Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Hon.-Prof. Dr. Dehn und Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Bernhard Gruber und ADir. Gabriele Svirak als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei U*****, gegen die beklagte Partei A***** HandelsgmbH, *****, vertreten durch Dr. Brigitte Birnbaum, Dr. Rainer Toperczer, Mag. Diether Pfannhauser, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Februar 2019, GZ 7 Ra 66/18d-31, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Angebliche Verfahrensmängel erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche anerkannt worden sind, können in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (RS0042963). Dieser Grundsatz kann auch nicht mit der Behauptung umgangen werden, das Berufungsverfahren selbst sei – weil das Berufungsgericht der Mängelrüge des Berufungswerbers nicht gefolgt sei – mangelhaft geblieben (RS0042963 [T58]).
Soweit die Beklagte geltend macht, dass eine Überraschungsentscheidung des Berufungsgerichts vorliegt, ist die Mängelrüge nicht gesetzmäßig ausgeführt, weil sie nicht darlegt, welches für die Entscheidung relevante zusätzliche oder geänderte Tatsachenvorbringen sie erstattet hätte, wenn die in der Revision als überraschend bezeichnete Rechtsansicht mit ihr erörtert worden wäre (RS0037300 [T48]).
2. Bei der Anfechtung einer Kündigung nach § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG ist zunächst zu prüfen, ob dem Arbeitnehmer durch die Kündigung erhebliche soziale Nachteile entstehen, die über die normale Interessenbeeinträchtigung bei einer Kündigung hinausgehen (RS0051746 [T7]). Ist dies der Fall, so ist das Vorliegen von subjektiven oder objektiven Kündigungsrechtfertigungs-gründen zu prüfen und anschließend eine Interessenabwägung vorzunehmen (RS0116698).
Richtig ist, dass in die Untersuchung, ob durch eine Kündigung wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt sind, nicht nur die Möglichkeit der Erlangung eines neuen, einigermaßen gleichwertigen Arbeitsplatzes, sondern die gesamte wirtschaftliche und soziale Lage des Arbeitnehmers und seiner (allfälligen) Familienangehörigen einzubeziehen ist (RS0051741; RS0051806; RS0051703).
Soweit die Beklagte diesbezüglich das Fehlen von Feststellungen zu den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin moniert, lässt sie allerdings offen, welche zusätzlichen Feststellungen dazu das Erstgericht nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Beweisverfahrens zu treffen gehabt hätte, die zu einer anderen rechtlichen Beurteilung geführt hätten.
3. Die Beurteilung der Beeinträchtigung wesentlicher Interessen ist in der Regel maßgeblich von den Arbeitsmarktchancen des gekündigten Arbeitnehmers abhängig. Beweisthema ist dabei nicht das Faktum einer neuen Anstellung, sondern die Frage, ob im Kündigungszeitpunkt objektive Faktoren vorlagen, die im Rahmen einer Prognose eine Beeinträchtigung wesentlicher Interessen der Klägerin vorhersehbar machten (vgl RS0051772 [T8]). Es kommt daher zur Beurteilung der Sozialwidrigkeit nicht darauf an, ob und wie intensiv sich die Klägerin nach der Kündigung um eine neue Arbeitsstelle bemüht hat.
Da es sich bei der Anfechtung einer Kündigung wegen Sozialwidrigkeit nicht um einen Schadenersatzanspruch handelt, kommt den in der Revision angesprochenen Grundsätzen der Schadensminderungspflicht ebenfalls keine Relevanz zu.
Die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass unter Berücksichtigung aller Faktoren einschließlich der zu erwartenden Postensuchdauer und voraussichtlicher Einkommenseinbuße der 53-jährigen Klägerin die Kündigung wesentliche Interessen beeinträchtigt, hält sich im Rahmen des vom Gesetz eingeräumten Ermessensspielraums.
4. Eine Kündigung ist dann iSd § 105 Abs 3 Z 2 lit b ArbVG durch betriebliche Erfordernisse begründet, wenn sie im Interesse des Betriebs notwendig ist. Im Fall einer betrieblichen Rationalisierung ist die Beurteilung der Zweckmäßigkeit und Richtigkeit der Maßnahme grundsätzlich dem wirtschaftlichen Ermessen des Betriebsinhabers vorbehalten (vgl RS0051649; RS0052008). Die konkrete Kündigung muss aber zur Verwirklichung des beabsichtigten Erfolgs geeignet sein (8 ObA 95/11w).
Die Kündigung ist nur dann in den Betriebsverhältnissen gerechtfertigt, wenn im gesamten Betrieb gerade für den betroffenen Arbeitnehmer kein Bedarf mehr gegeben ist und schließlich dem Arbeitgeber auch durch keine andere soziale Maßnahme die Erhaltung des Arbeitsplatzes zuzumuten ist (RS0051942). Bei Prüfung dieser Frage ist ein strenger Maßstab anzulegen, ganz besonders bei älteren Arbeitnehmern (RS0052008). Die wirtschaftliche Bedingtheit der Kündigung muss vom Arbeitgeber in rational nachvollziehbarer Weise im Kündigungsverfahren dargetan werden. Die Kündigung muss eine normale und für jedermann nachvollziehbare betriebswirtschaftliche Konsequenz einer unternehmerischen Disposition sein, wobei die Kündigung, nicht jedoch die sie auslösende Unternehmerdisposition der Rechtfertigung bedarf (RS0051825).
Der Betriebsinhaber ist im Rahmen der sogenannten Gestaltungspflicht verbunden, trotz Einschränkung des Betriebs oder trotz Rationalisierungsmaßnahmen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, seine bisherigen Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen. Der Arbeitgeber darf nicht ohne triftigen Anlass Arbeitnehmer kündigen und dafür neue einstellen (RS0051827).
5. Im konkreten Fall wurde der Standort, dem die Klägerin zugeordnet war, zwar aufgelassen, ihre (Außendienst-)Tätigkeit wird aber nach wie vor ausgeübt und zwar vom benachbarten Standort aus. Dies erfolgt durch angestellte Mitarbeiter, freie Dienstnehmer und in Zusammenarbeit mit selbstständig Erwerbstätigen. Die Beklagte sucht für diese Tätigkeit laufend neue Mitarbeiter und hat nach der Kündigung der Klägerin zumindest eine freie Dienstnehmerin und zwei selbstständig Erwerbstätige aufgenommen. Vorgabe der Betriebsleitung ist es, die Vertriebstätigkeit nicht mit angestellten Mitarbeitern auszuüben, sondern über freie Dienstnehmer oder selbstständig Erwerbstätige abzuwickeln.
Die Beklagte hat in diesem Zusammenhang kein Vorbringen dazu erstattet, inwieweit über die bloße Änderung der vertraglichen Rechtsstellung der Vertriebsmitarbeiter hinaus es zu einer Änderung der betrieblichen Organisation gekommen ist. Auch die außerordentliche Revision beschränkt sich auf die Wiedergabe der allgemeinen juristischen Charakterisierung der Unterschiede von Dienstnehmern und freien Mitarbeitern ohne darzulegen, inwieweit die konkrete Tätigkeit ihrer Beschäftigten diesen Merkmalen entspricht bzw es durch die Kündigung von Mitarbeitern und der Beschäftigung freier Mitarbeiter zu einer Umgestaltung auch der Abläufe im Unternehmen gekommen ist. Dazu kommt, dass die Beklagte auch nach wie vor Angestellte im Aufgabenbereich der Klägerin beschäftigt.
Gegen die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass es der dafür beweispflichtigen Beklagten damit nicht gelungen ist, eine betriebliche Notwendigkeit für eine Kündigung der Klägerin nachzuweisen, bestehen daher keine Bedenken.
6. Personenbezogene Gründe, die die Kündigung rechtfertigen könnten, werden in der außerordentlichen Revision nicht mehr behauptet.
7. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).
Textnummer
E125276European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:009OBA00043.19T.0515.000Im RIS seit
18.06.2019Zuletzt aktualisiert am
18.05.2020