TE Bvwg Erkenntnis 2019/5/6 W261 2203942-1

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Veröffentlicht am 06.05.2019
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Entscheidungsdatum

06.05.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W261 2203942-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK! Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Maga. Nadja LORENZ, Rechtsanwältin, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle West, vom 23.07.2018, Zahl: XXXX nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 17.01.2019 und am 28.02.2019 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

Wesentliche Entscheidungsgründe:

I. Gang des Verfahrens:

Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste nach seinen Angaben am 31.10.2015 gemeinsam mit seinem Vater, seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Bruder irregulär in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner Erstbefragung am 01.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Oberösterreich gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Er sei in Afghanistan geboren. Er sei Tadschike und sunnitischer Moslem. Er habe gemeinsam mit seiner Familie Afghanistan verlassen, weil seine Schwester zwangserheiratet werden sollte. Sie habe das nicht gewollt, weswegen es zu einer Feindschaft der beiden Familien gekommen sei. Sein großer Bruder sei dabei mit dem Messer verletzt worden, der BF sei an der linken Hand verletzt worden. Sein Vater habe sodann die beiden älteren Brüder weggeschickt. Als die beiden weg gewesen seien, sei seine Schwester entführt worden. Nach drei Tagen hätte sie mit Hilfe der Polizei gefunden werden können. Da die andere Familie sie sogar im Iran gefunden habe, sei die ganze Familie nach Europa geflohen.

Am 10.04.2018 fand die Einvernahme des BF im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich (im Folgenden belangte Behörde oder BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari statt.

Der BF gab im Rahmen der Einvernahme bekannt, dass er in der Provinz Herat geboren sei, und bis zu seinem achten Lebensjahr dort gelebt habe. Dann sei er zu seinem Onkel mütterlicherseits in den Iran gezogen, wo er als dessen Stiefsohn drei Jahre lang die Schule besucht habe. Er habe angefangen als Schweißer zu arbeiten, dann habe er in der Bäckerei des Onkels mütterlicherseits gearbeitet. Sein Großvater habe seine Schwester einem Mann versprochen. Diese habe den Mann nicht heiraten wollen, weil er um vieles älter gewesen sei, und auch zu den Taliban gehört habe und gewalttätig gewesen sei. Seine Schwester habe versucht, sich umzubringen, weswegen sein Vater die Familie des Mannes gebeten habe, von der Ehe Abstand zu nehmen. Die Familie des Mannes habe auf die Ehe bestanden, weil es eine Schande für diese Familie gewesen wäre, hätte diese Ehe nicht stattgefunden. Die Schwester sei sodann in den Iran zum BF gekommen, wo diese von dem Mann entführt worden sei. Die Schwester sei mit Hilfe der Polizei befreit worden, auch der BF sei bei der Befreiung dabei gewesen, weswegen auch er von der Familie des Mannes verfolgt werde.

Mit Eingabe vom 17.04.2018 gab der BF durch Rechtsanwalt Dr. BLUM eine schriftliche Stellungnahme ab, wobei er eine Länderinformation der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 07.06.2017 zu Blutrache und Blutfehde ebenso vorlegte, wie eine Arztbrief betreffend den BF nach einem Fahrradunfall.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

In der Begründung des angefochtenen Bescheides traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF in seinem Herkunftsstaat einer staatlichen Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Er habe keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, vielmehr beziehe er sich lediglich auf die Fluchtgründe seiner Schwester, der jedoch die Glaubwürdigkeit zur Gänze abgesprochen worden sei, und die auch eine Rückkehrentscheidung erhalten habe. Es würden daher weder die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes vorliegen, noch erfülle der BF die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes. Dem BF stehe als innerstaatliche Fluchtalternative eine Rückkehr in die Stadt Herat offen, wo es ihm möglich sein werde, eine Lebensgrundlage zu finden. Die Voraussetzungen für ein humanitäres Bleiberecht würden nicht vorliegen, weswegen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen sei.

Gegen diesen Bescheid brachte der BF, vertreten durch den die ARGE Rechtsberatung Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gemeinsam mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder fristgerecht mit Eingabe vom 20.08.2018 das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein und legte eine Vertretungsvollmacht vor. In der Beschwerdebegründung führte der BF aus, dass der Bescheid zur Gänze angefochten werde.

Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt Akt mit Schreiben vom 21.08.2018 dem BVwG vor, wo dieser am 22.08.2018 einlangte.

Mit Eingabe vom 25.10.2018 gab Frau Maga. LORENZ, Rechtsanwältin in 1070 Wien ihr Vollmachtsverhältnis bekannt.

Am 17.01.2019 fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi statt, zu der der BF persönlich gemeinsam mit seiner bevollmächtigten Rechtsvertreterin erschien. Die belangte Behörde nahm an der mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht teil. Der BF gab dabei auf richterliche Befragung zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen das Gleiche an, was er bereits in seinen bisherigen Einvernahmen ausgesagt hatte. Er legte eine Reihe von Integrationsunterlagen und ärztlichen Bestätigungen vor. Das BVwG legte das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 08.01.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, Auszüge aus den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Dürre vom 13.09.2018, die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Christen, Konvertiten und Abtrünnigen vom 12.07.2017 vor. Nach eingehender Befragung des BF vertagte das BVwG die mündliche Beschwerdeverhandlung zur zeugenschaftlichen Einvernahme des Vaters und der Schwester des BF, die beide in Österreich als Asylwerber leben.

Das BVwG führte am 26.02.2019 eine Abfrage im Strafregister durch, wonach für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.

Laut Speicherauszug aus dem Betreuungssystem, den das BVwG ebenfalls am 26.02.2019 abfragte, befindet sich der BF in der aufrechten vorübergehenden Grundversorgung.

Am 28.02.2019 fand eine weitere mündliche Beschwerdeverhandlung statt, bei welcher der Vater und die Schwester des BF eingehend als Zeugen einvernommen wurden. Die belangte Behörde nahm entschuldigt an der Verhandlung nicht teil. Das BVwG legte die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN:

Stammeskonflikte, Blutrache, Paschtunwali vom 19.01.2018 und ein Gutachten von Mina ASEF-HAMMED vom 01.12.2015 zu Familienrecht, Ehre, Ehrenmord vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Die Rechtsvertreterin des BF teilte mit Eingabe vom 07.03.2019 mit, dass keine schriftliche Stellungnahme abgegeben werde. Auch die belangte Behörde gab keine schriftliche Stellungnahme ab.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu Spruchpunkt A)

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , geb. am XXXX , im Dorf XXXX , Distrikt XXXX in der Provinz Herat und ist afghanischer Staatsbürger. Der BF gehört zur Volksgruppe der Tadschike an und von Geburt sunnitischer Moslem. Die Muttersprache des BF ist Dari bzw. Farsi.

Der BF verbrachte die ersten Lebensjahre in seinem Geburtsdorf. Nach der Geburt seines jüngeren Bruders im Jahr 2004 besuchte der Onkel mütterlicherseits die Familie des BF. Er nahm den BF als "Adoptivkind" mit in den Iran, da er selbst keine Kinder hatte. Der BF war damals ca. acht Jahre alt. Er lebte fortan bei seinem Onkel mütterlicherseits und dessen Frau im Iran. Er besuchte eine Schule für Afghanen und half in der Backstube des Onkels aus. Nach ca. dreijährigem Schulbesuch begann der BF als Hilfsarbeiter in einem Geschäft zu arbeiten, danach arbeitete er für ca. 1 1/2 Jahre in einer Fabrik als Metalltechniker. Danach arbeitete er wieder in der Bäckerei seines Onkels. Er kehrte immer wieder zu Besuchen zu seiner Familie in sein Heimatdorf zurück.

Der Vater des BF heißt XXXX XXXX (IFA Zl. XXXX ), er ist ca. 55 Jahre alt. Die Mutter des BF heißt XXXX (IFA Zl. XXXX ), und ist ca. 49 Jahre alt. Die Eltern leben als Asylwerber in Österreich. In deren Asylverfahren sind Beschwerden beim BVwG anhängig. Der BF hat drei Brüder und zwei Schwestern. Die drei Brüder des BF und dessen jüngere Schwester, XXXX , (IFA Zl. XXXX ), leben ebenfalls als Asylwerber in Österreich. Die ältere Schwester des BF, XXXX , lebt als Witwe im Iran beim Onkel väterlicherseits ihres verstorbenen Mannes.

Der BF hat zwei Onkel mütterlicherseits, eine Tante mütterlicherseits und einen Onkel väterlicherseits und eine Cousine mütterlicherseits, die im Iran leben. Zwei Onkel mütterlicherseits sind Bäcker, der Onkel väterlicherseits ist Gelegenheitsarbeiter auf Baustellen. Der BF hat Kontakt zu seinem Onkel und seiner Tante mütterlicherseits, bei denen er als Kind aufwuchs.

Der BF war in seinem Herkunftsstaat kein Mitglied einer politischen Partei. Der BF ist in seinem Heimatstaat strafrechtlich unbescholten. Der BF ist Zivilist.

Der BF reiste im Jahr 2015 gemeinsam mit seiner Familie aus Afghanistan aus und stellte am 01.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

Der BF absolvierte Deutschkurse, zuletzt auf Niveau B 1. Er spricht bereits sehr gut Deutsch. Der BF legte am 13.11.2017 die Pflichtschulabschlussprüfung erfolgreich ab. In seiner Freizeit spielt der BF Fußball, geht ins Fitnessstudio oder spazieren, pflegt das Internet oder trifft sich mit österreichischen Freunden. Der BF betet nicht und besucht auch keine Moschee. Der BF unterstützte seine Schwester, XXXX , dabei, dass sie in Österreich getrennt von ihren Eltern in einer anderen Unterkunft leben kann.

1.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Vater des BF kämpfte vor ca. 16 Jahren mit Waffen der Regierung in seinem Heimatdorf gegen die Taliban. Die Dorfbewohner verloren den Kampf gegen die Taliban. Der Vater des BF kam in das Dorf zurück, und sein Vater, der Großvater des BF, riet ihm, nach Herat zu gehen, was der Vater des BF auch tat. Er zog mit seiner Frau und den Kindern nach Herat. Nach ca. zwei Jahren forderte den Vater des BF dessen Vater auf, wieder in sein Heimatdorf zurückzukehren, um ihm in der Landwirtschaft zu helfen. Der Vater des BF entsprach diesem Wunsch und kehrte mit seiner Familie wieder in sein Heimatdorf zurück. Nach ca. sechs Monaten wurde der Vater des BF von den Taliban mitgenommen und in die Region Farah gebracht, wo der Vater des BF von den Taliban misshandelt wurde. Der Großvater des BF versuchte alles, um seinen Sohn frei zu bekommen. Er wandte sich an einen Freund, namens XXXX , der auch ein Paschtune und Talib war. Dieser schaffte es, den Vater des BF freizubekommen. Der Großvater des BF sagte XXXX , dass er sich als Dank für die Befreiung seines Sohnes etwas aussuchen dürfe. Dieser suchte sich, auch um die Freundschaft der beiden Familien durch eine Verwandtschaft zu verfestigen, die Enkelin des Großvaters, somit die Schwester des BF, XXXX , die damals noch ein Kleinkind war, als Frau für seinen Sohn aus. Der Großvater und der Vater des BF willigten ein, es kam der Mullah, und die beiden Familien vollzogen eine Verlobungszeremonie, bei welcher die Familie der Braut der Familie des Bräutigams etwas Süßes schenkt.

In den nächsten 10 bis 12 Jahren hörte die Familie des BF nichts mehr von der Familie des XXXX . Ende des Jahres 1393 (2014/2015) kamen zwei Taliban mit dem Motorrad zum Haus des Vaters des BF und sagten ihm, dass sie die Söhne des XXXX seien, und einer von ihnen, XXXX , die versprochene Ehe mit der Schwester des BF eingehen wolle. Nachdem der Vater des BF nur XXXX kannte, der jedoch verstorben war, wollte er einen Beweis dafür haben, dass es sich tatsächlich um die Söhne dieses Mannes handelte, woraufhin diese drei Tage später mit ihrer Familie zurückkehrten.

Der Vater des BF informierte seine Tochter darüber, dass sie nun erwachsen ist, und heiraten muss, weil ihr Großvater sie einem Mann versprochen hat. Die Schwester des BF war damit nicht einverstanden. Trotzdem wurde die Nikah, das ist die islamische Eheschließung vor dem Mullah, zwischen der Schwester des BF und XXXX , vollzogen. Die beiden blieben nach der Zeremonie alleine in dem Raum zurück, und XXXX zwang die Schwester des BF mit ihm den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Die Schwester des BF blieb danach einige Tage ruhig, weil sie die Ehre ihres Vaters nicht beschmutzen wollte. Nachdem die Familie des XXXX wieder nach Hause zurückkehrte, sprach dessen Schwester wieder mit dem Vater, und sagte ihm eindringlich, dass sie diesen Mann nicht wolle. Ihr Vater hörte nicht aus sie, woraufhin die Schwester des BF zwei Mal versuchte, sich da Leben zu nehmen. Über Intervention ihrer Mutter gelang es der Schwester des BF, ihren Vater umzustimmen, und der holte seine beiden Söhne aus dem Iran, damit diese die Schwester des BF mit in den Iran nehmen sollen. Nach ein oder zwei Wochen kamen die Brüder des BF, um ihre Schwester abzuholen. Auch XXXX wollte seine Braut zu sich nach Hause holen, da er davon gehört hatte, dass die Brüder des BF das Mädchen abholen wollen, und war mit drei oder vier Männern gekommen, um selbst die Schwester des BF abzuholen. Der Vater des BF versuchte XXXX zu erklären, dass seine Tochter nicht mitkommen will, woraufhin der Vater des BF von diesem geschlagen wurde. Auch die Brüder des BF mischten sich in den Streit ein und wurden ebenfalls geschlagen. Die Nachbarn schlichteten den Streit, schickten XXXX mit dem Hinweis weg, dass sie mit der Familie des BF reden werden. Noch in derselben Nacht schickte der Vater des BF seine Tochter und seine beiden älteren Söhne weg. Diese verbrachten zuerst eine Nacht bei der Familie deren älteren Schwester in XXXX und reisten am nächsten Tag in den Iran, wo die Schwester des BF gemeinsam mit dem BF beim Onkel mütterlicherseits lebte. Der Vater des BF ging auch zu seiner ältesten Tochter nach XXXX und nahm von dort aus mehrfach Kontakt mit der Familie des XXXX auf. Er bot an, die Kosten für eine neue Hochzeit mit einer anderen Frau zu bezahlen, damit seine Tochter aus der Ehe entlassen werde. Die Familie willigte jedoch nicht ein und bedrohten vielmehr den Vater des BF. Der Vater des BF floh in weiterer Folge mit der gesamten Familie schlepperunterstützt in den Iran.

Nach ca. einem Monat erhielt der Vater des BF im Iran am Handy Nachrichten von der Familie des XXXX , die ihn weiter bedrohten. Die Schwester des BF sah eine dieser Nachrichten und wollte sich daraufhin mit Tabletten umbringen. Sie konnte gerettet werden und verbrachte einen Tag und eine Nacht im Krankenhaus. Einige Tage später wollte die Schwester des BF Brot kaufen gehen, als sie auf offener Straße mit einem schwarzen Auto entführt wurde. Die Schwester des BF wurde betäubt und fand sich gefesselt in einem Zimmer wieder. XXXX hatte sie gefunden und machte ihr klar, dass sie seine Frau sei, und er sie nach Afghanistan mitnehmen wird, da dies sein Recht sei. Er vergewaltigte die Schwester des BF auf brutale Weise und ließ sie bewusstlos zurück. Der Vater des BF zeigte die Entführung bei der Polizei an. Die Polizei fand die Schwester des BF aufgrund eines Hinweises. Der BF und sein Onkel mütterlicherseits begleiteten die Polizei, um die Schwester des BF zu befreien. Die Polizei nahm zwei Personen fest, worunter einer der Cousin des Vaters des BF war. Drei oder vier Tage nach der Befreiung der Schwester des BF verließ die gesamte Familie den Iran in Richtung Türkei.

Der Vater des BF rief seinen Schwiegersohn in XXXX an, und bat ihn, dass er die Grundstücke des Vaters des BF verkauft, um die Kosten für den Schlepper bezahlen zu können, was diesem auch gelang. Nach einigen Wochen wurde der Schwiegersohn des Vaters des BF mit dem Auto angefahren und dabei lebensgefährlich verletzt, und er verstarb letztendlich im Krankenhaus. Er hinterlässt eine Frau, die ältere Schwester des BF, mit drei Kindern. XXXX und sein Bruder teilten mit, dass sie den Schwager angefahren haben.

Der BF ist als Mitglied der Familie seiner Schwester, XXXX , mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Blutrache und Ehrenmord betroffen, weil sich die Schwester des BF mit Unterstützung ihrer Familie, und im Speziellen auch mit der Unterstützung des BF, weigert, XXXX als Mann zu nehmen, und als seine Ehefrau zu ihm zu ziehen.

1.3 Zur Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers

Dem BF droht im Falle seiner Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr eines Eingriffes in seine körperliche Unversehrtheit durch die Familie des XXXX , die in ihrer Ehre verletzt sind. Die afghanischen Behörden sind nicht dazu in der Lage, den BF ausreichend vor dieser physischen und/oder psychischen Gewalt durch XXXX und seine Familie zu schützen. Dem BF steht keine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative in Afghanistan offen.

1.4 Zur Situation im Herkunftsstaat

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 26.03.2019, in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, in den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018, in der Arbeitsübersetzung Landinfo report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017, in den in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Stammeskonflikte, Blutrache, Paschtunwali vom 19.01.2018, die in der Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 07.07.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde, die im Gutachten Mina ASEF-HAMMED vom 01.12.2015 zu Familienrecht, Ehre und Ehrenmord und die in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Christen, Konvertiten und Abtrünnige in Afghanistan vom 12.07.2017 enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.4.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

1.4.1.1 Herkunftsprovinz Herat

Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans und liegt im Westen des Landes. Herat grenzt im Norden an die Provinz Badghis und Turkmenistan, im Süden an die Provinz Farah, im Osten an die Provinz Ghor und im Westen an den Iran. Die Provinz ist in folgende Bezirke eingeteilt, die gleichzeitig auch die administrativen Einheiten bilden: Shindand, Engeel/Injil, Ghorian/Ghoryan, Guzra/Guzara und Pashtoon Zarghoon/Pashtun Zarghun, werden als Bezirke der ersten Stufe angesehen. Awba/Obe, Kurkh/Karukh, Kushk, Gulran, Kuhsan/Kohsan, Zinda Jan und Adraskan als Bezirke zweiter Stufe und Kushk-i-Kuhna/Kushki Kohna, Farsi, und Chisht-i-Sharif/Chishti Sharif als Bezirke dritter Stufe. Provinzhauptstadt ist Herat-Stadt, welche sich im gleichnamigen Distrikt befindet und eine Einwohnerzahl von 506.900 hat. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.967.180 geschätzt. In der Provinz leben Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Uzbeken und Aimaken.

Herat wird als eine der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv. Des Weiteren wurde Ende Oktober 2017 verlautbart, dass die Provinz Herat zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen des Landes zählt, wenngleich sich in den abgelegenen Distrikten die Situation in den letzten Jahren aufgrund der Taliban verschlechtert hat.

Die Provinz ist u.a. ein Hauptkorridor für den Menschenschmuggel in den Iran bekannt - speziell von Kindern. Mitte Februar 2018 wurde von der Entminungs-Organisation Halo Trust bekannt gegeben, dass nach zehn Jahren der Entminung 14 von 16 Distrikten der Provinz sicher seien. In diesen Gegenden bestünde keine Gefahr mehr, Landminen und anderen Blindgängern ausgesetzt zu sein, so der Pressesprecher des Provinz-Gouverneurs. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der Präsenz von Aufständischen wurden die Distrikte Gulran und Shindand noch nicht von Minen geräumt. In der Provinz leben u.a. tausende afghanische Binnenflüchtlinge.

Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 139 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden in der Provinz Herat 495 zivile Opfer (238 getötete Zivilisten und 257 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Selbstmordanschlägen/komplexen Attacken und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 37% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um einige Gegenden von Aufständischen zu befreien. Auch werden Luftangriffe verübt; dabei wurden Taliban getötet. Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen finden statt. In Herat sind Truppen der italienischen Armee stationiert, die unter dem Train Advise Assist Command West (TAAC-W) afghanische Streitmächte im Osten Afghanistans unterstützen.

Anhänger des IS haben sich im Jahr 2017 in Herat zum ersten Mal für Angriffe verantwortlich erklärt, die außerhalb der Provinzen Nangarhar und Kabul verübt wurden.

ACLED registrierte für den Zeitraum 01.01.2017-15.07.2017 IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen die Zivilbevölkerung) in der Provinz Herat.

Bei der Provinz Herat (mit Ausnahme der Stadt Herat) handelt es sich laut EASO um einen jener Landesteile Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist.

1.4.2 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Ethnische Paschtunen, wie es XXXX einer ist, sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pasht. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken, wozu der BF und seine Familie zählt, ist die zweitgrößte; und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan. Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten: In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

1.4.3 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten.

Abtrünnige bekennen sich üblicherweise in Afghanistan nicht öffentlich. Sollten sie ihre Meinung öffentlich kundtun und sich auf Diskussionen einlassen, um ihren abtrünnigen Glauben vergleichend mit dem Islam zu verteidigen, werden sie von der Gesellschaft schlecht behandelt. Staatliche Behörden werden nur dann eingreifen, wenn sich Abtrünnige öffentlich äußern und soziale Probleme hervorrufen.

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen. Es gibt in Afghanistan viele Menschen, die während des Ramadans nicht fasten und freitags nicht beten. In ländlichen Gebieten wird diesen Personen von der Gesellschaft nahegelegt, (zumindest) das Freitags- und Ramadan-Gebet einzuhalten. Die Gesellschaft behandelt das Nichtbeten als kleine Vergehen. Das Nicht-Fasten ist in ländlichen Gebieten eine heiklere Angelegenheit. Vorfälle schlechter Behandlung wegen Nicht-Fastens durch die Gesellschaft kommen vor. Es gibt keine Berichte zur offiziellen Strafverfolgung wegen des Nicht-Fastens zu Ramadan. In städtischen Gebieten ist die Gesellschaft flexibler und weniger streng.

1.4.4 Terroristische und aufständische Gruppierungen

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte grundsätzlich vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus. Die Taliban haben hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet. Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans. Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten.

Die Taliban haben ein Netzwerk an Spitzeln in Afghanistan, allein in der Stadt Kabul sind drei verschiedene Taliban Nachrichtendienste nebeneinander aktiv. Es heißt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste der Taliban in Kabul über 1.500 Spione in allen 17 Stadtteilen haben. Selbst die, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden. Die Taliban behaupten, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, regelmäßig Berichte darüber zu erhalten, wer neu ins Land einreist.

Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr.

1.4.5 Familienrecht und Ehe

Die meisten geschlossenen Ehen in Afghanistan sind arrangiert. Die Entscheidungskraft über die Eheschließung des weiblichen Familienmitgliedes liegt bei den Männern (Vater und Brüder) des Hauses. Es ist üblich, dass Mädchen bereits im Kindesalter bzw. in den jungen Jahren von ihrem Vater bzw. Bruder oder aber auch zum Teil von ihrem Onkel väterlicherseits jemandem versprochen wird. Dieses Versprechen ist verbindlich. Falls sich die Familie des Mädchens an das Versprechen nicht hält, und die Familie des Jungen aber weiterhin Interesse an diesem Mädchen hat, kann das zu Konflikten mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Familie des Mädchens verbunden sein.

Wenn ein Bruder seine Schwester oder ein Vater seine Tochter jemandem verspricht, ist davon auszugehen, dass ihm die Familienverhältnisse des Mannes bekannt sind, dh ob der Mann bereits verheiratet ist oder nicht. Ein Mädchen kann auch als Zweit- oder Drittfrau versprochen und auch verheiratet werden. Das Versprechen ist zwar verbindlich, kann aber nicht mit der Verlobung gleichgesetzt werden. Die Gültigkeit eines Versprechens bzw. einer Verlobung setzt nicht voraus, dass die beiden betroffenen Personen gemeinsam leben.

Sobald eine Frau einem Mann versprochen ist, wird niemand anderer um die Hand dieser Frau anhalten, der davon weiß und wenn sich doch eine Familie für sie interessiert, dann wird seitens der Familie des Mädchens gleich zu Beginn bekanntgegeben, dass das Mädchen bereits vergeben ist. Wenn sich ein Mädchen dem widersetzt und einen anderen Mann heiratet, verletzt sie damit die Ehre der eigenen Familie und auch die des Mannes, dem sie versprochen worden war. Zeitgleich werden alle anderen Personen, die dem Mädchen zu dieser Tat verholfen haben, aber auch der Mann, den sie heiratet, von beiden Familien, dh von der Familie des Mädchens und der Familie des Mannes, dem es versprochen war, belangt werden.

Nach den Regeln der Pashtunwali zieht die Verhinderung einer geplanten Heirat eines weiblichen Familienmitgliedes, das einem Mann versprochen worden ist, die Konsequenz des Ehrenmordes für die Person, die diese Heirat hindert, nach sich (siehe dazu 1.4.6).

Das afghanische Familierecht umfasst und regelt die Brautwerbung (Paschto: Reibari) im Artikel 63 des afghanischen Zivilgesetzbuches von 1977, das Verlöbnis/die Verlobung (Paschto: Kozda) im Artikel 64 des afghanischen Zivilgesetzbuches von 1977 und im Artikel 65 werden geregelt die Geschenke und das, was mit den Geschenken im Falle einer Lösung des Verlöbnisses zu geschehen hat. Weiters regelt das afghanische Familienrecht die Eheschließung (Paschto: Wada), die Auflösung der Ehe (Pachto: De Wada de Aqd enhelal), das Kindschaftsrecht (Paschto: de Awlad Hoquq), die Entmündigung (Paschto Hazanat) und die Betreuung (Paschto: (Qaymumiyat).

Grundsätzlich kommt die Eheschließung der Kinder durch die Vermittlung der Eltern zustande. Ein Großteil der in Afghanistan geschlossenen Ehen sind arrangierte Ehen.

Der Praxis der arrangierten Ehe in der afghanischen Gesellschaft liegt folgende Überlegung zugrunde. Man geht davon aus, dass ein junger Mensch betreffend des/der Ehepartners/in ein vorwiegend emotionale Entscheidung treffen würde. Die Eltern werden eher in der Lage gesehen, objektiv zu urteilen und abzuwiegen, was gut und was nicht gut für ihre Jungen und Mädchen ist. Ein besonders vorsichtiges bzw. umsichtiges Abwiegen einer so folgenreichen Entscheidung ist auch aus dem Grund wichtig, dass in der traditionellen afghanischen Gesellschaft, in der die Analphabeten rate sehr hoch ist und keine andere finanzielle Unterstützung seitens des Staates vorhanden ist, eine Scheidung für die Ehepaare nicht leistbar ist. Eigentlich wäre eine Scheidung nach islamischer Lehre Pflicht, wenn das Leben nicht wie gewünscht funktioniert.

In fortschrittlich modernen und gebildeten Familien besonders in der Hauptstadt Kabul übt die Familie des Mädchens selten Druck auf das Mädchen aus oder entscheidet sich gegen den Willen des Mädchens für einen Bewerber. Zwangsehen die unter dem Druck der Familie des Mädchens geschlossen werden, kommen jedoch in manchen Gebieten vor.

Besonders in den wenig oder gar nicht gebildeten Familien oder in den ländlichen Bereichen werden die Mädchen überhaupt nicht gefragt und die Entscheidung wird alleine durch die Familie des Mädchens getroffen. In diesem Fall kann man von Zwangsehen ausgehen.

Die Eheschließung ist die wichtigste Voraussetzung für eine Partnerschaft im Islam. Außereheliche Beziehungen sind laut Sharia verboten. Wenn ein Mann und eine Frau eine nicht-eheliche Beziehung führen, sind sie von den Strafandrohungen der Sharia betroffen und in so einem Fall wäre sowohl der Mann als auch die Frau von der Todesstrafe durch Steinigung bedroht.

In Afghanistan ist es grundsätzlich möglich, die Ehe zwischen zwei Personen durch ihre Vertreter schließen zu lassen. Diese Vertreter müssen aber durch die Eheleute persönlich ernannt werden und dazu bevollmächtigt werden, sie bei der Eheschließung zu vertreten. Die Vertreter werden zum Zeitpunkt der Eheschließung ausdrücklich vom Mullah befragt, ob sie mit ihrer Aussage den Willen ihrer Mandanten zum Ausdruck bringen.

Im Allgemeinen wird die Ehe zwischen zwei Personen einmalig durch den Mullah geschlossen. Es ist notwendig, dass alle Voraussetzungen dafür erfüllt sind, z.B. Die Ernennung der Vertreter durch die Eheleute, Anwesenheit von Zeuge und dergleichen, so ist die Eheschließung gültig.

1.4.5 Blutrache und Blutfehde

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) und sind vielfach zusätzlicher Auslöser für Gewalt. UNHCR weist mit Bezug auf verschiedene Quellen darauf hin, dass Vergeltung durch Blutrache auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre beruht. Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Unter Familie ist dabei mancherorts nicht nur die biologische Verwandtschaft zu verstehen, sondern auch ein Clan. Im Wertesystem vieler streng traditioneller Gesellschaften hängt die "gesellschaftliche Ehre" der gesamten Familie auch vom normgerechten Verhalten aller Angehörigen ab. Aufgrund der sozialen Struktur in den von Ehrenmorden betroffenen Ländern werden Ehrverletzungen vom sozialen Umfeld sehr streng sanktioniert und nach diesen Vorstellungen kann nur der Tod dessen, der den Makel in die Familie getragen hat, diese wieder von diesem befreien. Es handelt sich dabei um eine Familienangelegenheit.

Die Befürworter dieser Praxis sehen darin kein Verbrechen, sondern eine soziale Notwendigkeit, die dem höheren Zweck diene, die Familie zu erhalten. Im Verständnis dieser Kulturen geht es weniger darum, die Person, die Schande über die Familie gebracht hat, zu bestrafen, sondern eher darum, den "Fleck", den "Schmutz" aus der Familie zu entfernen. Die Zielsetzung eines Ehrenmordes ähnelt also der einer Verstoßung.

Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, wird aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein. Das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung ist zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali. Die Verantwortung für die Bestrafung von immoralischem Verhalten wie Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord liegt nicht bei der Gemeinschaft, sondern beim Opfer, und Rache ist eine akzeptable Reaktion. Die Grenzen der Legitimität der Rache sind durch lokale Traditionen, die öffentliche Meinung und den Paschtunwali bestimmt. Wird keine Rache ausgeübt, kann dies als moralische Schwäche ausgelegt werden, die auf ganze Familienverbände bezogen werden kann. Sowohl das Anzeigen eines Mordes bei den staatlichen Behörden als auch Verhandlungen über finanzielle Entschädigung mit der Täterfamilie können als Schwäche und als Zeichen ausgelegt werden, dass die Familie nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers hat eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen. Blutrache ist in Afghanistan sowohl auf dem Land als auch in den Städten einschließlich Kabul und zwischen allen Volksgruppen verbreitet. Blutrache kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden. Blutrache zielt hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird, unabhängig von ihrem Alter. Unter bestimmten Bedingungen kann auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen. Es gibt keine klaren Regeln für die Ausübung von Blutrache, wie beispielsweise ein Mindestalter, ab dem eine Person Ziel einer Blutrache werden kann. Wenn eine Familie Rache üben wolle, würde sie nach einer Gelegenheit dafür suchen.

Die Gesellschaft ist bemüht, die Konfliktfälle ohne Prestigeverlust für beiden Parteien so schnell wie möglich und friedlich durch die Jirga zu lösen. Im Falle einer Verweigerung wird die Öffentlichkeit, repräsentiert durch die Führungspersönlichkeiten, jedoch die Vermittlungsversuche einstellen. Sie erkennt damit das legitime Interesse der geschädigten Partei auf die Durchführung eines Badal ("Rache nehmen") mit eigenen Kräften und den damit verbundenen Verzicht auf eine friedliche Lösung.

1.4.6. Afghanische Sicherheitsbehörden

In Afghanistan gibt es drei Ministerien, die mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung betraut sind: das Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das National Directorate for Security (NDS). Das MoD beaufsichtigt die Einheiten der afghanischen Nationalarmee (ANA), während das MoI für die Streitkräfte der afghanischen Nationalpolizei (ANP) zuständig ist.

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Die ANP besteht aus der uniformierten afghanischen Polizei (AUP), der afghanischen Nationalpolizei für zivile Ordnung (ANCOP), der afghanischen Kriminalpolizei (AACP), der afghanischen Lokalpolizei (ALP), den afghanischen Kräften zum Schutz der Öffentlichkeit (APPF) und der afghanischen Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA). Auch das NDS ist Teil der ANDSF.

Schätzungen der US-Streitkräfte zufolge betrug die Anzahl des ANDSF-Personals am 31. Jänner 2018 insgesamt 313.728 Mann; davon gehörten 184.572 Mann der ANA an und 129.156 Mann der ANP. Diese Zahlen zeigen, dass sich die Zahl der ANDSF im Vergleich zu Jänner 2017 um ungefähr 17.980 Mann verringert hat. Die Ausfallquote innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte variiert innerhalb der verschiedenen Truppengattungen und Gebieten. Mit Stand Juni 2017 betrug die Ausfallquote der ANDSF insgesamt 2.31%, was im regulären Dreijahresdurchschnitt von 2.20% liegt.

Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. In einer öffentlichen Erklärung der Taliban Führung zum Beginn der Frühjahrsoffensive 2018 (25. April 2018) hieß es: "Die Operation Al-Khandak wird sich neuer, komplexer Taktiken bedienen, um amerikanische Invasoren und ihre Unterstützer zu zermalmen, zu töten und gefangen zu nehmen". Bereits der Schwerpunkt der Frühjahroffensive 2017 "Operation Mansouri" lag auf "ausländischen Streitkräften, ihrer militärischen und nachrichtendienstlichen Infrastruktur sowie auf der Eliminierung ihres heimischen Söldnerapparats.". Afghanische Dolmetscher, die für die internationalen Streitkräfte tätig waren, wurden als Ungläubige beschimpft und waren Drohungen der Taliban und des Islamischen Staates (IS) ausgesetzt.

Die afghanischen Sicherheitskräfte haben zwar im Jahr 2015 die volle Verantwortung für die Sicherheit des Landes übernommen; dennoch werden sie teilweise durch US-amerikanische bzw. Koalitionskräfte unterstützt. Die USA erhöhten ihren militärischen Einsatz in Afghanistan: Im ersten Quartal des Jahres 2018 wurden USamerikanische Militärflugzeuge nach Afghanistan gesandt; auch ist die erste U.S. Army Security Force Assistance Brigade, welche die NATO-Kapazität zur Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte verstärken soll, in Afghanistan angekommen. Während eines Treffens der NATO-Leitung am 25.5.2017 wurde verlautbart, dass sich die ANDSF- Streitkräfte zwar verbessert hätten, diese jedoch weiterhin Unterstützung benötigen würden.

Afghan National Police (ANP) und Afghan Local Police (ALP)

Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit aber auf der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Das Langzeitziel der ANP ist es weiterhin, sich in einen traditionellen Polizeiapparat zu verwandeln. Mit Stand 31. Jänner 2018 betrug das ANP-Personal etwa 129.156 Mann. Im Vergleich zu Jänner 2017 hat sich die Anzahl der ANP-Streitkräfte um 24.841 Mann verringert.

Quellen zufolge dauert die Grundausbildung für Streifenpolizisten bzw. Wächter acht Wochen. Für höhere Dienste dauern die Ausbildungslehrgänge bis zu drei Jahren. Lehrgänge für den höheren Polizeidienst finden in der Polizeiakademie in Kabul statt, achtwöchige Lehrgänge für Streifenpolizisten finden in Polizeiausbildungszentren statt, die im gesamten Land verteilt sind. Die standardisierte Polizeiausbildung wird nach militärischen Gesichtspunkten durchgeführt, jedoch gibt es Uneinheitlichkeit bei den Ausbildungsstandards. Es gibt Streifenpolizisten, die Dienst verrichten, ohne eine Ausbildung erhalten zu haben. Die Rekrutierungs- und Schulungsprozesse der Polizei konzentrierten sich eher auf die Quantität als auf den Qualitätsausbau und erfolgten hauptsächlich auf Ebene der Streifenpolizisten statt der Führungskräfte. Dies führte zu einem Mangel an Professionalität. Die afghanische Regierung erkannte die Notwendigkeit, die beruflichen Fähigkeiten, die Führungskompetenzen und den Grad an Alphabetisierung innerhalb der Polizei zu verbessern.

Die Mitglieder der ALP, auch bekannt als "Beschützer", sind meistens Bürger, die von den Dorfältesten oder den lokalen Anführern zum Schutz ihrer Gemeinschaften vor Angriffen Aufständischer designiert werden. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinschaft wurde angenommen, dass die ALP besser als andere Streitkräfte in der Lage sei, die Sachverhalte innerhalb der Gemeinde zu verstehen und somit gegen den Aufstand vorzugehen. Die Einbindung in die örtliche Gemeinschaft ist ein integraler Bestandteil bei der Einrichtung der ALP-Einheiten, jedoch wurde die lokale Gemeinschaft in einigen afghanischen Provinzen diesbezüglich nicht konsultiert, so lokale Quellen. Finanziert wird die ALP ausschließlich durch das US-amerikanische Verteidigungsministerium und die afghanische Regierung verwaltet die Geldmittel.

Die Personalstärke der ALP betrug am 8. Februar 2017 etwa 29.006 Mann, wovon 24.915 ausgebildet waren, 4.091 noch keine Ausbildung genossen hatten und 58 sich gerade in Ausbildung befanden. Die Ausbildung besteht in einem vierwöchigen Kurs zur Benutzung von Waffen, Verteidigung an Polizeistützpunkten, Thematik Menschenrechte, Vermeidung von zivilen Opfern usw.

Die monatlichen Ausfälle der ANP im vorhergehenden Quartal betrugen mit Stand 26. Februar 2018 ca. 2%. Über die letzten zwölf Monate blieben sie relativ stabil unter 3% .

Afghanische Nationalarmee (ANA)

Die afghanische Nationalarmee (ANA) überwacht und kommandiert alle afghanischen Boden- und Luftstreitkräfte. Die ANA ist für die externe Sicherheit verantwortlich, dennoch besteht ihre Hauptaufgabe darin, den Aufstand im Land zu bekämpfen.

Mit Stand 31. Jänner 2018 betrug der Personalstand der ANA 184.572 Mann. Im Vergleich zum Jänner 2017 ist die Anzahl der ANA-Streitkräfte um 6.861 Mann gestiegen. Die monatlichen Ausfälle der ANA im vorhergehenden Quartal betrugen mit Stand 26. Februar 2018 im Durchschnitt 2%. Im letzten Jahr blieben sie relativ stabil unter 2% .

Quellen zufolge beginnt die Grundausbildung der ANA-Soldaten am Kabul Military Training Center (KMTC) und beträgt zwischen sieben und acht Wochen. Anschließend gibt es verschiedene weiterführende Ausbildungen für Unteroffiziere und Offiziere.

2. Beweiswürdigung

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Angaben der persönlichen Verhältnisse des BF ergeben sich aus dem Akt, insbesondere auch aus der persönlichen Einvernahme des BF vor dem BVwG am 17.01.2019 und am 28.02.2019, aus der Einvernahme der Schwester und des Vaters des BF am 28.02.2019 bzw. aus den vom BF im Verfahren vorgelegten Urkunden. Das erkennende Gericht erachtet diese Angaben des BF und der Zeugen als glaubhaft.

2.2 Zu den Feststellungen zur Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Das Vorbringen des BF hinsichtlich konkreten Anlasses des Verlassens des Herkunftslandes wird vom erkennenden Gericht - entgegen den Ausführungen im Bescheid der belangten Behörde - als in sich schlüssig, nachvollziehbar und in Summe als glaubhaft angesehen. Der BF zeigte sich in den mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG offen und bemüht, an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken und vermittelte insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck. Das diesbezügliche Vorbringen des BF im Verlauf des Verfahrens ist schlüssig, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan plausibel, hinreichend substantiiert, angereichert mit lebensnahen Details sowie im Einklang mit den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten.

Der BF zeichnete insbesondere in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 17.01.2019 in seinen Aussagen und seinem Antwortverhalten, das auch authentisch wirkende Emotionen zeigte, ein glaubhaftes Bild der geschilderten Vorfälle und vermittelte den Eindruck, die dargestellten Ereignisse tatsächlich erlebt zu haben. Bei jenen Vorfällen, bei denen er nicht persönlich anwesend war, wies er auch ausdrücklich darauf hin, dass er darüber aus Erzählungen seiner Familie weiß. Daher ist es auch plausibel, dass er nicht jedes Detail der Vorfälle wissen kann. Für die Glaubhaftigkeit der Aussagen des BF spricht auch, dass er während des gesamten Verfahrens in etwa die gleichen Angaben machte, und vor allem in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 17.01.2019 sein Fluchtvorbringen zwar detaillierter ausführte, jedoch nicht übersteigerte. Entgegen der Ansicht der belangten Behörde konnte der BF allfällige Widersprüche zu seinen Ausführungen in der Erstbefragung plausibel erklären. Die Aussagen des BF werden zusätzlich noch durch die glaubhaften zeugenschaftlichen Aussagen seines Vaters und seiner Schwester bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 28.02.2019 ergänzt. Beide Zeugen schilderten den gleichen Sachverhalt als deren jeweiliger Sicht und zeigten bei deren Einvernahme ihre tiefe Betroffenheit darüber, welches Ungemach durch das Versprechen des Großvaters, der seine Enkelin dem Sohn des XXXX zur Frau versprach, auf die gesamte Familie zukam. Es ist im Lichte der zitierten Länderinformationen nicht ungewöhnlich, dass bereits Kleinkinder unter Familien zur Ehe versprochen werden. Im gegenständlichen Fall, wo es auch darum ging, dass XXXX es ermöglichte, dass der Vater des BF, der gegen die Taliban gekämpft hatte, freikam, ist es nachvollziehbar, dass als Dank hierfür die eigene Tochter als Ehefrau für den Sohn desjenigen, der für die Befreiung sorgte, versprochen wird.

Die Schwester des BF vermochte bei ihrer Einvernahme sehr lebensnah zu schildern, wie es ihr mit dieser Situation erging, wie sie sich der Ehezeremonie fügte, um die Ehre ihres Vaters und der Familie nicht zu beschmutzen, und wie sie dann in ihrer Verzweiflung über das, was sie nach der Zeremonie erleben musste, bzw. was ihr in der Ehe noch bevorstand, versuchte, sich das Leben zu nehmen. Erst dann erkannte der Vater, der offensichtlich ein emotional eher distanziertes Verhältnis zu seinen Kindern gehabt haben dürfte, wofür auch spricht, dass er den BF im Alter von ca. acht Jahren seinem Schwager im Iran als "Adoptivsohn" überließ, erkannt haben, dass es seiner Tochter sehr ernst ist, und er sie verlieren wird, sollte er weiter darauf beharren, dass diese zu dem Mann ziehen muss.

Was dann folgte schildern sowohl der BF, seine Schwester als auch deren Vater jeweils aus deren Perspektive so, dass das Fluchtvorbringen für die erkennende Richterin in sich schlüssig und nachvollziehbar ist. XXXX , der ein Paschtune ist, kann diese Ehrverletzung nicht auf sich beruhen lassen, und ist, wie dies auch die zitierten Länderinformationen belegen, praktisch gezwungen, seine Ehre wiederherzustellen, widrigenfalls sein soziales Ansehen in der Gesellschaft und unter den Taliban massiv leiden würde. Er bedroht den Vater des BF und entführt und vergewaltigt seine Schwester und tötet letztendlich nach der Flucht der gesamten Familie den Schwager des BF, der die Grundstücke des Vaters des BF verkauft hatte, um deren Flucht zu finanzieren.

Die Schilderungen zu seinem Fluchtgrund sind plausibel und nachvollziehbar im Lichte der zu 1.4.4 und 1.4.5 zitierten Länderinformationen. Insbesondere ist daraus zu entnehmen, dass das Verhalten der Schwester des BF, mit Unterstützung der gesamten Familie, und daher auch des BF, dazu führte, dass der Kreislauf der Blutrache in Bewegung gesetzt wird.

Ganz offensichtlich war es, entgegen den Ausführungen der belangten Behörde, XXXX möglich, die Familie des BF immer wieder zu finden, obwohl sich im Iran aufhielt.

In einer Gesamtschau der Angaben des BF im Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint das Vorbringen des BF zu seiner Furcht vor XXXX und seiner Familie in Afghanistan insgesamt glaubhaft, plausibel, schlüssig und nachvollziehbar.

Hinsichtlich des Vorbringens des BF, dass er nicht mehr bete und auch nicht mehr die Moschee besuche ist im Lichte der zitierten Länderinformationen auszuführen, dass bedingt dadurch, dass er dies nicht öffentlich macht, auch im Falle einer - theoretischen - Rückkehr nach Afghanistan keiner Gefahr ausgesetzt ist.

Im gesamten Verfahren sind keine Gründe zu Tage getreten, welche den BF von der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausschließen.

2.3 Zu den Feststellungen zur Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers

Im Lichte der Ausführungen zu den Fluchtgründen des BF ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan der Gefahr eines Eingriffs in seine körperliche Unversehrtheit durch den XXXX bzw. seiner Familie ausgesetzt ist. Aus den Länderinformationen ist zu entnehmen, dass die afghanischen Behörden nicht in der Lage sind, den BF vor derartigen Bedrohungen des BF zu schützen. Nachdem XXXX Mitglied der Taliban ist, die in ganz Afghanistan über ein Netzwerk von Spitzeln verfügen, wird davon ausgegangen, dass dem BF in Afghanistan keine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative zur Verfügung steht.

2.4 Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den angeführten Quellen und wurden den Parteien des Verfahrens zur Kenntnis gebracht, es wurde allen Parteien mehrfach die Gelegenheit geboten, hierzu Stellung zu nehmen. Bei den genannten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten entscheidungsrelevanten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß den §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bediene

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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