am 09.10.2017 stellte die BF1 im Bundesgebiet für sich und die übrigen BF neuerlich Anträge auf internationalen Schutz. Dazu gab die BF1 in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, dass sie das Bundesgebiet seit der ersten Antragstellung nie verlassen habe. Auf die Frage, warum sie nicht ausgereist sei, obwohl die Kosten für die Rückreise bereits übernommen bzw. ausgelegt worden seien, erklärte die BF1, davon nichts zu wissen. Ihr sei von einem Juristen der XXXX gesagt worden, dass der Zeitraum, in dem sie nach Polen fahren hätte müssen, schon abgelaufen sei. Ein Jurist habe ihr geraten, in Österreich neuerlich einen Asylantrag zu stellen.

In einer Einvernahme beim Bundesamt am 13.08.2018 brachte die BF1 im Wesentlichen vor, dass sie sich im Juni 2013 - als sie mit ihrem Sohn schwanger gewesen sei - von ihrem ersten Mann scheiden habe lassen und etwa ein Jahr vor der Einreise nach Österreich ihren jetzigen Mann über seine Gattin im Internet kennen gelernt habe. Sie habe dann eine Fernbeziehung geführt und ihn, ohne ihn persönlich getroffen zu haben, über die Distanz rituell geheiratet. Nachdem ihr Ex-Mann erfahren habe, dass die BF1 (nach islamischen Ritus) wieder geheiratet habe, sei er wütend gewesen und habe immer Probleme gemacht. Er habe angefangen ihr zu drohen, ihr die Kinder wegzunehmen. Die BF1 habe dann beschlossen, wegzufahren, da sie verstanden habe, dass er keine Ruhe gebe und sie überall finde. Danach befragt, wie oft sie zu ihrem Ex-Mann nach der Scheidung Kontakt gehabt habe, gab die BF1 an, dass er sie, obwohl er in einer anderen Stadt wohne, immer ohne Ankündigung besucht habe. Er sei auch unangemeldet in die Schule der Kinder gekommen. Sie habe auch eine Anzeige bei der Polizei gemacht. Diese hätte aber nichts unternommen und gesagt, dass sie es selber regeln sollten. Die Polizei habe gemeint, dass ihr Gatte ja nichts Besonderes mache und nur die Kinder besuche. Die Frage, ob sie von ihrem Gatten in irgendeiner anderen Weise bedroht worden sei, verneinte die BF1. Danach befragt, wieso sie nicht an einen anderen Ort in Russland gegangen sei, erklärte die BF1, dass ihr Ex-Gatte sie gefunden hätte. Auf die Frage, wie ihr Ex-Gatte sie finden hätte sollen, gab die BF1 an: "Er hat viele Bekannte überall, von denen er Geld ausgeborgt hat und nicht wieder zurückgegeben hat. In diesen Städten, wo wir gewohnt haben, hatte er viele Bekannte. Ich habe Angst alleine in einer anderen Stadt zu leben. Ich könnte bei Verwandten leben, aber da hat er zu viele Beziehungen." Auf den Vorhalt, dass sie eine große Familie habe, erklärte sie: "Sie haben mir schon geholfen, aber sie war nicht immer in der Nähe." Bei einer Rückkehr nach Russland befürchtete sie, dass ihr Ex-Gatte sie finden würde. Sie habe jetzt auch eine Tochter und möchte nicht, dass diese sich von ihrem Vater trenne. Sie würden wie eine Familie leben. Ihr Ex-Gatte sei Zahnarzt und auch Alkoholiker. Er habe hohe Schulden und habe sie auch geschlagen, nicht stark. Sie habe sich deshalb scheiden lassen.

Die BF1 gehöre der Volksgruppe der XXXX an und sei Muslimin. Sie sei in Dagestan geboren, habe sonst aber immer im XXXX gelebt. In der Russischen Föderation würden ihre Eltern sowie ein Bruder und eine Schwester leben, wobei sie dort viele weitere Verwandte habe. Ihr Vater sei sehr wohlhabend und habe neuerlich geheiratet und nun weitere Kinder. Ihre Mutter habe alles, was sie brauche. Sie habe Kontakt zu ihren Familienangehörigen und beiden Elternteilen. Die BF1 habe die Schule abgeschlossen, drei Jahre ein College besucht und dann drei Jahre als XXXX gearbeitet. Dann sei sie als XXXX tätig gewesen. Sie spreche bisher nur wenig Deutsch. Sie habe einen Deutschkurs besucht, aber keine Zeit gehabt, ihn abzuschließen. Sie sei nicht offiziell verheiratet. Ihr Mann sei hier verheiratet und habe sieben Kinder. Die BF1 würde mit ihren Kindern in einer Pension leben und ihr Gatte mit seiner Frau und seinen Kindern in einer Wohnung. Sie sei seine "Zweitfrau". Sie hätte auch kein Problem damit, dass ihre Töchter einmal die Zweitfrau eines Mannes werden. Ihre Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe. Die BF1 leide an einer Erbkrankheit ( XXXX ), diese sei aber nicht tödlich und werde sie diesbezüglich auch nicht behandelt. Ihr Sohn XXXX und habe XXXX . Ansonsten sei alles ok.

Von der BF1 wurden u.a. vorgelegt: Geburtsurkunden der BF1 und BF2;

eine mit 26.11.2013 datierte Scheidungsurkunde, die eine gerichtliche Scheidung im Juni 2013 bestätigt;

Schulbesuchsbestätigungen sowie Schulnachrichten der BF2 als außerordentliche Schülerin der 3. Klasse einer österreichischen Volksschule für das Schuljahr 2017/2018, wobei diese in Deutsch nicht beurteilt werde; Zeugnisse der BF2 einer russischen allgemeinen Oberschule; ein im Juni 2005 ausgestelltes XXXX der BF1.

Der Vater der BF3 wurde am 13.08.2018 im Rahmen eines Aberkennungsverfahrens beim Bundesamt einvernommen. Dabei gab er im Wesentlichen an, russischer Staatsangehöriger und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe zu sein und seit 2004 in Österreich den Flüchtlingsstatus zu besitzen. Er sei verheiratet und habe sieben Kinder mit seiner ersten Frau. Mit der BF1 sei er nur traditionell verheiratet. In Tschetschenien würden seine Mutter sowie eine Schwester und weitere Verwandte wie etwa ein Onkel leben. Er habe eine abgeschlossene Schulbildung und sei gelernter Kfz-Mechaniker. Er wolle seine Prüfung anerkennen lassen. Auf die Frage, was er bisher in Österreich gearbeitet habe, gab er an, dass er von 2004 bis 2006 im Lager gearbeitet habe. Im Jahr 2011 habe er als LKW-Fahrer gearbeitet. Aktuell sei er seit fünf Monaten arbeitslos. Seine Frau sei Mutter und Hausfrau. Er habe das Herkunftsland verlassen, weil wegen des Krieges in Tschetschenien, nicht aber in Russland, nach ihm gefahndet worden sei. Dazu befragt, was gegen eine Rückkehr ins Herkunftsland spreche, gab er an, nichts in Tschetschenien zu haben. Er habe kein Haus und kenne dort niemanden. Auf die Frage, warum er in Österreich trotz 15-jährigen Aufenthaltes nicht um die Staatsbürgerschaft angesucht habe, erklärte er, dass sein Einkommen dafür nicht ausgereicht habe.

In einer neuerlichen Einvernahme der BF1 am 04.03.2019 beim Bundesamt brachte diese im Wesentlichen vor, dass sich hinsichtlich ihrer familiären Situation in Österreich nichts geändert habe. Sie sei auch weiterhin in Kontakt mit ihrer Familie im Herkunftsland. Auch an ihren Fluchtgründen habe sich nichts geändert, sie vermisse nur ihre Mutter. Bei einer Rückkehr ins Herkunftsland würde sie Verfolgung durch ihren Ex-Gatten befürchten. Er würde ihr die Kinder wegnehmen. Es sei in der Religion üblich, dass bei der Scheidung die Kinder beim Vater bleiben. Sie sei auf einer Warteliste für einen Deutschkurs, aber habe keinen Platz bekommen.

4. Mit den angefochtenen, im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesamtes wurden die Anträge der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung der Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 ivm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 ivm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde den BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.) und ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Dazu wurde u.a. festgestellt, dass die Identität der BF feststehe, die BF1 geschieden sei und die BF2 und der BF3 aus erster Ehe stammen. Die BF1 führe eine Ehe als Zweitfrau und sei daher nach österreichischem Recht als nicht verheiratet anzusehen. Sie habe aus dieser Beziehung eine Tochter (BF4), die in Österreich geboren sei. Am 07.02.2019 habe die zuständige Niederlassungsbehörde dem Bundesamt mitgeteilt, dass sie dem Vater der BF4 einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt habe. Diesem sei mit Bescheid des Bundesamtes vom 12.02.2019 der ihm mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 21.01.2004, Zahl: 244.390-IX/27/03, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG 2005 aberkannt worden, wobei ihm auch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt worden sei. Die Eltern, Geschwister und weiteren Verwandten der BF1 leben in der Russischen Föderation. Die BF1 stehe mit diesen in regelmäßigen Kontakt und gehe es diesen gut. Die finanzielle Situation ihrer Familie (im Herkunftsland) sei eine gute. Der Vater der BF1 sei wohlhabend. Die BF leiden an keiner lebensbedrohlichen Krankheit, die eine Rückkehr in ihr Heimatland entgegenstehen würde. Die BF seien gesund. Die BF1, die BF2 und der BF3 seien in der Russischen Föderation geboren, sprechen die Landessprache und seien mit den kulturellen Bräuchen vertraut. Eine Verwurzelung in Österreich bzw. eine Entwurzelung vom Heimatstaat, die derart gestaltet wäre, dass den BF eine Rückkehr in die Russische Föderation nicht möglich bzw. zumutbar wäre, liege nicht vor. Der Vater der BF4, mit welchem die BF1 in Österreich als Zweitfrau lebe, sei der Status des Asylberechtigten aberkannt worden. Somit sei es den BF möglich, sich sowohl in der Russischen Föderation wie auch in Österreich oder einem anderen Drittland ihrer Wahl zu treffen. Sowohl können die BF auf legalem Wege nach Österreich kommen wie es dem Vater der BF4 auch möglich sei, diese und die BF1 in ihrem Heimatland zu besuchen. Die BF haben an ihrem Verfahren nicht mitgewirkt, sich diesem entzogen, seien untergetaucht und ihrer Ausreiseverpflichtung nach Polen nicht nachgekommen. Die BF seien unbescholten. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die BF in ihrer Heimat der Russischen Föderation einer konkret und gezielt gegen ihre Person gerichteten Verfolgung ausgesetzt gewesen seien. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die BF1 von ihrem Ex-Mann verfolgt werde. Die Russische Föderation habe ein grundlegendes Sozialsystem, welches Renten verwalte und Hilfe für gefährdete Bürger gewähre und auch über eine entsprechende medizinische Versorgung verfüge. In einer Gesamtschau sei auch davon auszugehen, dass die BF bei ihrer Rückkehr in die Russische Föderation nicht in eine Notlage entsprechend Art. 2 bzw. Art 3 EMRK gelangen würden. Die BF1 habe es seit ihrem Aufenthalt in Österreich nicht geschafft, sich hinreichend gesellschaftlich zu integrieren. Sie habe keine vertiefenden Deutschkenntnisse erlangt, noch sei sie in irgendeinem Verein, einer Hilfsorganisation oder Gemeinschaft tätig. Sie gehe keiner Arbeit nach und sei auf die Unterstützung des Staates angewiesen.

Zur Situation im Herkunftsland wurde u.a. festgestellt:

"[...]

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-

BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

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Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

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Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

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HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018

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US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2018a). Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 postuliert, dass die Russische Föderation ein "demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform" ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach "sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems." Russland ist an folgende VN-Übereinkommen gebunden:

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Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

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Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

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Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

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Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

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Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

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Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

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Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.09.2012) (AA 21.5.2018).

Der Europarat äußerte sich mehrmals kritisch zur Menschenrechtslage in der Russischen Föderation. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) waren 2016 knapp 10% der anhängigen Fälle Russland zuzurechnen (77.821 Einzelfälle). Der EGMR hat 2016 228 Urteile in Klagen gegen Russland gesprochen. Damit führte Russland die Liste der verhängten Urteile mit großem Abstand an (an zweiter Stelle Türkei mit 88 Urteilen). Die EGMR-Entscheidungen fielen fast ausschließlich zugunsten der Kläger aus (222 von 228 Fällen) und konstatierten mehr oder wenige gravierende Menschenrechtsverletzungen. Zwei Drittel der Fälle betreffen eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit. [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 21.5.2018).

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden 2017 weiter eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger und unabhängige NGOs sahen sich nach wie vor mit Schikanen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert (AI 22.2.2018). Auch Journalisten und Aktivisten riskieren Opfer von Gewalt zu werden (FH 1.2018). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur, führten zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Angehörige religiöser Minderheiten mussten mit Schikanen und Verfolgung rechnen. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde häufig verletzt. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wurde weiter erschwert. Im Nordkaukasus kam es auch 2017 zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie einer unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden. Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2017, vgl. FH 1.2018, AA 21.5.2018). Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. "fünfte Kolonne" innerhalb Russlands. Der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland ist derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt. Laut einer Umfrage zum Stand der Menschenrechte in Russland durch das Meinungsforschungsinstitut FOM glauben 42% der Befragten nicht, dass die Menschenrechte in Russland eingehalten werden, während 36% der Meinung sind, dass sie sehr wohl eingehalten werden. Die Umfrage ergab, dass die russische Bevölkerung v.a. auf folgende Rechte Wert legt: Recht auf freie medizinische Versorgung (74%), Recht auf Arbeit und gerechte Bezahlung (54%), Recht auf kostenlose Ausbildung (53%), Recht auf Sozialleistungen (43%), Recht auf Eigentum (31%), Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (31%), Recht auf eine gesunde Umwelt (19%), Recht auf Privatsphäre (16%), Rede- und Meinungsfreiheit (16%). Der Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen vor den politischen Rechten. Unter Druck steht auch die Freiheit der Kunst, wie etwa die jüngsten Kontroversen um zeitgenössisch inszenierte Produktionen von Film, Ballett und Theater zeigen (ÖB Moskau 12.2017).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien, Inguschetien und Kabardino-Balkarien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. (AA 21.5.2018). Auch 2017 wurden aus dem Nordkaukasus schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen (AI 22.2.2018). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet. Im Februar 2016 führte das Komitee gegen Folter des Europarats eine Mission in die Republiken Dagestan und Kabardino-Balkarien durch. Auch Vertreter des russischen präsidentiellen Menschenrechtrats bereisten im Juni 2016 den Nordkaukasus und trafen sich mit den einzelnen Republiksoberhäuptern, wobei ein Treffen mit Ramzan Kadyrow abgesagt wurde, nachdem die tschetschenischen Behörden gegen die Teilnahme des Leiters des Komitees gegen Folter Igor Kaljapin protestiert hatten (ÖB Moskau 12.2017).

Der konsultative "Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte" beim russischen Präsidenten unter dem Vorsitz von M. Fedotow übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 21.5.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 8.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 8.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 8.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Religionsfreiheit

Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei eine herausgehobene Stellung. Art. 14 der Verfassung schreibt die Trennung von Staat und Kirche fest. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) erhebt Anspruch auf einen Vorrang unter den Religionsgemeinschaften und auf "Symphonie" mit der Staatsführung. Sie propagiert ihren Wertekanon als Basis einer neuen "nationalen Idee". Faktisch wird sie vom Staat bevorzugt behandelt. Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben rund 20 Millionen Muslime. Der Islam in Russland ist grundsätzlich von Toleranz gegenüber anderen Religionen geprägt. Radikalere, aus dem Nahen und Mittleren Osten beeinflusste Gruppen stehen insbesondere im Nordkaukasus unter scharfer Beobachtung der Behörden (AA 21.5.2018). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen. Seit Ende der Achtzig

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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