Entscheidungsdatum
24.04.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W114 2174873-1/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard DITZ über die Beschwerde von XXXX geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, Wattgasse 48, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Burgenland, vom 14.09.2017, Zl. 1086005507 - 151282074/BMI-BFA_BGLD_RD, zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
I.1. XXXX , (im Weiteren: Beschwerdeführer oder BF), ein afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Moslem, stellte am 06.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
I.2. Im Rahmen der am 07.09.2015 vor der Landespolizeidirektion Wien erfolgten Erstbefragung gab der Beschwerdeführer an, am XXXX geboren und ledig zu sein und aus der Provinz Maidan Wardak in Afghanistan zu stammen.
I.3. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 16.08.2017 führte der Beschwerdeführer aus, dass er in Afghanistan eine auch sexuelle Beziehung zu einer Cousine gehabt zu haben und dabei vom Bruder seiner Cousine beobachtet worden zu sein. Da sowohl der Vater seiner Cousine als auch dessen Bruder, sein eigener Vater den Beschwerdeführer hätten töten wollen, habe er aus Afghanistan flüchten müssen.
I.4. Mit Bescheid des BFA, Regionaldirektion Burgenland, vom 14.09.2017, Zl. 1086005507 - 151282074/BMI-BFA_BGLD_RD, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) abgewiesen, jedoch subsidiärer Schutz in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 14.09.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass der BF zwar glaubhaft dargelegt habe, dass er in Afghanistan eine auch sexuelle Beziehung zu einer Cousine gehabt habe und deswegen gefährdet wäre, bei einer Rückkehr nach Afghanistan sowohl von seinem Onkel als auch vom eigenen Vater getötet zu werden. Die vom BFA erkannte Verfolgungsgefahr basiere jedoch nicht auch einem Konventionsgrund der Genfer Flüchtlingskonvention, weswegen dem BF der Status eines Asylberechtigten nicht zuerkannt werden könne.
Der zuerkannte Status eines subsidiär Schutzberechtigten wurde damit begründet, dass er infolge seiner sexuellen Verfehlung von seinem Vater aus der Familie verstoßen worden wäre. Er würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedoch von seinem Vater als auch von seinem Onkel verfolgt werden. Er wäre gefährdet von diesen getötet zu werden. Zudem würde er bei einer Rückkehr nach Afghanistan über kein erforderliches familiäres oder soziales Netz verfügen, welches der BF angesichts seines angeschlagenen psychischen Zustandes jedenfalls benötige, um nicht in eine existenzbedrohende Situation zu gelangen.
Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 18.09.2017 zugestellt.
I.5. Mit Schriftsatz vom 12.10.2017, eingelangt im BFA am selben Tag, erhob der Beschwerdeführer Beschwerde.
Begründend führte der Beschwerdeführer insbesondere aus, dass sowohl aus der Spruchpraxis des VwGH als insbesondere aus der Spruchpraxis des BVwG bei vergleichbaren Sachverhalten entnommen werden könnte, dass eine unerlaubte außereheliche Beziehung auch als Verstoß gegen die in Afghanistan herrschenden islamischen Normen anzusehen sei. Ein solches Verhalten werde in Afghanistan auch durch die starke islamische Prägung der Gesellschaftsordnung "verpolitisiert" und als Ausdruck einer politischen Gesinnung verstanden. Es liege daher nach afghanischem Verständnis ein schwerer Verstoß gegen die in Afghanistan herrschende religiöse Rechts- und Werteordnung vor, sodass von einer konventionsrelevanten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretenden Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr nach Afghanistan auszugehen sei und daher dem BF der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen sei.
Für den Fall, dass das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nicht antragsgemäß entscheide, beantragte der BF die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
ihm wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und wegen drohender Verfolgung aus politischen / religiösen Gründern der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen sei. Aus der Begründung des angefochtenen Bescheides sei nicht nachvollziehbar erkennbar, warum das BFA zur Auffassung gelangt sei, dass die Fluchtgründe des Beschwerdeführers nicht glaubhaft gemacht worden wären. Die Beweiswürdigung bestehe fast ausschließlich aus selektiven Zitaten aus dem Protokoll der Einvernahme und aus Textbausteinen.
I.6. Die Beschwerde und die Unterlagen des Verwaltungsverfahrens wurden dem BVwG vom BFA mit Schreiben vom 13.10.2017 am 30.10.2017 zur Entscheidung vorgelegt. Mit dieser Vorlage teilte das BFA mit, dass auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung verzichtet werde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zum Beschwerdeführer:
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, schiitischer Moslem, ledig und kinderlos sowie unrechtmäßig in das österreichische Staatsgebiet eingereist. Er stellte am 06.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Er hat Afghanistan verlassen, da er mit einer Cousine eine auch sexuelle Beziehung hatte, obwohl er mit dieser nicht verheiratet war und diese Beziehung ohne Zustimmung seines Vaters und seines Onkels (Vater seiner Cousine) erfolgte. Von dieser Beziehung hat sein Vater erfahren, der ihn deswegen aus der Familie verstoßen hat und ihn auch ermorden wollte. Auch sein Onkel und weitere männliche Familienangehörige wollten ihn wegen der damit verbundenen Ehrverletzung ermorden.
Der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan sowohl von seinem Onkel, seinem Vater und anderen männlichen Familienmitglieder überall in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit verfolgt werden. Seine Verfolger würden ihn, wenn sie sich seiner Person bemächtigen könnten, den Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit auch töten.
Eine Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan steht dem BF nicht zur Verfügung, zumal der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan überall in Afghanistan Gefahr laufen würde, erkannt zu werden, worüber seine Verfolger auch informiert werden könnten und infolge des in Afghanistan herrschenden Ehrenkodexes verpflichtet wären, ihre verletzte Ehre durch die Ermordung des Beschwerdeführers wiederherzustellen.
1.2. Zur Situation in Afghanistan:
Stellung von Frauen in Afghanistan:
Jahrzehntelanger Kampf gegen patriarchale und frauenfeindliche Normen, führte zu einer Sensibilisierung in Bezug auf Frauen und ihrer Rechte. Allmählich entwickelt sich die Rolle von Frauen in politischen und wirtschaftlichen Bereichen (AF 07.12.2016). Die Situation der Frauen hat sich seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert; die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft bleibt schwierig. Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016).
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (Max-Planck-Institut 27.01.2004). Ein Meilenstein in dieser Hinsicht war die Errichtung des afghanischen Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MoWA) im Jahr 2001 (BFA Staatendokumentation 3.2014).
Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 9.2016). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten, und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 9.2016; vgl. USDOS 13.04.2016).
Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen und nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016).
Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 9.2016). Gleichzeitig führt aber eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen, hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016; vgl. auch: USDOS 13.04.2016). In der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans trauen sich Frauen selbst oftmals nicht, an Polizisten zu wenden (Sputnik News 14.06.2016).
Anlässlich des dritten "Symposium on Afghan Women's Empowerment" im Mai 2016 in Kabul bekräftigte die afghanische Regierung auf höchster Ebene den Willen zur weiteren Umsetzung. Inwieweit sich dies in das System an sich und bis in die Provinzen fortsetzt, ist zumindest fraglich (AA 9.2016).
Das EVAW-Gesetz wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt (USDOS 13.04.2016; vgl. auch: AA 9.2016; UN Women 2016); und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt. Dennoch ist eine Verabschiedung des EVAW-Gesetzes durch beide Parlamentskammern noch ausständig und birgt die Gefahr, dass die Inhalte verwässert werden (AA 9.2016). Das Gesetz kriminalisiert Gewalt gegen Frauen, inklusive Vergewaltigung, Körperverletzung, Zwangsverheiratung bzw. Kinderheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug des Erbes, jedoch war die Umsetzung eingeschränkt. Im Falle von Vergewaltigung sieht das Gesetz eine Haftstrafe von 16-20 Jahren vor. Sollte die Vergewaltigung mit dem Tod eines Opfers enden, sieht das Gesetz die Todesstrafe für den Täter vor. Der Straftatbestand der Vergewaltigung beinhaltet nicht Vergewaltigung in der Ehe. Das Gesetz wurde nicht weitgehend verstanden und manche öffentliche und religiöse Gemeinschaften erachteten das Gesetz als unislamisch. Der politische Wille das Gesetz umzusetzen und seine tatsächliche Anwendung ist begrenzt (USDOS 13.04.2016). Außerhalb der Städte wird das EVAW-Gesetz weiterhin nur unzureichend umgesetzt (AA 9.2016). Laut Angaben von Human Rights Watch, verabsäumte die Regierung Verbesserungen des EVAW-Gesetzes durchzusetzen. Die Regierung verabsäumt ebenso die Verurteilung sogenannter Moral-Verbrechen zu stoppen, bei denen Frauen, die häuslicher Gewalt und Zwangsehen entfliehen, zu Haftstrafen verurteilt werden (HRW 27.01.2016). Die Regierung registrierte 5.406 Fälle von Gewalt an Frauen, 3.715 davon wurden unter dem EVAW-Gesetz eingebracht (USDOS 13.4.2016). Einem UNAMA-Bericht zufolge, werden 65% der Fälle, die unter dem EVAW-Gesetz eingebracht werden (tätlicher Angriff und andere schwerwiegende Misshandlungen) durch Mediation gelöst, während 5% strafrechtlich verfolgt werden (HRW 27.01.2016).
Die erste EVAW-Einheit (Law on the Elimination of Violence Against Women) wurde im Jahre 2010 durch die afghanische Generalstaatsanwaltschaft initiiert und hat ihren Sitz in Kabul (USDOS 13.04.2016). Die Generalstaatsanwaltschaft erhöhte weiterhin die Anzahl der EVAW-Einheiten. Mit Stand September 2015 existieren sie mittlerweile in 20 Provinzen. In anderen Provinzen wurde Staatsanwälten durch die Generalstaatsanwaltschaft Fälle zur Behandlung zugeteilt. Im März hielt das Büro der Generalstaatsanwaltschaft das erste nationale Treffen von EVAW-Staatsanwälten ab, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen EVAW-Einheiten in den Provinzen zu fördern und gemeinsame Probleme zu identifizieren (USDOS 13.04.2016). Ein im April veröffentlichter Bericht der UNAMA zu Erfahrungen von 110 rechtssuchenden Frauen im Justizsystem; zeigte, dass sich die Effektivität der Einheiten stark unterschied, diese aber dennoch Frauen, die Gewalt erlebt hatten, ermutigten ihre Fälle zu verfolgen (USDOS 13.4.2016; vgl. auch: UNAMA 4.2015).
Der UN-Sonderberichterstatter zu Gewalt an Frauen berichtet von Frauen in Afghanistan, die das formelle Justizsystem als unzugänglich und korrupt bezeichnen; speziell dann wenn es um Angelegenheiten geht, die die Rechte von Frauen betreffen - sie bevorzugen daher die Mediation (USDOS 13.04.2016).
Die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission - AIHRC), veröffentlichte einen Bericht, der 92 Ehrenmorde auflistete (Berichtszeitraum: März 2014 - März 2015), was eine Reduzierung von 13% gegenüber dem Vorjahr andeutete. Diesem Bericht zufolge wurden auch 67% der Täter bei Vergewaltigung oder Ehrenmord verhaftet; 60% wurden verurteilt und bestraft (USDOS 13.04.2016).
Wenn Justizbehörden das EVAW-Gesetz beachten, war es Frauen in manchen Fällen möglich angemessene Hilfe zu erhalten. Staatsanwält/innen und Richter/innen in abgelegenen Provinzen ist das EVAW-Gesetz oft unbekannt, andere werden durch die Gemeinschaft unter Druck gesetzt um Täter freizulassen. Berichten zufolge, geben Männer, die der Vergewaltigung bezichtigt werden, oft an, das Opfer hätte dem Geschlechtsverkehr zugestimmt, was zu "Zina"-Anklagen gegen die Opfer führt (USDOS 13.04.2016).
Im Juni 2015 hat die afghanische Regierung den Nationalen Aktionsplan für die Umsetzung der VN-SR-Resolution 1325 auf den Weg gebracht (AA 9.2016; vgl. auch: HRW 12.01.2017). Dennoch war bis November 2016 kein finales Budget für den Umsetzungsplan aufgestellt worden (HRW 12.01.2017).
Gewalt an Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung:
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord (AA 9.2016). In den ersten acht Monaten des Jahres 2016 dokumentierte die AIHRC 2.621 Fälle häuslicher Gewalt - in etwa dieselbe Zahl wie im Jahr 2015; obwohl angenommen wird, die eigentliche Zahl sei viel höher (HRW 12.01.2017). Die AIHRC berichtet von mehr als 4.250 Fällen von Gewalt an Frauen, die in den ersten neun Monaten des afghanischen Jahres (beginnend März 2015) gemeldet wurden (USDOS 13.04.2016). Diese Fälle beinhalten unterschiedliche Formen von Gewalt: physische, psychische, verbale, sexuelle und wirtschaftliche. In den ersten sechs Monaten des Berichtszeitraumes wurden 190 Frauen und Mädchen getötet; in 51 Fällen wurde der Täter verhaftet (Khaama Press 23.03.2016). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Darüber hinaus kommt immer wieder vor, dass Frauen inhaftiert werden, wenn sie z.B. eine Straftat zur Anzeige bringen, von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, Vergewaltigung werden oder von zu Hause weglaufen (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der Zina gewertet) (AA 9.2016).
Ehrenmorde:
Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 02.07.2014). Mädchen unter 18 Jahren sind auch weiterhin dem Risiko eines Ehrenmordes ausgesetzt, wenn eine außereheliche sexuelle Beziehung angenommen wird, wenn sie vor Zwangsverheiratung davonlaufen oder Opfer eines sexuellen Übergriffs werden. Die AIHRC gab bekannt, zwischen März 2014 und März 2015 92 Ehrenmorde registriert zu haben (USDOS 13.04.2016).
Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist Misstrauen in das juristische System durch einen Großteil der afghanischen Bevölkerung (Khaama Press 23.03.2016).
Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) schreibt in einem Bericht vom März 2007, dass junge Mädchen und Jungen, die von zu Hause weglaufen, riskieren würden, von ihren Familien getötet zu werden. Unter Berufung auf eine Studie der International Legal Foundation (ILF) aus dem Jahr 2004 führt UNODC das Beispiel tadschikischer und paschtunischer Gemeinschaften in einigen Provinzen Nordafghanistans an. Dort würden die Familien in Betracht ziehen, ihr eigenes Kind zu töten, wenn dieses sein Zuhause freiwillig verlasse und im Haus einer anderen Familie unterkomme. Wenn ein Junge gemeinsam mit einem Mädchen wegliefe, seien vermutlich beide dem Risiko ausgesetzt, von ihren Familien getötet zu werden. Es müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass das Mädchen am härtesten bestraft werde, vor allem, wenn außerehelicher Geschlechtsverkehr stattgefunden habe. Der Verlust ihrer Jungfräulichkeit bedeute für ihre Familie eine große Schande. Obwohl Weglaufen im Strafgesetzbuch nicht als Verbrechen definiert sei, würden Mädchen und Jungen, die von zu Hause weglaufen, festgenommen und manchmal inhaftiert:
Im selben Bericht führt UNODC an, dass eine Frau, die gemeinsam mit einem Mann flüchtet, der sexuellen Beziehung außerhalb der Ehe (Zina) beschuldigt werde, bis bewiesen sei, dass kein Geschlechtsverkehr zwischen ihr und dem Mann stattgefunden habe. Der Unschuldsbeweis hänge von einem Jungfräulichkeitstest ab. Laut einem 2004 erschienenen Bericht von Medica Mondial könne die Frau, wenn sie keinen Ehebruch begangen habe, wegen Khelwat-e-sahiha beschuldigt werden. Khelwat-e-sahiha bezeichne eine Situation, in der sich ein Mann und eine Frau ohne Anwesenheit anderer Personen am selben Ort befänden. Dies werde zwar vom Strafgesetzbuch nicht als Straftat angesehen, jedoch definiere die Hanafi-Rechtsprechung Khelwat-e-sahiha als Verbrechen.
In einem im Dezember 2010 veröffentlichten Bericht zu einer Fact-Finding-Mission nach Afghanistan im Oktober 2010 fasst das österreichische Bundesasylamt (BAA) die Aussagen verschiedener GesprächspartnerInnen folgendermaßen zusammen:
"Gemäß Scharia erfüllt der außer- und voreheliche sexuelle Kontakt den Tatbestand des Verbrechens ‚Zina' und ist demgemäß zu bestrafen; in der Praxis genügt jedoch bereits das Weglaufen einer Frau bzw. die Beschuldigung des (auch nicht sexuellen) Kontakts mit einem Mann, ohne mit diesem verheiratet zu sein. Dem Gesetz zufolge müssten für eine Verurteilung vier Personen diesen außerehelichen sexuellen Kontakt bezeugen, was in der Praxis aber unbeachtet bleibt. Mädchen, die der Zina beschuldigt werden, werden fallweise auf deren Jungfräulichkeit überprüft. Die Strafen variieren je nachdem, ob es sich um außerehelichen oder vorehelichen Geschlechtsverkehr handelt und welcher konkreten Handlung die Frau beschuldigt wird. Im Durchschnitt droht für dieses Verbrechen eine 4jährige Haftstrafe. Gemäß der Scharia können Frauen auch mit Steinigung bestraft werden. Im Sommer 2010 wurden etwa in Kunduz zwei Ehebrecherinnen wegen Zina zu Tode gesteinigt. Vor allem auf dem Land werden solche traditionellen Praktiken nach wie vor gelebt, auch mangels Durchsetzung der bestehenden Gesetze. Über die Anzahl der verdächtigten und tatsächlichen Ehebrüche existieren keine verlässlichen Zahlen. In absoluten Ausnahmefällen und lediglich in den Großstädten des Landes gäbe es für unverheiratete Paare, denen außerehelicher bzw. vorehelicher Kontakt zur Last gelegt wird, die Möglichkeit, durch eine nachträgliche Heirat einer harten Bestrafung zu entgehen, sofern sie vor dem Richter ihre Heiratsabsicht kundtun. Auch in diesen Fällen würde dem Paar ein vorübergehender Gefängnisaufenthalt - der auch Jahre dauern kann - nicht erspart bleiben und hängt die Entscheidung vom Ermessen des Richters ab."
Die Afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission, AIHRC) schreibt in einem Bericht vom Dezember 2008, dass Weglaufen von keinem afghanischen Gesetz als Verbrechen oder Verstoß eingestuft werde. Allerdings werde dieses Thema von Gerichten unterschiedlich gehandhabt. Viele Gerichte würden Weglaufen als Verbrechen behandeln. Dies liege in der Überzeugung begründet, dass eine Frau ihr Haus nicht ohne Mahram (männliche verwandte Begleitperson) verlassen dürfe. Bei diesem werde angenommen, dass er nicht Zina (vor- bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr) mit der Frau begehen werde. Paare, die von zu Hause weglaufen um zu heiraten, würden oft inhaftiert. Der Mann werde wegen Entführung und die Frau wegen Zina angeklagt. Dies widerspreche Artikel 425 des afghanischen Strafgesetzbuches von 1976.
Anklagen gegen Frauen, die von zu Hause weglaufen, um einer Zwangsheirat zu entkommen, seien hinsichtlich des Schutzes der Familie von besonderer Bedeutung. Die Mehrheit dieser Fälle werde nach traditionellen Praktiken entschieden, die manchmal im Gegensatz zum Zivilrecht stünden. In einem Fall aus dem Jahr 2006 sei eine 19-jährige Frau aus Samangan von zu Hause weggelaufen, um einen Mann zu heiraten. Das Paar sei von der Polizei gefunden und verhaftet und von einem Richter wegen vorehelichem Sex zu jeweils 18 Monaten Haft verurteilt worden. Dem Paar wurde nicht erlaubt zu heiraten.
Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum LandInfo berichtet im Mai 2011, dass es Beispiele von weggelaufenen Paaren gebe, die nach Verhandlungen in oder Entscheidungen durch lokale Räte (Shura/Jirga) erfolgreich reintegriert worden seien. Gleichzeitig sei es jedoch klar, dass weggelaufene Paare nicht nur der Gefahr von Sanktionen durch die eigenen Familien, sondern auch von Reaktionen seitens lokaler Machthaber und Gerichte ausgesetzt seien. Im August 2010 habe Amnesty International (AI) von einer Steinigung eines Paares in einem von den Taliban kontrollierten Dorf in Kunduz berichtet. Das Paar sei zunächst nach Pakistan geflüchtet, nach einer Einigung zwischen den Familien allerdings in das Dorf zurückgekehrt. Nichtsdestotrotz sei es anschließend von einem lokalen Talibanrat zum Tod durch Steinigung verurteilt worden.
In einem im Mai 2012 veröffentlichten Bericht zu einer Fact Finding Mission nach Afghanistan schreibt das Danish Immigration Service (DIS) unter Berufung auf Angaben der Lawyers Union of Afghanistan (LUA), dass eine vor- bzw. außereheliche Beziehung zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau eine ernste Verletzung der Familienehre, und insbesondere der Ehre der Familie der Frau, darstelle. Die Familie der Frau könne damit drohen, sowohl ihre eigene Tochter als auch den Mann und seine Familie zu töten, unabhängig davon, ob es sich bei der vor- bzw. außerehelichen Beziehung um eine sexuelle oder eine rein freundschaftliche gehandelt habe. Gegen den Mann gerichtete Drohungen könnten sich ausweiten und zu Drohungen zwischen den Familien führen. Wenn es sich bei dem Vater der Frau um einen Warlord handele, hätten Drohungen ernste Konsequenzen. Sei die Beziehung sexueller Natur gewesen, sei sogar das Leben des Paares in Gefahr. Laut LUA gebe es viele Ehrverbrechen in Afghanistan, und in manchen Fällen seien sowohl die Frau als auch der Mann getötet worden. In einigen Gebieten komme es in diesen Fällen, ohne Einschaltung eines Gerichts, zur Steinigung.
Im selben Bericht äußert sich UNHCR zu der Frage, mit welchen Konsequenzen ein junger Mann rechnen müsse, der eine außereheliche Beziehung mit einer jungen Frau geführt habe. Laut UNHCR sei diese Situation sowohl für den Mann als auch für seine Familie gefährlich. Wenn es innerhalb der Familie der Frau eine einflussreiche Person gebe, deren Ruf und Ehre bedroht sei, sei die Gefahr sogar noch größer.
Einer unabhängigen Forschungseinrichtung in Kabul zufolge seien es vor allem junge Frauen, die Ehrenmorden zum Opfer fallen, wenn mit Ehre in Verbindung stehende Konflikte nicht auf friedliche Art und Weise gelöst würden. Für junge Männer sei es einfacher, das Gebiet zu verlassen und anderswo zu leben.
Laut AIHRC würde die Familie der Frau das Problem häufig durch eine Heirat lösen. Allerdings würden Familien mit hohem Status keine Heirat zwischen ihrer Tochter und einem jungen Mann mit niedrigerem Status akzeptieren. Bei einer interethnischen Beziehung sei es sogar noch schwieriger. Häufige Konsequenzen einer vor- bzw. außerehelichen Beziehung seien die Tötung des Mannes, die Verstümmelung seines Körpers, gegen ihn gerichtete harte Schläge oder seine Inhaftierung aufgrund von Entführungsvorwürfen. In einem Fall sei ein junges Paar, das nach Pakistan geflüchtet sei, von den Familien überredet worden, zurückzukehren. Nach der Rückkehr des Paares sei der Mann wegen Entführung angeklagt und inhaftiert worden.
Rechtsschutz / Justizwesen:
Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.08.2017; vgl. AB 07.06.2017, AP o.D.).
Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Scharia-] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o. D.).
Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.02.2018 in Kraft getreten ist. Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden.
Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen;
jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.04.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell;
traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 03.03.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.04.2018).
Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).
Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).
Nach dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.05.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).
Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist) durch (USDOS 20.04.2018).
Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, währed 21.4% sich an die Huquq-Abteilung ["Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.04.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 03.03.2017; vgl. USDOS 20.04.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.04.2018).
Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.04.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 03.03.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.03.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.04.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus ["wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.03.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).
Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.04.2017; vgl. FH 11.04.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.04.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.04.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 01.01.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.02.2018).
Folter und unmenschliche Behandlung durch den afghanischen Staat:
Gemäß den Artikeln 29 und 30 der afghanischen Verfassung ist Folter verboten. Aussagen und Geständnisse, die durch Zwang erlangt wurden, sind ungültig (AA 9.2016; vgl. MPI 27.01.2004, AA 5.2018). Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) (UNAMA 15.02.2018). Am 22.04.2017 genehmigte die afghanische Regierung ein neues Anti-Folter-Gesetz und erweiterte das im ursprünglichen Strafgesetzbuch enthaltene Folterverbot. Das neue Gesetz bezieht sich jedoch nur auf Folterungen, die im Rahmen des Strafrechtssystems erfolgt sind, und nicht eindeutig auf Misshandlungen, die von militärischen sowie anderen Sicherheitskräften verübt werden (USDOS 20.04.2018). Fehlende Regelungen zur Entschädigung von Folteropfern wurden im August 2017 durch ein entsprechendes Addendum ergänzt (HRW 07.08.2017; vgl. HRW 18.01.2018).
Trotz dieser Vorgaben gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlungen durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Gefängnispersonal und Polizei. Quellen zufolge wenden die Sicherheitskräfte weiterhin exzessive Gewalt an, einschließlich Folter und Gewalt gegen Zivilisten (USDOS 20.04.2018). Personen, die im Rahmen des bewaffneten Konflikts festgenommen wurden, werden insbesondere während des ersten Verhörs gefoltert, um Geständnisse zu erhalten, (USDOS 20.04.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 4.2017).
Im Zuge einer Befragung gaben für den Zeitraum 01.01.2015 - 31.12.2016 181 (39%) von 469 befragten Personen an, von den afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräften (ANDSF) gefoltert worden zu sein. Auch 38 (45%) von 85 befragten Kinder gaben an im Berichtszeitraum Opfer von Folter oder Missbräuchen geworden zu sein. Die meisten Misshandlungen fanden unter der Obhut des National Directorate of Security (NDS) und der afghanischen Nationalpolizei statt (ANP) (UNAMA/OHCHR 4.2017).
Zwei Jahre nach der Verlautbarung des Nationalplans von 2015 zur Eliminierung der Folter durch die afghanische Regierung, hat diese einige dauerhafte Fortschritte gemacht, insbesondere auf der Gesetzesebene. Zahlreiche im Nationalplan eingegangene Hauptverpflichtungen wurden jedoch nur teilweise verwirklicht (UNAMA/OHCHR 4.2017).
Allgemeine Menschenrechtslage.
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (AA 5.2018).
Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen "moralischer Straftaten") und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung, besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen (USDOS 20.04.2018). Regierungsfreundlichen Kräfte verursachen eine geringere - dennoch erhebliche - Zahl an zivilen Opfern (AI 22.02.2018).
Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage (AA 5.2018). Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 5.2018; vgl. MPI 27.01.2004). Afghanistan hat die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert (AA 5.2018). Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen operieren in der Regel ohne staatliche Einschränkungen und veröffentlichen ihre Ergebnisse zu Menschenrechtsfällen. Regierungsbedienstete sind in dieser Hinsicht einigermaßen kooperativ und ansprechbar (USDOS 20.04.2018). Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Afghanistan Independent Human Rights Commission AIHRC bekämpft weiterhin Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte, das Komitee für Drogenbekämpfung, berauschende Drogen und ethischen Missbrauch sowie der Jusitz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss (USDOS 20.04.2018).
Im Februar 2016 hat Präsident Ghani den ehemaligen Leiter der afghanischen Menschenrechtskommission, Mohammad Fand Hamidi, zum Generalstaatsanwalt ernannt (USDOD 6.2016; vgl. auch NYT 03.09.2016).
Seit 01.01.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.02.2018).
Haftbedingungen:
Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (Mol), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.04.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).
Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-Charkhi- Gefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u. a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.04.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).
Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.04.2018).
Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).
Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.04.2018).
Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.04.2018).
Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 2015 und Dezember 2016 zufolge berichteten 39% der Befragten, dass sie während der Verhaftung oder des Gewahrsams in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des NDS oder der ANP gefoltert bzw. misshandelt geworden würden (HRC 21.02.2018). Trotz des rechtlich verankerten Folterverbots wird von Foltervorfällen durch die afghanischen Sicherheitskräfte und andere Akteure bis hin zur Entourage des ersten Vizepräsidenten, des Generals Abdul Rashid Dostum, berichtet (HRW 2018; vgl. USDOS 20.04.2018).
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem werden beide Praktiken weiterhin betrieben. Diese stellen in den meisten Provinzen ein Problem dar. Beobachtern zufolge werden Personen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert. Teilweise auch deshalb, weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit einen Strafprozess abzuwickeln (USDOS 20.04.2018). Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen Verstößen gegen die Moral, Vertragsbruch, Familiendisputen und zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass oft Frauen für "moralische" Vergehen inhaftiert werden (USDOS 20.04.2018; vgl. BTI 2018). Die angekündigten Reformen u.a. zur Beendigung der unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Jungfräulichkeitsunter-suchungen bei inhaftierten Frauen wurden nicht durchgeführt (HRW 2018; vgl. USDOS 20.04.2018). Oft werden Frauen wegen versuchter zina [Ehebruch] angeklagt, um Verhaftungen wegen Verstöße gegen die Sitten, wie das Davonlaufen von Zuhause, die Ablehnung designierter Ehemänner, die Flucht vor häuslicher Gewalt usw. rechtlich zu legitimieren. Einige Frauen, die Missbräuche anzeigen, werden verhaftet und anstelle von verurteilten Familienmitgliedern eingesperrt in der Annahme, dass diese sich stellen würden, um die Freilassung der Frau zu bewirken. In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 20.04.2018).
Todesstrafe:
Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 5.2018). Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.02.2018 in Kraft getreten ist, sieht die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen usw. vor (MoJ 15.05.2017: Art. 170). Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt (MoJ 15.05.2017: Art. 169). Sie wird durch Erhängen ausgeführt (AA 5.2018).
Die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen wurde durch den neuen Kodex signifikant reduziert (HRC 21.02.2018). So ist bei einigen Straftaten statt der Todesstrafe nunmehr lebenslange Haft vorgesehen (AI 22.02.2018).
Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch). Berichten zufolge wurden im Jahr 2017 elf Menschen zu Tode verurteilt (AA 5.2018). Im November 2017 wurden fünf Männer im Pul-e-Charki-Gefängnis hingerichtet (AI 22.02.2018; vgl. HRC 21.02.2018). Des Weiteren fand am 28.01.2018 die Hinrichtung von drei Menschen statt. Alle wurden aufgrund von Entführungen und Mord zum Tode verurteilt. Zuvor wurden 2016 sechs Terroristen hingerichtet (AA 5.2018). Im Zeitraum 01.01. - 30.11.2017 befanden sich weiterhin 720 Person im Todestrakt (HRC 21.02.2018).
In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können. Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, ist davon auszugehen, dass weiter Todesurteile vollstreckt werden (AA 5.2018).
2. Beweiswürdigung:
Dier Sachverhalt selbst ist unstrittig und wurde vom BFA ausreichend ermittelt und festgestellt. Dementsprechend schließt sich das erkennende Gericht inhaltlich gänzlich der Beweiswürdigung des BFA, die in sich nachvollziehbar und schlüssig ist, an.
Das BFA hat insbesondere den Ausführungen des Beschwerdeführers geglaubt, dass er mit einer Cousine eine auch sexuelle Beziehung hatte, dabei vom Bruder seiner Partnerin beobachtet worden wäre und deswegen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gefährdet wäre vom eigenen Vater als auch vom Vater seiner Partnerin und weiteren Familienmitgliedern in Afghanistan bei einer Rückkehr verfolgt und letztlich sogar getötet zu werden. Aus den vom BFA vorgelegten Unterlagen des Verwaltungsverfahrens ergeben sich keine Hinweise, dass dieses Vorbringen des BF falsch wäre, wenngleich in einer nicht unwesentlichen Zahl von beim BVwG anhängig gemachten Beschwerdeverfahren ähnliche Fluchtgeschichten vorgetragen werden, die sich zumeist als unwahr herausstellen.
Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan, zur Stellung von Frauen in Afghanistan und zur Problematik von außerehelichem Geschlechtsverkehr in Afghanistan entstammen dem Länderinformationsblatt des BFA, Stand 22.01.2019, und den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie der verfahrensgegenständlichen Angelegenheit zugrunde gelegt werden konnten.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Allgemeines und Verfahrensrecht:
Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Zu A):
3.2. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist damit, dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen steht (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0113, VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350).
Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK) lautet:
"Artikel 1
Definition des Ausdruckes "Flüchtling":
A. Als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens ist anzusehen, wer:
[...]
2. sich infolge von vor dem 1. Jänner 1951 eingetretenen Ereignissen aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen;
[...]"
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatsta