Entscheidungsdatum
12.03.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L521 2206508-1/23E
Schriftliche Ausfertigung des am 19.02.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH als Mitglieder der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, 1170 Wien, Wattgasse 48, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.08.2018, Zl. 648279701-171265247, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 19.02.2019 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt VII. des angefochtenen Bescheids zu lauten hat: "Gemäß § 53 Abs. 1 FPG 2005 iVm § 53 Abs. 2 Z. 8 und Abs. 3 Z. 2 FPG 2005 wird gegen Sie ein dreijähriges Einreiseverbot erlassen."
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, reiste am 02.02.2015 rechtmäßig unter Verwendung eines von der Österreichischen Botschaft in Ankara aufgrund einer Einladung seines Schwagers XXXX zum Zweck des Besuchs von Familienmitgliedern und Freunden ausgestellten und bis zum 01.03.2015 gültigen Visum C auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein.
In der Folge ehelichte er am 27.02.2015 in Mödling die österreichische Staatsangehörige XXXX , geb. XXXX .
Am 06.03.2015 stellte der Beschwerdeführer beim Magistrat der Stadt Wien einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger.
2. Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Mödling vom 28.10.2015 zu XXXX wurde der Beschwerdeführer des Vergehens des Eingehens und der Vermittlung von Aufenthaltsehen und Aufenthaltspartnerschaften gemäß § 117 Abs. 1 und 4 FPG 2005 sowie des Vergehens der Urkundenfälschung gemäß § 223 Abs. 2 StGB schuldig erkannt und zu einer unbedingten Geldstrafe in der Höhe von 150 Tagessätzen verurteilt.
Die vom Beschwerdeführer eingegangene Ehe wurde in der Folge geschieden. Den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zog der Beschwerdeführer am 22.01.2015 zurück.
3. Der Beschwerdeführer verblieb sich ungeachtet der erörterten Ereignisse im Bundesgebiet und stellte schließlich am 09.11.2017 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Schwechat am 10.11.2017 legte der Beschwerdeführer zur Begründung seines Antrages auf internationalen Schutz dar, sich seit dem 02.02.2015 im Bundesgebiet aufzuhalten. Er sei nach Österreich gekommen, da seine Familie hier leben würde und er in der Türkei seinen Wehrdienst nicht ableisten wolle. Er wünsche, bei seiner Familie im Bundesgebiet zu bleiben und hier einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Befragt nach seinen Rückkehrbefürchtungen legte der Beschwerdeführer dar, dazu keinen Angaben tätigen zu können.
4. Nach Zulassung des Verfahrens wurden der Beschwerdeführer am 27.07.2018 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in arabischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.
Der Beschwerdeführer gab dabei nach seinen Ausreisegründen befragt im Wesentlichen an, er sei nach Österreich gekommen, weil sich seine Familie - sein Vater, seine Mutter und zwei seiner drei Schwestern - hier aufhalten würden. Außerdem stehe sein Wehrdienst in der Türkei bevor und er wolle diesen nicht ableisten. Befragt nach den näheren Gründen legte der Beschwerdeführer zunächst dar, er sehe "was alles passiert". Auf neuerliche Nachfrage nach seinen Motiven und Überzeugungen brachte er außerdem vor, dass "viele Soldaten" ums Leben kommen würden.
5. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.08.2018 wurden der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde wider die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung zugestanden (Spruchpunkt VI.) Schließlich wurde wider die Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 8 FPG 2005 ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
6. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.08.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig eine Rechtsberatungsorganisation für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
7. Gegen die den Beschwerdeführern am 28.08.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und dem Antrag auf internationalen Schutz Folge zu geben und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen oder ihm hilfsweise den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen oder hilfsweise die Erlassung einer Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK zu erteilen sowie hilfsweise das Einreiseverbot aufzuheben bzw. zumindest auf ein angemessenes Maß herabzusetzen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.
In der Sache bringt der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, seine Angaben vor dem belangten Bundesamt würden implizit die Befürchtung zum Ausdruck bringen, im Fall einer Rückkehr festgenommen und "zum Militärdienst geschickt" zu werden. Das belangte Bundesamt habe in diesem Zusammenhang unzureichende Ermittlungen zur Lage im Herkunftsstaat zu verantworten, da aus Länderberichten hervorgehen würde, dass Angehörige der türkischen Streitkräfte gravierende Menschenrechtsverletzungen begehen würden. Unter Wehrpflichtigen komme es außerdem vermehrt zu Suiziden und es werde eine unmenschliche Behandlung von Wehrpflichtigen beklagt.
Ferner habe er vor seiner Ausreise aus der Türkei in seiner Heimatprovinz eine Beziehung mit einer Frau geführt und um ihre Hand angehalten. Nachdem die Familie der Frau die Eheschließung verhindert habe, habe er sich einige Zeit mit der Frau versteckt. Die Familie der Frau habe deshalb Anzeige erstattet und sei der Beschwerdeführer mit der Frau schließlich von der Gendarmerie angehalten worden. Seitens der Familie der Frau sei er in der Folge aufgrund der mit dem Verhältnis einhergehenden Ehrverletzung bedroht worden und habe sich bis zur Ausreise verstecken müssen. Das Vorbringen habe er bislang nicht erstattet, da er dessen Verbreitung in der "türkischen Gemeinde in Österreich" befürchte und die Verfolgerfamilie auch im Bundesgebiet vertreten sei.
Der Beschwerdeführer lebe mit seiner Familie im gemeinsamen Haushalt und habe eine starke Bindung zu seiner Mutter und zu seinen Geschwistern. Die Rückkehrentscheidung sei deshalb auf Dauer für unzulässig zu erklären. Hinsichtlich des Einreiseverbotes sei richtigerweise von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen.
8. Die Beschwerdevorlage langte am 26.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.
9. Zur Vorbereitung der für den 19.02.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung wurde zunächst der den Beschwerdeführer betreffenden Akten XXXX des Bezirksgerichtes Mödling, der Österreichischen Botschaft Ankara hinsichtlich der dem Beschwerdeführer erteilten Visum C sowie des Magistrats der Stadt Wien hinsichtlich zweier vom Beschwerdeführer gestellter Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels amtswegig beigeschafft.
Ferner wurden der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers mit Note des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.01.2019 aktuelle Länderdokumentationsunterlagen zur allgemeinen Lage in der Türkei sowie zum Wehrdienst in der Türkei zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung schriftlich Stellung zu nehmen. Innerhalb der eingeräumten Frist langte keine Stellungnahme des Beschwerdeführers ein.
10. Mit Telefax vom 08.02.2019 erklärte die rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers, die ihr erteilte Vollmacht zu kündigen, da sich der Beschwerdeführer nicht zur Vorbereitung der Verhandlung gemeldet habe.
11. Am 19.02.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner rechtsfreundlichen Vertretung - die zu Beginn der Verhandlung neuerlich eine Bevollmächtigung in Vorlage brachte - und eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand der dem Beschwerdeführer im Vorfeld übermittelnden Länderdokumentationsunterlagen erörtert. Ferner wurden die Eltern des Beschwerdeführers als Zeugen einvernommen.
Im Anschluss an die mündliche Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet und seitens des Beschwerdeführers mit Eingabe seiner rechtsfreundlichen Vertretung vom 01.03.2019 die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der türkischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung. Er ist geschieden und hat keine Kinder. Der Beschwerdeführer beherrscht Türkisch in Wort und Schrift.
Der Beschwerdeführer wurde am 01.04.1995 in der Provinz XXXX in Zentralanatolien geboren und wuchs dort im Dorf XXXX auf. Er besuchte die Grundschule im Ausmaß von insgesamt neun Jahren. Im Anschluss an den Schulbesuch trat der Beschwerdeführer in das Berufsleben ein und war als Maurer und Zimmerer auf Baustellen erwerbstätig.
Zuletzt lebte der Beschwerdeführer in XXXX in einem Haus im Eigentum seiner Familie.
In der Türkei leben gegenwärtig eine Schwester des Beschwerdeführers samt deren Familie und sein Großvater väterlicherseits in XXXX , ferner seine Großeltern mütterlicherseits und zwei Tanten und drei Onkel in Izmir. Darüber hinaus leben ein Onkel und eine Tante väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits in Ankara. Der Beschwerdeführer steht mit seinen in der Türkei lebenden Familienangehörigen in Kontakt.
Am 02.02.2015 verließ der Beschwerdeführer die Türkei legal unter Verwendung eines von der Österreichischen Botschaft in Ankara aufgrund einer Einladung seines Schwagers XXXX zum Zweck des Besuchs von Familienmitgliedern und Freunden ausgestellten und bis zum 01.03.2015 gültigen Visum C auf dem Luftweg und reiste in das Bundesgebiet ein. Der Beschwerdeführer erlangte in der Folge keinen Aufenthaltstitel und war nach dem Ablauf des 01.03.2015 unrechtmäßig um Bundesgebiet aufhältig, bis er am 09.11.2017 er den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Schon am 05.09.2013 hatte der Beschwerdeführerin die Erteilung eines Aufenthaltstitels
Rot-Weiß-Rot-Karte plus zum Zweck der Zusammenführung mit dem bereits seinerzeit in Wien lebenden Vater XXXX beantragt. Der Antrag wurde mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 29.11.2013 abgewiesen, da der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr minderjährig war.
1.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines sunnitischen Religionsbekenntnisses und seiner türkischen Volksgruppenzugehörigkeit zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei eine außereheliche Beziehung mit einer Person weiblichen Geschlechts einging und deshalb von Angehörigen ihrer Familie aus dem Motiv der Familienehre verfolgt wird.
Der Beschwerdeführer verließ die Türkei am 02.02.2015, um zu seiner in Österreich lebenden Familie zu gelangen und sich im Bundesgebiet niederzulassen, wozu er in der Folge die mit einer österreichischen Staatsbürgerin arrangierte Aufenthaltsehe einging. Den gegenständlichen Asylantrag stellte er alleine aus der Motivation, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu vereiteln und seinen faktischen Aufenthalt bei seiner Familie im Bundesgebiet fortzusetzen.
Der Beschwerdeführer wird im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten müssen. Er wurde der Musterung unterzogen, erhielt aber keinen Einberufungsbefehl. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer die Ableistung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen verweigert.
Es kann darüber hinaus nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Einberufung zu den türkischen Streitkräften im Rahmen der Wehrpflicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei Kampfhandlungen eingesetzt würde oder er sich im Rahmen seines Wehrdienstes an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen müsste. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder gar eine Generalmobilmachung stattfinden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Rekruten systematischen Misshandlungen durch Vorgesetzte bzw. Offiziere unterliegen bzw. der Beschwerdeführer im Zuge der Verrichtung seines Militärdienstes solche zu erwarten hat. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer - sollte er sich weigern, seinen Militärdienst abzuleisten - eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.
1.3. Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.
1.4. Der Beschwerdeführer ist ein junger, gesunder, anpassungs- und arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über grundlegende Schulbildung und Berufserfahrung als Maurer und als Zimmerer. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens im Herkunftsstaat möglich und zumutbar. Er verfügt im Rückkehrfall über familiäre Anknüpfungspunkte in eine unentgeltliche Wohnmöglichkeit im Haus seiner Familie in XXXX in der Provinz XXXX .
Der Beschwerdeführer verfügt über ein gültiges türkisches Reisedokument (Reisepass XXXX ) sowie ein gültiges Ausweisdokument (Nüfus) im Original.
1.5. Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 02.02.2015 in Österreich auf. Er reiste rechtmäßig in Österreich ein. Am 27.02.2015 ging er in Mödling die Ehe mit der österreichischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX , ein.
Am 06.03.2015 stellte der Beschwerdeführer beim Magistrat der Stadt Wien einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger.
Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Mödling vom 28.10.2015, XXXX , wurde der Beschwerdeführer des Vergehens des Eingehens und der Vermittlung von Aufenthaltsehen und Aufenthaltspartnerschaften gemäß § 117 Abs. 1 und 4 FPG 2005 sowie des Vergehens der Urkundenfälschung gemäß § 223 Abs. 2 StGB schuldig erkannt und zu einer unbedingten Geldstrafe in der Höhe von 150 Tagessätzen verurteilt.
Demnach hat der Beschwerdeführer am 27.02.2015 in Mödling als Beteiligter die Ehe mit XXXX eingegangen, ohne ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK zu führen, um sich für die Erteilung eines Aufenthaltstitels oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe zu berufen. Ferner hat der Beschwerdeführer am 07.04.2015 in Wien eine gefälschte Lohnbestätigung der XXXX bei der Magistratsabteilung 35 zu Beweiszwecken vorgelegt.
Bei der Strafzumessung berücksichtige das Bezirksgericht Mödling als mildernd das Geständnis und den bislang ordentlichen Lebenswandel, als erschwerend keinen Umstand.
Die Geldstrafe wurde im Wege der Ratenzahlung entrichtet und die Ehe in der Folge geschieden. Den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zog der Beschwerdeführer am 22.01.2015 zurück.
1.6. Seit dem 09.11.2017 ist der Beschwerdeführer Asylwerber. Er verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.
Der Beschwerdeführer ist alleinstehend und pflegt normale soziale Kontakte, vornehmlich zu seinen Familienmitgliedern und Freunden aus verschiedenen Nationalitäten. Er lebt gemeinsam mit seinen Eltern in einer Mietwohnung im 2. Bezirk in Wien, die Familie gewährt ihm Unterkunft und Verpflegung.
Im Bundesgebiet halten sich Eltern des Beschwerdeführers und zwei seiner Schwestern rechtmäßig aufgrund von Aufenthaltstiteln auf. Der Vater des Beschwerdeführers ist als Arbeiter erwerbstätig, seine Mutter ist Hausfrau. Die Schwestern des Beschwerdeführers leben in Wien, sind verheiratet und führen den Haushalt ihrer Familien.
Der Beschwerdeführer hat keine gemeinnützige Arbeit verrichtet. Er ist weder in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation Mitglied. Er begann am 16.07.2018 eine Lehre als Maurer bei der XXXX und brachte dabei EUR 963,00 an Lehrlingsentschädigung ins Verdienen. Über das Vermögen der XXXX ( XXXX ) wurde mit Beschluss des Handelsgerichtes Wien vom 21.12.2018 zu XXXX das Konkursverfahren eröffnet und ist die Gesellschaft deshalb aufgelöst und das Lehrverhältnis beendet. Der Beschwerdeführer war neben seiner Tätigkeit als Lehrling Kommanditist der XXXX mit einer Haftsumme von EUR 100,00, sein Vater Komplementär. Dem Beschwerdeführer wurde gegenwärtig keine Beschäftigung in verbindlicher Weise zugesichert, er gibt an, eine Beschäftigung bei einem Bauunternehmen in Wien in Aussicht zu haben.
Der Beschwerdeführer besuchte keine sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und hat keine Prüfungen abgelegt. Er beherrscht die deutsche Sprache aufgrund seines faktischen Aufenthaltes im Bundesgebiet in grundlegendem Ausmaß. Anderweitige Integrationsschritte hat der Beschwerdeführer nicht ergriffen.
1.7. Der Beschwerdeführer unterhält seit dem Monat Februar 2018 eine Beziehung zur türkischen Staatsangehörigen XXXX , geb. XXXX . Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Lebensgefährtin nicht im gemeinsamen Haushalt. Der Kontakt beschränkt sich auf zwei Besuche pro Woche, die nicht mit Übernachtungen verbunden sind.
Der Beschwerdeführer und seine Lebensgefährtin beabsichtigen eine Eheschließung, er möchte zu diesem Zweck mit seiner Familie nach der Rückkehr seiner Lebensgefährtin aus der Türkei, wo diese zum Entscheidungszeitpunkt mit ihrer Familie erlaubt, bei der Familie der Lebensgefährtin um ihre Hand anhalten.
Die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers ist über dessen fremden- und asylrechtliche Situation informiert. Der Beschwerdeführer legte die Beziehung gegenüber dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und dem Bundesverwaltungsgericht bis zur mündlichen Verhandlung nicht offen, machte seine Lebensgefährtin nicht zur Verhandlung als Zeugin stellig und brachte auch kein Unterstützungsschreiben in Vorlage. Die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers ist bereit, diesen in die Türkei zu begleiten.
1.8. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.
1.9. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:
1. Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).
Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen
457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).
Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015). Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016). Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. (EC 9.11.2016).
2. Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018).
Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018).
Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).
Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran (AI 22.02.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).
Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP (Stratfor 15.4.2016). Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen (HDN 4.4.2016). Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C) [siehe 3.5] (HDN 4.4.2016; vgl. ANF News 12.3.2016). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u. a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet (ANF News 12.3.2016).
3. Rechtsschutz/Justizwesen
Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung durch Art. 7 (Legislative), 8 (Exekutive) und 9 (Judikative) festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte "im Namen der türkischen Nation". Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führen zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 03.08.2018).
Das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi) prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen.
Oberste Instanz der Verwaltungsgerichte ist der Verwaltungsgerichtshof/Staatsrat (Danistay), die der Straf- und Zivilgerichte der Kassationsgerichtshof (Yargitay). Für alle Rechtswege war seit Jahren die effektive Einführung einer Zwischeninstanz vorgesehen, jedoch in der Praxis nicht umgesetzt worden. Aufgrund der großen Überlastung der obersten Instanzen wurde unmittelbar vor dem Putschversuch Ende Juni 2016 die seit mehreren Jahren geplante Zwischeninstanz in Form von Regionalgerichten eingeführt und die mittlere Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gestärkt. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde durch eine Gesetzesänderung vom 01.07.2016 entschieden, die Mitgliederzahl der beiden obersten Gerichtshöfe zu reduzieren. Die Frist zur Umsetzung wurde mit Notstandsdekret 696 vom 20.11.2017 bis 2022 verlängert. Am 25.07.2016 wurden anstelle der entlassenen Richter (mit Ausnahme der jeweiligen Gerichtspräsidenten) 267 neue Mitglieder für den Kassationsgerichtshof und 75 für den Verwaltungsgerichtshof gewählt. Mit Dekret Nr. 696 vom 20.11.2017 wurde jedoch der Kassationsgerichtshof mit 100 neuen Posten aufgestockt und der Verwaltungsgerichtshof mit 16. Diese müssen innerhalb von 6 Monaten nach Inkrafttreten (24.12.2017) des Notstandsdekretes besetzt werden. Vorwürfe, dass diese personellen Veränderungen zu einer Verschiebung der parteipolitischen Orientierung an den Gerichten genutzt wurden, erscheinen plausibel.
Die früheren "Staatssicherheitsgerichte" (Devlet Güvenlik Mahkemesi - DGM) und die "Gerichte für schwere Straftaten mit Sonderbefugnis" sind aufgelöst. Ihre sachliche Zuständigkeit haben regionale "Gerichte für schwere Straftaten" (Agir Ceza Mahkemeleri) übernommen. Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden auch die Militärgerichte abgeschafft (ÖB 10.2017).
Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018). Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).
Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).
Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (EC 17.4.2018).
Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vgl. AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).
Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Mit dem
3. Justizreformpaket wurde die Möglichkeit zu deutlichen Strafmilderungen und Haftaussetzung für Nichtmitglieder einer Terrororganisation geschaffen und mit dem 4. Justizreformpaket die Doppelbestrafung nach ATG und StGB abgeschafft (AA 3.8.2018).
Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017). Eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten ist zulässig, wenn er zumindest einmal vom Gericht angehört wurde. War das nicht möglich, kommen die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen. Für Straftaten, die nicht von der Notstandsgesetzgebung berührt sind, gilt: Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 1 tStPO). In Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage (jeweils um einen Tag) verlängert werden (Art. 91 Abs. 3 tStPO). Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten werden. Gemäß Änderungen im sog. Sicherheitspaket vom 27.03.2015 können die 24 Stunden bei Einzelpersonen beim Ertappen auf "frischer Tat" beispielsweise während einer gewalttätigen Demonstration bis auf 48 Stunden ausgeweitet werden. Spätestens nach Ablauf dieser Frist und bei Kollektivvergehen innerhalb von vier Tagen müssen sie dem Richter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 4 tStPO) (AA 03.08.2018).
Die türkische Rechtsordnung garantiert die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein. Kritisch sind die unspezifische Terrorismusdefinition und ihre Anwendung durch die Gerichte. Nach offiziellen Angaben des türkischen Justizministeriums wurde 2016 über 12.199 Straftaten gemäß Artikel 7 Absatz 2 ATG (Propaganda für eine Terrororganisation) entschieden; davon erging
3.195 mal eine Freiheitsstrafe und 4.492 Freisprüche. Hinsichtlich des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation gemäß Artikel 7 Absatz 1 ATG beläuft sich die Zahl auf 155 Straftaten, wovon bis heute vier mit Freiheitsstrafe und elf mit Freispruch entschieden wurden. Neuere Zahlen stehen nicht zur Verfügung. Dem türkischen Parlament liegen derzeit Vorschläge zur Neufassung von Teilen der Anti-Terror-Gesetzgebung vor, die Teile der Bestimmungen des am 19.07.2018 aufgehobenen Notstands in türkisches Recht überführen würden. Ebenso problematisch wie die Frage nach der Definition des Terrorismusbegriffs ist jedoch die bereits jetzt sehr weite Auslegung des Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa