Entscheidungsdatum
02.05.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W191 2165142-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX geboren am XXXX Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Georg Bürstmayr, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2017, Zahl 1089447807-151469409, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.03.2019 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 01.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF. Ein Konsultationsverfahren mit dem Mitgliedstaat Kroatien bezüglich der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF verlief negativ
1.2. In seiner Erstbefragung am 01.10.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion (PI) Traiskirchen, Erstaufnahmestelle (EAST), gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er stamme aus Pol-e Khomri, Baghlan (Afghanistan), sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, sunnitischer Moslem und ledig. Seine Eltern seien vor ca. zehn Jahren verstorben und er habe nur mehr seinen Bruder. Er habe von 2007 bis 2015 die Grundschule besucht. Als Geburtsdatum wurde der XXXX festgehalten.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er in einer Apotheke gearbeitet habe. Vor ca. fünf Monaten sei er nach Dienstschluss von mehreren bewaffneten Männern entführt, in einen Keller gebracht und vergewaltigt worden. Am nächsten Tag sei er freigelassen worden, habe sich aber geschämt und sich nicht an seine Verwandten wenden können. Er habe dann Afghanistan alleine verlassen, sein Bruder sei bei den Verwandten geblieben.
1.3. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) führte aufgrund der Angaben des BF zu seinem Reiseweg ein Konsultationsverfahren gemäß Dublin-Übereinkommen betreffend die Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF mit dem Mitgliedstaat Kroatien, das offenbar negativ verlief.
1.4. Das BFA hatte offenbar Zweifel an dem festgehaltenen Geburtsdatum (Aktenvermerk "Indikatoren für Altersfeststellung" ohne Datum, Aktenseite 31; Schreiben von RÖNTGEN AM RING vom 16.10.2015, Aktenseite 35) und veranlasste eine sachverständige medizinische Altersschätzung.
Laut Gutachten vom 27.12.2015 - nach Untersuchung am 12.12.2015 (Anamnese, körperliche Untersuchung, Orthopantomogramm - Zahnpanorama und Röntgenaufnahme der Schlüsselbeine) - konnte eine Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen werden. Aus dem erhobenen Mindestalter ergebe sich jedoch ein fiktives Geburtsdatum XXXX , das mit Verfahrensanordnung des BFA vom 09.02.2016 (ein Nachweis über die Zustellung an den BF liegt dem Verwaltungsakt nicht ein) festgelegt wurde.
1.5. Bei seiner Einvernahme am 22.05.2017 vor dem BFA, Regionaldirektion Wien, im Beisein eines Dolmetsch namens " XXXX " für die Sprache Dari, machte der BF Angaben zu seinen Lebensumständen, die im Wesentlichen mit jenen bei seiner Erstbefragung übereinstimmten, und beantwortete weitergehende Fragen recht detailliert.
Zu seinem Fluchtvorbringen befragt gab der BF an (Auszug aus der Einvernahmeniederschrift, Schreibfehler nicht korrigiert):
"Seitdem ich meine Eltern verloren habe, bin ich mit meinem Bruder zu meinem Großonkel gegangen. Als ich angefangen habe, in der Apotheke zu arbeiten, war ich der erste Lehrling. Ich hatte die Verantwortung, die Apotheke in der Nacht zuzusperren. In dieser Zeit war ich immer alleine. Im April 2015 ist auf meinem Heimweg von der Apotheke ein PKW stehengeblieben. Es steigen 4 bewaffnete Männer aus, die mich mitgenommen haben. Sie haben mir meine Augen verbunden und ich konnte nichts mehr sehen. Ich wurde in einen Keller gebracht. Diese 3 Männer haben mich vergewaltigt. Ich konnte nichts dagegen machen. Danach war ich bewusstlos. Am nächsten Tag, als ich wach war, habe ich gesehen, dass sie mich draußen neben einem Fluss geschmissen haben. Danach bin ich 2 1/2 Stunden zu Fuß zur Apotheke gegangen. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich immer öfter Ängste. Es war psychologisch sehr schwer für mich. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich meine Heimat verlassen habe. Die Gesichter dieser Personen konnte ich nicht erkennen. Deshalb hatte ich ab diesem Zeitpunkt vor jedem Angst. In Afghanistan ist man nach so einer Misshandlung die Schande für die ganze Familie. Es hätte niemand erfahren dürfen."
Der BF beantwortete weitere Fragen zu seinem Fluchtvorbringen. Ihm wurde die Möglichkeit eingeräumt, in "die Länderfeststellungen des BFA zu Afghanistan" Einsicht und Stellung zu nehmen, wozu er um Zusendung per E-Mail ersuchte. Ihm wurde eine Frist zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.
Der BF legte zahlreiche Belege zu seiner Integration vor.
1.6. Mit von einer Hilfsorganisation unterstützt erstelltem Schreiben vom 12.06.2017 erstattete der BF eine Stellungnahme.
Er sei Vollwaise, seit er noch sehr klein gewesen sei. Sein Fluchtvorbringen habe er im Wesentlichen konsequent gleichlautend erzählt und er sei in Österreich in psychotherapeutischer Behandlung.
1.7. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 26.06.2017 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 01.10.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.)
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen seine Abschiebung nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Seine Fluchtgeschichte beurteilte das BFA als unglaubhaft und stützte diese Wertung im Wesentlichen auf angegebene Widersprüche, etwa dass der BF die Zahl der ihn vergewaltigenden Männer unterschiedlich mit zwei bzw. drei sowie die Dauer seines Fußmarsches vom Fluss zur Apotheke mit einer halben bzw. zweieinhalb Stunden angegeben hätte.
1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines damals zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 14.07.2017 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften ein.
In der Beschwerdebegründung wurde ausgeführt, dass die belangte Behörde die Beweiswürdigung unzutreffend vorgenommen hätte. Die angeblichen Widersprüche würden sich aus Protokollierungsmängeln, auch aufgrund der Traumatisierung und Übermüdung des BF bei seinen Befragungen bzw. bei den Rückübersetzungen, erklären.
Der BF habe sein Vorbringen lebensnah und glaubhaft erstattet.
1.9. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt am 21.07.2017 dem BVwG vor, wo die Angelegenheit nach mehreren gerichtsinternen Zuständigkeitsänderungen schließlich am 10.10.2018 der erkennenden Gerichtsabteilung zugewiesen wurde.
1.10. Mit Schreiben vom 13.12.2017 gab der nunmehrige anwaltliche gewillkürte Vertreter des BF seine Bevollmächtigung bekannt.
Mit Schreiben vom 07.03.2018 wurde moniert, dass bei der Einvernahme vor dem BFA Formvorschriften verletzt worden seien, was zu einer unrichtigen Beurteilung des Vorbringens des BF geführt hätte. So sei der offenbar approbationsbefugte Organwalter bei der Befragung am 22.05.2017 gar nicht anwesend gewesen und sei auch aus dem Protokoll nicht erkennbar, wer von den beiden anwesenden Beamten die Befragung geleitet hätte.
Zum Beleg für die tatsächlich erfolgte Vergewaltigung legte der BF ein ärztliches Attest vom 20.11.2017 vor, demzufolge der BF an mehreren Verletzungen - v.a. Analfissuren -, an rezenten Schmerzen im Analbereich u.a.m. leide, sowie dass er Schlafstörungen habe und seelisch traumatisiert sei.
Weiters gab der BF an, dass er sich nach diesem ihm widerfahrenen Ereignis von seiner bisherigen Religion abgewandt habe (Apostasie). Er habe diesen inneren Entschluss auch mit einem Austritt vor der Behörde (vorgelegte Religionsaustrittsbescheinigung des Magistrates der Stadt Wien vom 07.11.2017) öffentlich gemacht.
Mit Schreiben vom 09.04.2018 legte der BF weiters einen Klinisch-Psychologischen Befundbericht vom 21.03.2018 vor, demzufolge bei ihm eine ausgeprägte Posttraumatische Belastungsstörung ICD F 43.1 und eine depressive Episode ICD F32.1 diagnostiziert wurde. Der BF leide an Schlafstörungen, Angstzuständen und sei somatisiert (Kopfschmerzen, Augenbrennen) und füge sich wiederholt selbst Verletzungen zu.
Der BF legte sei Zeugnis über die bestandene Pflichtschulabschlussprüfung vom 02.03.2018 vor.
Mit Schreiben vom 28.05.2018 wurde ein Gutachten von Friederike Stahlmann vom 28.03.2018 zur Lage im Herkunftsstaat des BF eingebracht.
1.11. Das BVwG führte am 25.03.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF persönlich im Beisein seines gewillkürten anwaltlichen Vertreters und dreier Vertrauenspersonen erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] RI [Richter] prüft nach Aufruf der Sache die Identität und Stellung der Anwesenden sowie etwaige Vertretungsbefugnisse wie oben eingetragen.
Die Verhandlung ist öffentlich.
RI befragt BF, ob er aufgrund des behaupteten Eingriffes in seine sexuelle Selbstbestimmung den Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß § 20 Abs. 4 AsylG 2005 wünscht.
BFV [Vertreter des BF]: Da lediglich Bekannte und Vertrauenspersonen anwesend sind, wird davon abgesehen.
[...]
RI: Was ist Ihre Muttersprache?
BF: Dari. Ich verstehe darüber hinaus Urdu, Farsi und Englisch.
RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?
D: Dari.
RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.
Zur heutigen Situation:
RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Nein.
RI: Haben Sie nicht psychische Probleme?
BF: Ich leide an psychischen Problemen. Ich habe Juli/August 2017 ca. vier Mal alle zwei Wochen Psychotherapie in Anspruch genommen, nachdem mir vorher ein Psychiater eine Diagnose erstellt und Medikamente verschrieben hat. Schon im November/Dezember 2015 hatte ich sechsmal psychologische Betreuung. Immer wenn ich in Betreuung bin, kann ich schlecht schlafen und kommen mir die Erinnerungen wieder hoch. Ich bin daher derzeit nicht in Therapie und nehme keine Medikamente. Ich habe mich auch anfangs öfters selbst verletzt (Schnittwunden am Unterarm, brennende Zigarette).
BF zeigt Narben auf seinem Unterarm.
[...]
Der BF hat bisher keine Bescheinigungsmittel zu seiner Identität, jedoch mehrere Beweismittel für sein Fluchtvorbringen (ärztliche Bestätigungen, Religionsaustrittsbestätigung) vorgelegt. Heute legt der BF zusätzlich zu den bisher vorgelegten Beweismitteln bezüglich seiner Integration weitere vor (vier Empfehlungsschreiben, die zum Akt genommen werden).
BF: Meine Tazkira (afghanisches Personaldokument) habe ich unterwegs verloren.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ja.
RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?
BF: Ich bin Tadschike.
RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?
BF: Ich war früher sunnitischer Moslem, bin aber in Österreich ausgetreten.
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ich bin ledig und nicht verlobt.
RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?
BF (auf Deutsch): Ich bin acht Jahre in die Schule gegangen und habe schon mit zwölf Jahren nebenbei bei einem Apotheker gearbeitet.
RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
BF: Ich habe noch einen Bruder. Er lebt bei meinem Großonkel (Onkel väterlicherseits meiner Mutter). Der Sohn des Onkels (Cousin zweiten Grades) arbeitet auch in der Aptheke.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ich verstehe fast alles, was Sie sagen.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich habe im Jahr 2016 den Deutschkurs B1 besucht, aber keine Prüfung abgelegt. Im Jahr 2018 habe ich die Pflichtschule abgeschlossen (entspricht B1).
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF: Ich besuche zwei Mal in der Woche die Prosa Schule und helfe dort Mitschülern in Mathematik. Wir haben auch geschlechtsgeteilte Gesprächsrunden, wo wir über unsere privaten Probleme reden können.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?
BF: Ich gehe oft mit einem Freund ins Fitnesscenter. Freitags spiele ich drei Stunden Basketball.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein.
Angemerkt wird, dass der BF Fragen vielfach auf Deutsch beantwortet.
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ich kommunuziere ca. einmal in der Woche mit meinem Bruder über Facebook.
Die VP [Vertrauenspersonen] verlassen um 09:50 Uhr auf Ersuchen des RI im Einvernehmen mit dem BFV den Verhandlungssaal, da ungewiss ist, ob und inwiefern sie für eine Zeugeneinvernahme benötigt würden.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Sie wurden bereits im Verfahren vor dem Bundesasylamt zu den Gründen, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe), einvernommen. Die diesbezüglichen Niederschriften liegen im Akt ein.
Sind Ihnen diese Angaben noch erinnerlich und, wenn ja, halten Sie diese Angaben vollinhaltlich und unverändert aufrecht, oder wollen Sie zu Ihren Fluchtgründen noch etwas ergänzen oder berichtigen, das Ihnen wichtig erscheint?
BF: 30% meiner Angaben vor dem BFA wurden vom Dolmetscher falsch übersetzt. Auf dem Nachhauseweg stiegen aus einem Auto drei von vier Personen aus. Sie waren bewaffnet. Zwei von ihnen hielten mich fest, der dritte hat mir von hinten im Stehen die Augen verbunden. Im Protokoll steht hingegen, dass ich auf dem Boden gelegen wäre.
RI wiederholt die Frage.
BF: Ich habe die Wahrheit gesagt. Neu gegenüber meinem Vorbringen vor dem BFA ist, dass ich seit diesem Vorfall nicht mehr gläubiger Muslim bin. Das habe ich mich vor dem BFA nicht anzugeben getraut.
RI: Wie kam es zu dem Widerspruch, dass Sie einmal gesagt hätten, Sie wären, als Sie am nächsten Tag am Fluss aufgewacht wären, eine halbe Stunde bis zu Ihrer Arbeitsstätte gegangen, und einmal, zweieinhalb Stunden?
BF: Ich habe immer gesagt eine halbe Stunde, ich habe das auf Deutsch gesagt. Die anwesende VP Jakob ERNST war auch damals dabei und hat das gesagt.
RI: Warum wurden Sie entführt, glauben Sie?
BF: Ich weiß es nicht. Es ist aber in Afghanistan gang und gäbe, dass Personen, die Macht und Waffen haben, dies anderen Personen gegenüber ausnützen.
RI: Kennen Sie den Begriff Bacha Bazi?
BF: Ja, das gibt es in Afghanistan. Ich habe das selber nicht gesehen und erlebt, es mir aber auf YouTube angeschaut. Das sind Jungen, denen Mädchenkleider angezogen werden. Sie müssen für die Männer tanzen und werden anschließend sexuell missbraucht.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihm die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.
Die Verhandlung wird um 10:25 Uhr unterbrochen und um 10:30 Uhr fortgesetzt. Die Vertrauenspersonen betreten wieder den Verhandlungssaal. Sie werden nicht als Zeugen einvernommen, doch werden Angaben von ihnen als sonstiges Beweismittel in die Sachverhaltsermittlung einfließen.
RI an VP: Haben Sie bemerkt, ob und wie sich das Erlebnis, das der BF erzählt, in seinen Lebensumständen in Österreich äußert?
VP1: Ja, seine Erählungen sind nachvollziehbar. Ich kenne ihn seit ca. 2016, und er war damals in der Schule oft auffallend unkonzentriert und hat sich auch selbst verletzt. Wir haben versucht, ihn zu stabilisieren, und er war sechs Monate auf der Warteliste für eine Psychotherapie bei Hemayat.
BF: Zuerst habe ich noch auf einen anderen Psychologen gewartet, und erst als ich dort keinen Termin bekommen habe, kam ich auf die Liste von Hemayat.
VP1: Ca. ein halbes Jahr, nachdem ich den BF kennengelernt hatte, hat er mir seine Geschichte anvertraut. Es war zuerst Beziehungsarbeit notwendig.
VP3: Ich habe den BF im Oktober 2015 kennengelernt. Der BF hat sich mir sehr bald anvertraut und hat mir das Protokoll der Erstbefragung in die Hand gedrückt mit den Worten: "Please, tell nobody". Ich war froh, dass er das seiner Vertrauenslehrerin auch gesagt hatte und daher auch eine andere Person davon Kenntnis hatte. Ich habe mitbekommen, dass es ihm immer wieder psychisch sehr schlecht gegangen ist. Er hatte Schlafstörungen. Die Psychotherapie hat er abgebrochen, weil er über seine Probleme nicht reden konnte.
VP2: Ich kenne den BF seit 2016, er hat mir erst im Jahr 2017 von seinen Problemen erzählt und mich auch ersucht, davon niemandem zu erzählen. Er hat auch zeitweise viel Alkohol getrunken, um sein Problem zu vergessen.
RI an BF: Trinken Sie auch derzeit?
BF: Nein.
VP3: Es ist tatsächlich viel besser geworden.
BFV an VP1: Haben Sie Erfahrung mit traumatisierten Flüchtlingen?
VP1: Ja, ich bin Sozialarbeiterin, aber nicht Psychotherapeutin. Die Schule wirkt stabilisierend. Ich bin zwar nicht Psychotherapeutin, kann aber aufgrund meiner Erfahrung beurteilen, welche Probleme bestehen und ob es sich um Symptome einer Traumatisierung handelt.
BFV: Haben Sie Anzeichen gesehen, dass er die Geschichte vorspielt?
VP1: Nein.
RI an BF: Wieso sind Sie damals nach dem Vorfall noch ca. einen Monat in Afghanistan geblieben und in die Arbeit gegangen?
BF: Ich hatte keinen anderen Ausweg, ich konnte mit niemandem darüber sprechen. Wenn ich nicht in die Arbeit gegangen wäre, hätte man mich gefragt, warum. Ich bin zwar zur Arbeit gegangen, habe aber alle Arbeitsschritte falsch gemacht.
RI: Ist das nicht aufgefallen?
BF: Doch, ich wurde oft gefragt. Ich habe gesagt, nein, es ist nichts. Als ich gesehen habe, dass sich der Druck in mir erhöht, habe ich keinen anderen Ausweg, als das Land zu verlassen, gesehen.
RI: Wie haben Sie das gemacht?
BF: Ich habe meine Eltern bereits verloren. Es gab keine offizielle Obsorge für mich. Dem Großonkel und seiner Frau habe ich gesagt, dass ich mir dort kein Leben aufbauen kann und fortgehen werde.
RI: Wie sind Sie fortgegangen? Wie haben Sie das gemacht?
BF: Ich bin per Reisebus nach Kabul und von dort schlepperunterstützt über Kandahar nach Quetta (Pakistan) gefahren. Das Geld bekam ich von meinem Cousin zweiten Grades als Lohn dafür, dass ich fünf Jahre ohne Gehalt gearbeitet hatte (ca. 3000 Euro). 2000 Euro waren als Geschenk gedacht, ich schulde ihnen 1000 Euro.
Ri an VP: Sie waren bei der Einvernahme vor dem BFA dabei? Können Sie sich an die Frage bezüglich der Dauer seines Ganges zur Arbeitsstätte nach dem Vorfall erinnern?
VP2: Ich kann mich ungefähr erinnern. Der BF hat mir gesagt, dass der Dolmetsch die Antwort falsch übersetzt hätte.
BF: Ich habe diese Frage sogar auf Deutsch beantwortet und den Referenten auf die falsche Übersetzung hingewiesen. Er hat gesagt, er würde dies richtigstellen, hat dies aber nicht getan.
BFV: Aus den bisherigen Verfahrensergebnissen erscheint glaubhaft, dass der BF vor seiner Flucht aus Afghanistan tatsächlich eine oder mehrere Vergewaltigungen erlebt hat und damit zur sozialen Gruppe junger afghanischer Männer, die Opfer von sexuellen Übergriffen/Vergewaltigungen wurden, gehört. Aus der Anfragebeantwortung vom 06.10.2015 geht deutlich hervor, dass Angehörige dieser sozialen Gruppe landesweit Handlungen, die einer Verfolgung gleichzusetzen sind, befürchten müssen. Die glaubhaft gemachte schwere Traumatisierung des BF lässt es zudem als ausgeschlossen erscheinen, dass der BF im Falle seiner Rückkehr dieen Vorfall tatsächlich dauerhaft geheimhalten könnte, weshalb in Summe von einer aktuellen Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr auszugehen ist. Anders als die belangte Behörde vermeint, sind die vorsichtigen, von der belangten Behörde als oberflächlich bezeichneten Angaben des BF zur erlittenen Vergewaltigung eher als typisch für Opfer derartiger Vergewaltigungen anzusehen. Dies jedenfalls solange, bis das dadurch ausgelöste Trauma halbwegs erfolgreich aufgearbeitet wurde. Eben dies ist im Fall des BF erkennbar nicht der Fall. Ich gehe als Vertreter des BF daher davon aus, dass schon jetzt die Flüchtlingseigenschaft des BF glaubhaft gemacht wurde, weshalb ich auf den weiteren Nachfluchtgrund der Apostasie aus Gründen der Verfahrensökonomie hier nicht weiter eingehe.
RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BFV, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.
RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht.
Weitere Beweisanträge: Keine. [...]"
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 01.10.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 22.05.2017 sowie die Beschwerde vom 14.07.2017
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 242 bis 284)
* Einsicht in die im Beschwerdeverfahren vorgelegten medizinischen Belege bezüglich der vorgebrachten Vergewaltigung (Physis und Psyche) vom 20.11.2017 sowie vom 21.03.2018, bezüglich seines Religionsaustrittes sowie bezüglich seiner Integration (Pflichtschulabschluss, Empfehlungsschreiben)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 25.03.2019 sowie Befragung von anwesenden Vertrauenspersonen (als sonstige Beweismittel im Sinne des AVG)
* Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Baghlan, zur Lage von Kindern und Homosexuellen sowie zur Religionsfreiheit (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 01.03.2019) sowie
o Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Vergewaltigungen von Männern/Jungen durch Männer (Umgang der Gesellschaft mit diesem Thema: Konsequenzen für den vergewaltigten Mann/Jungen; Schutzwilligkeit/-fähigkeit der Polizeu in solchen Fällen) [a-9353-1]
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekannte sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Laut Religionsaustrittsbescheinigung des Magistrates der Stadt Wien vom 07.11.2017 ist der BF in Österreich aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten.
Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht darüberhinaus Deutsch auf Niveau B1 und versteht Farsi, Urdu und Englisch.
3.1.2. Lebensumstände:
Der BF hat als Kleinkind seine Eltern verloren und wuchs gemeinsam mit seinem Bruder bei einem Großonkel auf. Er besuchte acht Jahre lang die Schule in Pol-e Khomri und war in einer Apotheke als Lehrling bzw. Gehilfe tätig.
Er verließ im Juni 2015 Afghanistan aus angegebenen Gründen und reiste über Pakistan, Iran, die Türkei, Griechenland und angegebene europäische Länder bis nach Österreich, wo er am 01.10.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
3.1.3. Der BF hat erhebliche physische (Analfissuren, Schmerzen im Analbereich u.a.m.) und psychische gesundheitliche Probleme (ausgeprägte Posttraumatische Belastungsstörung ICD F43.1 und eine depressive Episode ICD F32.1; Schlafstörungen, Angstzustände, Somatisierung und Selbstverletzungen).
Der BF hat mehrmals versucht, seine gesundheitlichen Probleme mit Therapien in den Griff zu bekommen, was ihm aber aufgrund seiner Traumatisierung schwer fällt.
3.1.4. Der BF hat sich von seiner bisherigen Religion abgewandt und ist am 07.11.2017 aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten.
3.1.5. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und bemüht sich in beachtlichem Ausmaß um seine Integration in Österreich. Er hat den Pflichtschulabschluss bestanden, betreibt Sport, wird von Vertrauenspersonen betreut und hat viele Bekanntschaften in Österreich.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
3.2.1. Der BF wurde in Afghanistan auf dem Nachhauseweg von seiner Arbeitsstelle (Apotheke) von unbekannten, bewaffneten Männern in einem Auto entführt und n einem Keller vergewaltigt. Als ihn der dritte Mann vergewaltigte, fiel der BF in Ohnmacht und wachte erst am nächsten Tag wieder neben einem Fluss auf.
Er konnte sich aufgrund der Stigmatisierung von vergewaltigten Männern in Afghanistan niemandem anvertrauen, litt sehr unter diesem Ereignis und flüchtete ca. ein Monat nach dem Vorfall aus dem Land.
Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchtet der BF, auf Grund dieser Stigmatisierung, die aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme jedenfalls bekannt und schlagend werden würde, nach der dort allgemein vorherrschenden Ansicht wegen zumindest unterstellten unerlaubten Verhaltens (gegen die Vorschriften der Scharia) verfolgt zu werden.
3.2.2. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen wäre.
3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 01.03.2019, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
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3. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
[...]
Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
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Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
[...]
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)