TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/24 W131 2131021-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.04.2019
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Entscheidungsdatum

24.04.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28

Spruch

W131 2131021-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag Reinhard GRASBÖCK über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.06.2016, Zl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und Frau XXXX gemäß § 28 VwGVG iVm § 3 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass Frau XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Gemeinsam mit ihrem Ehegatten (W131 2131026-1) und den drei gemeinsamen minderjährigen Kindern reiste die Beschwerdeführerin (= Bf) in das Bundesgebiet ein und stellte am 09.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zwischenzeitig wurden zwei weitere Kinder in Österreich geboren.

Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die Bf anlässlich ihrer Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Tag der Antragstellung an, dass die Lebensumstände im Iran sehr schlecht gewesen seien. Die Familie habe in Armut und Elend gelebt. Ihr Ehegatte habe nicht arbeiten dürfen und den Kindern sei es nicht möglich gewesen, eine Schule zu besuchen. Ihr Aufenthalt im Iran sei illegal gewesen.

In der am 21.06.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (= belangte Behörde) stattgefundenen Einvernahme gab die Bf (zusammengefasst) im Wesentlichen erneut ihre bereits in der Erstbefragung geschilderten Fluchtgründe an und bekräftigte, dass das Leben in Afghanistan für eine Frau sehr gefährlich sei und sie Angst um ihre Töchter habe.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 30.06.2016 wurde der Antrag der Bf auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigter in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihr nicht erteilt. Gegen die Bf wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist. Abschließend wurde ihr für die freiwillige Ausreise eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt III.)

3. Gegen diesen Bescheid wurde von der Bf - mit Unterstützung einer Rechtsberatungsorganisation - eine Beschwerde erhoben, die fristgerecht bei der belangten Behörde einlangte. Darin wurde insbesondere auf die drohende Gefahr der Bf, welche zeitlebens im Iran aufhältig war, hingewiesen, müsste sie dort Diskriminierungen aufgrund ihres andersartigen Verhaltens und auch wegen der differenten Sprache erleiden und würde eine Familie mit vier minderjährigen Töchtern kaum der Gefahr der Zwangsverheiratung entkommen können.

4. Mit Schreiben vom 26.07.2016 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt dazugehörigen Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht (= BVwG) zur Entscheidung vor und wurden diese nach anderweitiger gerichtsabteilungsmäßiger Vorzuständigkeit schließlich der hier erkennenden Gerichtsabteilung zugewiesen. Bereits im Vorlageschreiben teilte die belangte Behörde mit, auf die Durchführung und die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung zu verzichten.

Mit Schreiben vom 06.07.2017 legte die belangte Behörde eine weitere Beschwerde eines Sohnes der Bf zur IFA - Zahl 1155933400 vor, der am 17.05.2017 nach dem ersten Verhandlungstermin in dieser Beschwerdesache geboren worden war, wobei die Behörde auf § 34 AsylG (Familienverfahren) hinwies.

5. Vor dem BVwG fand bereits am 05.05.2017 unter Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, die am 25.01.2019 unter Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari fortgesetzt wurde und an der neben der Bf auch eine Vertreterin der von der Bf nunmehr tätigen Rechtsberatungsorganisation teilnahm.

Die hier interessierenden Teile der mündlichen Verhandlung vom 25.01.2019 werden hier wie folgt wiedergegeben (Bf = BF 1, Richter = R, Vertreterin der Rechtsberatungsorganisation = RV):

"[...]

R: Sprechen Sie schon Deutsch?

BF1(auf Deutsch): Ein bisschen.

R: Glauben Sie, dass Sie in deutscher Sprache bereits ihren Tagesablauf erzählen können?

D übersetzt.

BF1(auf Deutsch): Ja.

R: Ich ersuche darum, wobei der Schriftführer wortwörtlich mitschreiben soll, ich bitte langsam zu sprechen.

BF1(auf Deutsch): Am Morgen ich bin mit meinem Mann aufstehen und mit Kinder Frühstück gegessen und ich gehe mit kleine Kind in den Kindergarten und dann mit Kinder ich spiele und alleine ich bin einkaufen gegangen und ich kann schwimmen und ich kann Yoga machen und ich kann Fahrrad fahren und jetzt ich lerne A1 - Deutschkurs.

R: Nunmehr wird die Befragung auf Farsi fortgesetzt.

R: Gehen Sie alleine außer Haus?

BF1: Ja. Am meisten am Tag bin ich alleine draußen. Ich besuche drei Mal in der Woche in der XXXX Kurse. Ich besuche das Frauencafé und Gesundheit und mache Yoga und besuche den A1-Kurs.

R: Nehme ich es richtig wahr, dass Sie Ihre Haare heute gefärbt haben?

BF1: Heute nicht. Vor einer Woche war das. Ich färbe meine Haare alle 2 Monate, weil ich und mein Mann es mögen.

R: Sind Sie beraten worden, wie Sie sich für die heutige Verhandlung anziehen und schminken müssen?

BF1: Ich bin grundsätzlich gerne schick und lege einen großen Wert auf Äußerlichkeiten. Und wenn ich irgendwo eingeladen bin möchte ich gut angezogen dorthin gehen. Und zu heutiger Ladung habe ich mich auch extra schick angezogen.

R: Seit wann pflegen Sie diesen Kleidungsstil?

BF1: Seit meiner Ankunft in Österreich. In Österreich kann ich mich mit freier Entscheidung anziehen. Früher habe ich das nicht gekonnt, weil die Situation dort schwierig war. Im Iran musste ich immer ein Kopftuch und ein Tschador tragen. In Österreich fühle ich mich sehr wohl, weil ich selber entscheide, was ich anziehe, wie ich mich anziehe, es gibt keinen Zwang und das gefällt mir.

R: Haben Sie gehört, dass es in Österreich seit kurzem ein Antigesichtsverhüllungsgesetz gibt?

BF1: Ja. Deswegen mag ich es in Österreich, dass die Frauen frei sind.

R: Wie bewerten Sie es, wenn in Österreich eine Frau aus Saudi-Arabien gestraft wird, wenn sie mit einer Burka spazieren geht?

BF1: Ich bin für diese Gesetzgebung in Österreich, denn man weiß nicht, was hinter einer Burka steckt. Ob diese Person eine gute oder eben ein Dieb ist.

R: Ich habe hier Asylfälle zu beurteilen und daher versucht, mich über den Islam schlau zu machen. Ich habe bei Pacic, Islamische Rechtslehre, gelesen, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr Unzucht ist und dann, wenn die beiden Beteiligten beide nicht verheiratet sind, mit der Strafe des Auspeitschens bedroht ist. Was halten Sie von einer solchen Strafe?

BF1: Ich glaube fest daran, dass jeder die freie Wahl haben soll, ob für Burschen oder Mädchen. Sie sind jung und sollen ihr Leben genießen. Ich bin dafür, dass die jungen Mädchen und Burschen eine Beziehung haben dürfen, sie sollen ihr Leben genießen. Daher bin ich gegen solche Strafmaßnahmen.

R: Sind Sie Schiitin?

BF1: Ja.

R: Wie oft beten Sie pro Tag?

BF1: Die Gebete sind 5 Mal am Tag und das kann man auf drei Male aufteilen.

R: Und Sie persönlich, wie oft beten Sie?

BF1: Drei Mal.

R: Wie bewerten Sie es, wenn nach dem bereits genannten Lehrbuch von Pacic im Islam im Zweifel die Frau dem Manne gehorsam sein muss?

BF1: Das stimmt schon, die ältere Generation haben das auch sehr streng genommen. Die jetzige Generation geht damit ganz anders um und dies scheint nicht mehr so wichtig zu sein. Ich glaube an eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Ich glaube nicht, dass Frauen für alle Entscheidungen unbedingt einen Mann brauchen. Ich möchte wie jede andere Frau selbständig sein. Auf meinen eigenen Füßen stehen und möchte auf keinen Fall von meinem Mann abhängig sein.

R: Wie möchten Sie sicherstellen, dass Sie nicht von Ihrem Mann abhängig sind?

BF1: Ich habe ein großes Vertrauen zu mir selber. Ich fühle mich meinem Mann gegenüber nicht schwächer. Daher möchte ich auch nicht von ihm abhängig sein.

R: Können Sie abstrakt beschreiben, was man unter Religionsfreiheit versteht?

BF1: In Religion haben die Frauen keine Freiheit, müssen ihrem Mann gehorsam sein und das mag ich nicht.

R: Nochmals, welche verschiedenen Religionen gibt es?

BF1: Islam, Judentum, Christentum, das wars.

R: Wie bewerten Sie es, wenn in Österreich in der Verfassung festgeschrieben ist, dass man jederzeit seine Religion wechseln kann oder auch ohne Religion leben kann?

BF1: Das hängt von der Person ab welche Religion sie nehmen möchte. Sei es Islam, Christentum oder aber auch Judentum. Das steht jedem frei zu entscheiden.

R: Gibt es auch im Iran oder in Afghanistan eine solche Freiheit?

BF1: Nein, in Afghanistan werden die Frauen als Sklaven betrachtet. Die Mädchen werden mit ihrem 9. Bzw. 10. Lebensjahr zwangsverheiratet. Wenn ein Mädchen geboren wird fragt man die Mutter sofort, warum ein Mädchen. Die Mädchen sollten in dem Alter spielen und nicht heiraten. Die Mädchen werden auch in diesem Alter entweder den älteren Männern oder an reiche Männer verheiratet. Wenn sie dann verheiratet sind, sind sie dann verpflichtet, der ganzen Familie des Ehemannes gehorsam zu sein. Die Familie des Ehemannes entscheidet, ob sie auch noch atmen darf oder nicht. Wenn sie dann auch ein Kind bekommt und dann ein mütterliches Gefühl hat, hängt das dann auch noch davon ab, ob sie dann einen Bub oder ein Mädchen geboren hat. Sollte sie tatsächlich ein Mädchen bekommen, bekommt sie dann Vorwürfe warum sie ein Mädchen geboren hat. Das ist die Kultur in Afghanistan das Mädchen und Frauen nicht einmal als Menschen betrachtet werden und das ärgert mich sehr und ich glaube auch, dass diese Haltung bzw. diese Kultur in Afghanistan nicht so schnell geändert oder verbessert wird.

R: Meine Frage war, ob es Ihres Erachtens in Afghanistan die Möglichkeit gibt, vom Islam zum Christentum zu wechseln?

BF1: Nein.

R: Unter der Annahme, dass Sie das erforderliche Geld für sich und ihre Familie für ein Leben in Afghanistan hätten, gäbe es trotzdem Gründe, warum Sie nicht in Afghanistan leben könnten?

BF1: Mir geht es überhaupt nicht um das Geld, sondern um die Sicherheit, die es in Afghanistan nicht gibt. Mir geht es um die Sicherheit meines Mannes und meiner Kinder und wir als Schiiten haben keine Sicherheit in Afghanistan und ich mag die afghanische Kultur auch nicht. Das Leben wäre für mich sozusagen vorbei, wenn ich nach Afghanistan zurückkehren müsste.

R: Wie würden Sie reagieren, wenn eine Ihrer Töchter mit 16 Jahren von zu Hause ausziehen möchte und mit einem jungen Österreicher, der zum Beispiel protestantischer Christ ist, leben möchte?

BF1: Mir ist es egal. Wenn ich weiß, dass meine Tochter ihn liebt, respektiere ich ihre Entscheidung. Ich möchte nur, dass meine Tochter glücklich ist. Deswegen bin ich hier auch in Österreich, damit meine Kinder ein glückliches Leben führen können und ich werde sie auch dabei unterstützen.

R zu RV: Können Sie ausführen, ob die BF1 aufgrund Ihrer Kleidung und heutigem Auftreten welches Aussehen hat.

RV: Ich kenne die BF1 nur so. Sie ist bereits seit 2017 in unserer Rechtsberatung und trägt immer moderne, der europäischen Mode entsprechende Kleidung, sowie heute, mit einer Hose und farblich abgestimmten Pullover sowie einem Blazer. Sie trägt Schuhe mit Absätzen, bleicht sich die Haare blond und ist immer geschminkt. Auffällig ist ihr oft sehr roter Lippenstift. Des Weiteren lackiert sie sich die Nägel und trägt passenden Schmuck.

R und RV erörtern kurz die Ermittlungsnotwendigkeiten betreffend der anderen Beschwerdeführer im Lichte des § 34 AsylG.

RV verweist auch auf die westliche Orientierung von BF1, BF3 und BF4.

RV legt Integrationsbescheinigende Unterlagen betreffend der BF1 vor, die als Beilage C zur heutigen Niederschrift genommen werden. Zusätzlich werden Integrationsunterlagen betreffend BF4 beigelegt, die als Beilage D zum Akt genommen werden. Zusätzlich legt die RV Fotos betreffend BF3 und BF4 vor, insbesondere ein Klassenfoto betreffend die BF4, um die Alltagskleidung der BF4 zu dokumentieren. Diese Fotos werden während der Protokollsdurchsicht vom Schriftführer kopiert werden.

RV: Wer passt auf die Kinder auf, wenn Sie drei Mal wöchentlich bei der XXXX Kurse besuchen?

BF1: Mein Mann.

RV: Sie haben vorher erwähnt, dass Sie in Österreich schwimmen, Rad fahren und Yoga machen. Wo haben Sie das gelernt?

BF1: Hier in Österreich.

RV: Wären diese Aktivitäten für Sie im Iran oder Afghanistan möglich?

BF1: Nein. Wir können nicht einmal davon träumen in Afghanistan oder im Iran diese Aktivitäten zu betreiben. Im Iran dürfen die Frauen weder schwimmen noch Rad fahren, aber die Situation in Afghanistan ist noch schlimmer. In Afghanistan konnte eine Frau ohne ein oder 2 Männer in Begleitung nicht einmal rausgehen, geschweige denn schwimmen oder Rad fahren zu gehen. Ich wollte schon immer Rad fahren lernen und als ich im Iran den Männern beim Rad fahren zugeschaut habe, habe ich mich immer gefragt, warum ich das als Frau nicht machen darf. Das hat mich immer geärgert. Ich bin sehr froh darüber, dass ich in Österreich die Gelegenheit habe, meine Träume zu verwirklichen. Ich sehe, dass die Frauen in Österreich Rad fahren, sogar einen Zug oder einen Bus fahren. Mein Mann hat mir geholfen innerhalb von drei Tagen Rad fahren zu lernen.

RV: Möchten Sie in Österreich arbeiten?

BF1: Ja. Ich möchte unbedingt arbeiten. Ich möchte genauso wie die Männer in der österreichischen Gesellschaft integriert sein und möchte auch arbeiten. Ich glaube nämlich an die Gleichberechtigung zwischen den Männern und Frauen. Ich glaube nicht, dass die Frauen schwächer sind als die Männer. Ich bin sehr froh, dass das Land Österreich uns die Gelegenheit gibt, zu arbeiten und sollte ich einen positiven Bescheid bekommen, würde ich sehr gerne und so schnell wie möglich mit der Arbeit beginnen.

RV: Haben Sie schon einen konkreten Job im Auge?

BF1: Ja, ich möchte als Verkäuferin arbeiten.

RV: In einem bestimmten Bereich?

BF1: Kleiderverkäuferin.

RV: Haben Sie sich in Ihrer Wohnumgebung schon erkundigt bezüglich eines Jobs?

BF1: Ja. In der Stadt, wo ich wohne gibt es ein Einkaufszentrum namens XXXX . Dort gibt es diverse Kleidergeschäfte wie XXXX , ich habe mich dort erkundigt. Es wurde mir gesagt, ich bräuchte eine Arbeitserlaubnis.

RV: Wie stellen Sie sich das Leben Ihrer vier Töchter in Österreich vor?

BF1: Ich sehe keinen Unterschied zwischen Burschen und Mädchen. Ich möchte meine vier Töchter unterstützen, dass Sie die Schule abschließen und später ihr Lieblingsfach studieren. Ich möchte, dass Sie arbeiten, dass Sie selbständig sind und ich werde sie dahingehend unterstützen. Das einzige, was für mich zählt ist, dass Sie glücklich sind.

RV: Könnten Sie sich vorstellen, unter den in Afghanistan für Frauen herrschenden Bedingungen zu leben?

BF1: Ich will nicht einmal dran denken. Immer, wenn ich den Namen Afghanistan höre, bekomme ich eine große Angst und spüre ich diese in meinem ganzen Körper.

[...]"

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Bf und ihrem Leben in Österreich

Die Bf, eine afghanische Staatsangehörige, wurde im Jahr XXXX im Iran geboren und ist auch dort aufgewachsen. Die Bf selbst war noch nie in Afghanistan. Die Bf ist Angehörige der Volksgruppe der Hazara (Sayed/Sadad) und ordnet sich selbst formal der Religion des Islams schiitischer Ausrichtung zu.

Die Bf ist mit ihrem - derzeit ebenfalls als Asylwerber im Bundesgebiet aufhältigen - Ehegatten traditionell verheiratet. Die Ehe der beiden wurde im Iran zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt, der jedoch weit vor der Einreise ins Bundesgebiet liegt, geschlossen.

Gemeinsam mit ihrem Ehegatten und den drei minderjährigen Kindern verließ die Bf den Iran und reiste gemeinsam mit ihnen im Herbst 2015 nach Österreich ein, wo sie am 09.09.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte. In Österreich kamen zwei weitere Kinder der Bf auf die Welt.

Seit ihrer Einreise in das Bundesgebiet und der anschließenden Asylantragstellung lebt die Bf gemeinsam mit ihrem Ehegatten und den fünf gemeinsamen Kindern in einer Gemeinde in XXXX . Die Bf ist arbeitsfähig, geht derzeit aber noch keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach. Die Familie bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.

Trotz des Umstandes, dass va die beiden in Österreich geborenen Kinder insb aufgrund ihres noch recht jungen Alters besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, ist die Bf äußerst bemüht sich in Österreich weiterzubilden und sehr engagiert sich in die Gesellschaft zu integrieren. Die Bf besucht derzeit regelmäßig einen (privaten) Deutschkurs und bereitet sich auf die Prüfung A1 vor. Deutschkenntnisse der Bf waren schon vorhanden. In der mündlichen Verhandlung konnte die Bf - wenn auch in sehr einfachem Deutsch - bereits ihren gewöhnlichen Tagesablauf in deutscher Sprache verständlich schildern. Die Bf hat zudem auch bereits mehrere von der XXXX veranstaltete Kurse und Veranstaltungen besucht, so hat die Bf von März bis Juni 2018 regelmäßig an einem Yogakurs teilgenommen und nimmt gegenwärtig auch am Yoga für Frauen (einem wöchentlichen Treffen zur Stressbewältigung durch Bewegung) teil. Weiters nimmt sie regelmäßig am Frauencafe (einem 14-tägigen Treffpunkt zur präventiven Gesundheitsförderung und sozialen Vernetzung) sowie am Projekt "WIBEG 2 - ‚Wir begleiten Gesundheit'" (einem ebenfalls 14-tägigen Treffpunkt zur Förderung der ganzheitlichen Gesundheit und der Vermittlung von Vorsorgewissen teil. Zusätzlich nimmt sie auch regelmäßig an einem wöchentlichen Handarbeitstreffen teil, welches der Förderung psychischen Wohlbefindens durch kreatives Gestalten dienen soll.

Die Bf ist eine selbstbewusste junge Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie hat seit ihrer Einreise nach Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist.

In Österreich kleidet, frisiert und schminkt sich die Bf aus innerer Überzeugung nach westlicher Mode. Sie hat das Kopftuch abgelegt und steht vollends hinter dieser Entscheidung. Die Bf organisiert ihren Alltag in Österreich selbstständig, geht mitunter auch alleine Einkaufen, fährt alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und besucht eigenständig Yoga- und Deutschkurse. Die Bf ist in ihrer Wohnsitzgemeinde sozial aktiv und beteiligt sich aufgeschlossen und selbstbewusst an vielen gesellschaftlichen öffentlichen Aktivitäten. Sie pflegt regen Kontakt zu ihren Mitmenschen, darunter sowohl Männer als auch Frauen. Innerhalb weniger Tage hat sie - mit tatkräftiger Unterstützung ihres Ehegatten - das Fahrradfahren erlernt und daran große Freude. Sie genießt die ihr in Österreich zukommenden Freiheiten (wie bspw sich draußen alleine frei bewegen zu können und sich sportlich zu betätigen).

Ihre Kinder erzieht die Bf bewusst nach westlichen Werten und wird hierbei von ihrem Ehegatten unterstützt. Sie wünscht sich für ihre Kinder eine bildungsreiche Zukunft. Auch die Bf selbst strebt nach beruflicher Eigenständigkeit. Sie möchte gerne so schnell wie möglich arbeiten gehen. Wurde ihr der Zugang zu Bildung im Iran noch (weitestgehend) verunmöglicht, verfolgt die Bf in Österreich selbstbewusst und ehrgeizig ihr erklärtes Ziel, einer Arbeit nachzugehen. Sie kann sich ihre berufliche Zukunft sehr gut als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft vorstellen. Über die dafür nötigen Voraussetzungen hat sich die Bf bereits erkundigt.

Die Bf hat sich spätestens seit ihrem Aufenthalt in Österreich vom traditionalistischen Rollenbild ihres Herkunftsstaats abgewendet und lebt in Österreich ein freies und selbstbestimmtes Leben nach westlichen Werten.

Anlässlich der am 25.01.2019 vor dem BVwG stattgefundenen mündlichen Verhandlung stellte sich im Rahmen der Befragung der Bf heraus, dass sie zumindest in einer laienmäßigen Parallelwertung glaubhaft jene Werthaltungen vertritt und internalisiert hat, die den Gleichheitsgrundsatz, die Religions- und die Meinungsfreiheit ausmachen. Sie sprach sich im Zuge der entsprechend VwGH Ra 2016/18/0388 gebotenen Erörterung, ob die Bf eine entsprechend den Grundrechten geprägte Lebensweise aufweist, zB auch für die Gleichberechtigung von Mann und Frau aus "Ich glaube an eine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen. Ich glaube nicht, dass Frauen für alle Entscheidungen unbedingt einen Mann brauchen. Ich möchte wie jede andere Frau selbständig sein. Auf meinen eigenen Füßen stehen und möchte auf keinen Fall von meinem Mann abhängig sein. [...] Ich sehe keinen Unterschied zwischen Burschen und Mädchen".

Neben der Gleichberechtigung bewertete die Bf auch das Grundrecht der Religionsfreiheit sehr positiv und sagte aus, dass diese Entscheidung jedem freistehen würde. Auf die Frage, wie sie reagieren würde, wenn sie eine Tochter hätte, welche mit 16 Jahren von zu Hause ausziehen und mit einem jungen Österreicher, der zum Beispiel protestantischer Christ ist, leben möchte, antwortete sie spontan und glaubhaft, dass sie nur wolle, dass ihre Tochter glücklich sei, sie würde ihre Entscheidung respektieren und sie unterstützen. Mit ihren Aussagen hat sie damit eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre eigenen grundlegenden Grundrechte sehr schätzt.

Die Bf ist gesund und in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Ein Asylausschlussgrund zu Lasten der Bf ist von den Verfahrensparteien weder substantiiert vorgebracht noch sonst wie bekannt geworden.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die Länderberichte zur aktuellen Beurteilung der entscheidungswesentlichen Situation in Afghanistan wurden in das Verfahren eingeführt und der Bf zur Kenntnis gebracht. Bezogen auf die Situation der Bf sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten:

1.2.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018

Frauen

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon

77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.).

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).

Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 8. "NGOs und Menschenrechtsaktivisten", 11. "Meinungs- und Pressefreiheit" und 5. "Sicherheitsbehörden" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016).

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5.2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017).

EVAW-Gesetz

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5.2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).

Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen:

Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5.2018).

Frauenhäuser

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5.2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5.2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in

den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5.2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5.2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Legales Heiratsalter

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5.2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5.2018; vgl. USDOS 3.3.2017).

Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).

Ehrenmorde

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 3.3.2017). Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Eherenmorde (AIHRC 11.3.2018; vgl. Tolonews 11.3.2018).

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System (KP 23.3.2016).

Reisefreiheit

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. In vielen Firmen, öffentlichen Institutionen sowie NGOs ist die Meinung verbreitet, dass Frauen nicht alleine in die Distrikte reisen sollten und es daher besser sei einen Mann anzustellen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann nach eigener Aussage eine NGO-Vertreterin selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab heute nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden. Andere Provinzen sind bei diesem Thema viel strenger. In Mazar-e Sharif könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, ganz auf den Hijab zu verzichten, ohne behelligt zu werden. Garantie besteht darauf natürlich keine (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Frauen in Afghanistan ist es zwar nicht verboten Auto zu fahren, dennoch tun dies nur wenige. In unzähligen afghanischen Städten und Dörfern, werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Viele Eltern unterstützen zwar grundsätzlich die Idee ihren Töchtern das Autofahren zu erlauben, haben jedoch Angst vor öffentlichen Repressalien. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind. In Kabul sowie in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Jalalabad gibt es einige Fahrschulen; in Kabul sogar mehr als 20 Stück. An ihnen sind sowohl Frauen als auch Männer eingeschrieben. In Kandahar zum Beispiel sind Frauen generell nur selten alleine außer Haus zu sehen - noch seltener als Lenkerin eines Fahrzeugs. Jene, die dennoch fahren, haben verschiedene Strategien um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Manche tragen dabei einen Niqab, um unerkannt zu bleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 5.2018).

1.2.2. UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (Übersetzung): Kapitel Risikoprofil "Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben"

Die Regierung hat seit 2001 eine Reihe von Schritten zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Verabschiedung von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe der Frauen und die Schaffung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten. Allerdings stieß die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung immer wieder auf Widerstände. Das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen wurde 2009 durch Präsidialerlass verabschiedet, doch lehnten es konservative Parlamentsabgeordnete und andere konservative Aktivisten weiterhin ab. Das überarbeitete Strafgesetzbuch Afghanistans, das am 4. März 2017 mit Präsidialerlass verabschiedet wurde, enthielt ursprünglich alle Bestimmungen des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und stärkte die Definition des Begriffs Vergewaltigung. Jedoch wies Präsident Ghani das Justizministerium im August 2017 angesichts der Ablehnung durch die Konservativen an, das diesem Gesetz gewidmete Kapitel aus dem neuen Strafgesetzbuch zu entfernen. Das neue Strafgesetzbuch trat im Februar 2018 in Kraft, während in einem Präsidialerlass klargestellt wurde, dass das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen von 2009 als eigenes Gesetz weiterhin Geltung hat.

Laut Berichten, halten sich die Verbesserungen in der Lage der Frauen und Mädchen insgesamt sehr in Grenzen. Laut der Asia Foundation erschweren "der begrenzte Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ungerechte Bestrafungen für "Verbrechen gegen die Sittlichkeit", ungleiche Teilhabe an der Regierung, Zwangsverheiratung und Gewalt" nach wie vor das Leben der Frauen und Mädchen in Afghanistan. Depressionsraten aufgrund von häuslicher Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen nehmen Berichten zufolge unter afghanischen Frauen zu.438 Es wird berichtet, dass 80 Prozent der Selbstmorde in Afghanistan von Frauen begangen werden und sich manche von ihnen durch Selbstverbrennung das Leben nehmen.

Die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan (AIHRC) stellte fest, dass Gewalt gegen Frauen noch immer eine "weit verbreitete, allgemein übliche und unleugbare Realität" ist und dass Frauen in unsicheren Provinzen und im ländlichen Raum besonders gefährdet durch Gewalt und Missbrauch sind. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte sehr oft straflos bleiben. Sexuelle Belästigung und die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleiben, so die Berichte, endemisch. Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen Berichten zufolge überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen.

Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz der Frauenrechte weiterhin nur langsam umgesetzt werden, vor allem was das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen betrifft. Das Gesetz stellt gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche, einschließlich Kinderheirat, Zwangsheirat sowie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, unter Strafe und legt die Bestrafung der Täter fest. Den Behörden fehlt Berichten zufolge jedoch der Wille, das Gesetz umzusetzen. Dementsprechend werde es nicht vollständig angewendet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Frauen hätten nur in sehr geringem Maße Zugang zur Justiz. Die überwiegende Mehrheit der Fälle von gegen Frauen gerichteten Gewaltakten, einschließlich schwerer Verbrechen gegen Frauen, würden noch immer nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen geschlichtet, anstatt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. Berichten zufolge leiten sowohl die afghanische nationale Polizei (ANP) als auch die Staatsanwaltschaften sowie Einrichtungen gemäß dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen zahlreiche Fälle, auch schwere Verbrechen, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiter und unterminieren dadurch die Umsetzung dieses Gesetzes und fördern die Beibehaltung schädlicher traditioneller Bräuche. Durch Entscheidungen dieser Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanen und Ausgrenzung ausgesetzt.

Das schiitische Personenstandsgesetz, das Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbrecht für Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft regelt, enthält mehrere für Frauen diskriminierende Bestimmungen, insbesondere in Bezug auf Vormundschaft, Erbschaft, Ehen von Minderjährigen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses.

Während die in diesem Abschnitt beschriebenen Menschenrechtsprobleme Frauen und Mädchen im gesamten Land betreffen, gibt die Situation in Gebieten, die effektiv von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, Anlass zu besonderer Sorge.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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