TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/24 G313 2149452-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.01.2019
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Entscheidungsdatum

24.01.2019

Norm

B-VG Art.133 Abs4
FPG §67
FPG §70 Abs3

Spruch

G313 2149452-1/22E

Schriftliche Ausfertigung des am 11.12.2018 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Birgit WALDNER-BEDITS als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX, geb. XXXX, StA. Ungarn, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.02.2017, Zl. XXXX, nach Durchführung mündlicher Verhandlungen am 14.11.2017 und 11.12.2018 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid

aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA oder belangte Behörde) vom 21.02.2017 wurde gegen die BF gemäß § 67 Abs. 1 u. Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von 5 Jahren befristetes Aufenthaltsverbot verhängt (Spruchpunkt I.) und der BF gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit dieser Entscheidung erteilt (Spruchpunkt II.)

2. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Dabei wurde beantragt, den angefochtenen Bescheid zu beheben, in eventu eine mündliche Verhandlung durchzuführen, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur Verfahrensergänzung an die belangte Behörde zurückzuverweisen, in eventu das Aufenthaltsverbot wesentlich zu verkürzen.

3. Am 08.03.2017 langten beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) die gegenständliche Beschwerde samt dazugehörigem Verwaltungsakt ein.

4. Am 14.11.2017 wurde vor dem BVwG, Außenstelle Graz, eine mündliche Verhandlung durchgeführt, wobei die BF im Beisein ihrer Rechtsvertretung und auch ihr Lebensgefährte als Zeuge einvernommen wurden.

5. Mit Schreiben des BVwG vom 21.12.2017 wurde der Arbeitgeber der BF um Auskunft ersucht, wie sich das Beschäftigungsverhältnis mit der BF gestalte, ob die BF verlässlich sei und sie arbeitswillig erscheine.

6. Am 12.12.2017 wurde dem BVwG die Antwort des Arbeitgebers der BF mitgeteilt und ein Standardcomputerführerschein mitübermittelt.

7. Am 08.02.2018 langte beim BVwG ein Empfehlungsschreiben des Arbeitgebers der BF ein.

8. Am 11.12.2018 wurde vor dem BVwG, Außenstelle Graz, eine mündliche Verhandlung durchgeführt und die BF im Beisein ihres Rechtsvertreters zu ihren individuellen Verhältnissen befragt. Im Zuge dieser Verhandlung wurden Nachweise über bestandene Arbeitsverhältnisse vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Die BF ist ungarische Staatsangehörige.

1.2. Sie hat in Österreich Familienangehörige, darunter einen Lebensgefährten, den sie im Jahr 2011 in Österreich kennen gelernt hat, und mit dem sie eine Lebensgemeinschaft führt und den sie nächstes Jahr zu heiraten beabsichtigt. Der unmündig minderjährige Sohn ihres Lebensgefährten kommt sie beide stets am Wochenende besuchen. Die Mutter der BF, mit welcher sie in Ungarn zusammengelebt hat, lebt ebenfalls in Österreich, dies bereits länger als die BF. Mit ihrem Bruder hat die BF keinen Kontakt mehr.

1.3. Die BF weist im Bundesgebiet im Mai 2011 und im Zeitraum von Juli 2013 bis Oktober 2015 eine Neben- und ab Oktober 2015 eine Hauptwohnsitzmeldung bei ihrem Lebensgefährten auf.

1.4. Der BF wurde am 16.06.2015 eine unbefristete Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmerin erteilt.

1.5. Die BF war im Bundesgebiet erwerbstätig und ging zunächst geringfügigen Beschäftigungen von 16.11.2013 bis 14.01.2014, 17.12.2013 bis 19.03.2014 und von 26.11.2014 bis 25.06.2016 nach, bevor sie im Zeitraum von 03.02.2016 bis 12.06.2016 bedarfsorientierte Mindestsicherung bezogen hat.

Der BF wurde vom AMS mit Schreiben vom 17.06.2016 mitgeteilt, dass sie im Zeitraum von 13.06.2016 bis 17.06.2016 Anspruch auf "Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes bzw. Beihilfe zu den Kursnebenkosten/Pauschale" in Höhe von EUR 18,69 hat.

Mit weiterem Schreiben des AMS vom 25.07.2016 wurde der BF mitgeteilt, ihr Anspruch auf Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes sei mit 05.08.2016 befristet.

Im Zeitraum von 21.07.2017 bis 08.09.2017 ging die BF einer Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 35 Stunden und von 15.09.2017 bis 13.07.2018 einer weiteren Beschäftigung nach. Seit 21.08.2018 befindet sie sich in einem neuen Dienstverhältnis. Für den Monat November 2018 hat sie einen monatlichen Nettolohn von EUR 2.113,85 nachgewiesen. Sie bezieht aus ihrem neuen Beschäftigungsverhältnis durchschnittlich monatlich ca. 1.300 bis 1.400 netto. Die BF ist derzeit in ihrem neuen Betrieb Teilschichtführerin. Dabei ist sie für ca. vier bis fünf Stunden für den Betrieb und die Mitarbeiter allein verantwortlich und hat die Personalleitung inne.

Bereits ihr ehemaliger Dienstgeber hat dem BVwG ein Empfehlungsschreiben über die BF übermittelt und in diesem die BF als zuverlässige Mitarbeiterin mit hohem Weiterentwicklungspotential bezeichnet.

Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 14.11.2017 hatte die BF ihren Schuldenstand bei einem Mobilfunkanbieter in Höhe von insgesamt ca. EUR 1.200 durch monatliche Ratenzahlungen in Höhe von EUR 170,29 zurückzuzahlen. Nunmehr sind keine Schulden der BF bekannt.

1.6. Die BF wurde im Bundesgebiet rechtskräftig mit Urteil vom Juni 2016 strafrechtlich verurteilt wegen im September 2013 und März 2014 begangenen gewerbsmäßig schweren Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren.

1.7. Beim gemeinsamen Strafrechtsurteil der BF und ihres Lebensgefährten wurde bei der Strafbemessung bei der BF "das teilweise reumütige Geständnis, der bisher ordentliche Lebenswandel, die objektive und subjektive Schadensgutmachung, das längere Zurückliegen der Taten" mildernd und "das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen, die Tatwiederholung und die Bestimmungstäterschaft" erschwerend gewertet.

1.8. Die BF hat nach ihrer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung von Juni 2016 keine Straftaten mehr begangen, sondern berufliche Weiterbildungsmaßnahmen gesetzt. Sie hat am 04.06.2017 den Standardcomputerführerschein (ECDL Standard Certificate) erworben, am 25.09.2018 ein "Crew Trainer Modul" und am 29.10.2018 erfolgreich einen Teilschichtführertag bei ihrem Arbeitgeber absolviert.

1.9. Die BF konnte sich in Österreich auch sprachlich gut integrieren und in den beiden mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG, Außenstelle Graz, am 14.11.2017 und 11.12.2018 ohne Dolmetscher für die ungarische Sprache einvernommen werden.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Verfahrensgang:

Der oben angeführte Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem diesbezüglich unbedenklichen und unzweifelhaften Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA sowie des nunmehr dem BVwG vorliegenden Gerichtsakts.

2.2. Zur Person der BF und ihren individuellen Verhältnissen

2.2.1. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit der BF getroffen wurden, beruhen diese auf den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, denen in der Beschwerde nicht entgegengetreten wurde.

2.2.2. Die Feststellungen zu den Wohnsitzmeldungen der BF beruhen auf einem dem Akt einliegenden Auszug aus dem Zentralen Melderegister.

Die Feststellungen zu den familiären Verhältnissen der BF beruhen auf ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben im Zuge ihrer Beschwerde und den mündlichen Beschwerdeverhandlungen am 14.11.2017 und 11.12.2018. Dass die BF in Ungarn bei ihrer Mutter gelebt hat und diese nunmehr bereits länger als die BF in Österreich wohnhaft ist, hat sie ebenso in ihrer mündlichen Verhandlung am 14.11.2017 bekannt gegeben wie die Tatsache, dass sie ihren Lebensgefährten im Jahr 2011 in Österreich kennengelernt hat und mit diesem zusammenlebt. Dass die BF vorhat, ihren Lebensgefährten, mit dem sie derzeit verlobt ist, nächstes Jahr zu heiraten, hat sie in ihrer mündlichen Verhandlung am 11.12.2018 mitgeteilt.

Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit der BF im Bundesgebiet und ihrem Bezug von Mindestsicherung von 03.02.2016 bis 12.06.2016 beruhen auf einem Auszug aus dem AJ WEB-Auskunftsverfahren.

Dass sich die BF nunmehr seit 21.08.2018 in einem neuen mit einem beruflich aufgestiegenen Beschäftigungsverhältnis befindet, hat sie mit einem Lohnzettel im Zuge ihrer mündlichen Verhandlung am 11.12.2018 nachgewiesen. Dass sie in diesem Beschäftigungsverhältnis die Teilschichtführung erlangt hat, hat sie selbst in der mündlichen Verhandlung bekannt gegeben und nachgewiesen. Ihren im Monat November 2018 bezogenen Lohn hat sie im Zuge der mündlichen Verhandlung, in welcher sie einen ansonsten monatlichen Nettolohnbezug von ca. 1.300 bis 1.400 angab, mittels Lohnzettel nachgewiesen.

Dass der Lebensgefährte der BF Notstandshilfe bezieht, wurde von der BF auch im Zuge der mündlichen Verhandlung am 11.12.2018 angeführt, ebenso wie die Tatsachen, dass die Mietzahlungen in Höhe von EUR 350 von ihrem Lebensgefährten und Betriebskosten, Strom und Gas von der BF bezahlt werden, und die BF und ihr Lebensgefährte ein gemeinsames Monatseinkommen in Höhe von EUR 2.200 haben. Ihren Schuldenstand bei einem Mobilfunkanbieter in Höhe von EUR 1.200, für dessen Begleichung sie zum Zeitpunkt der Verhandlung am 14.11.2017 laut ihren Angaben monatliche Rückzahlungen in Höhe von EUR 170,29 leistete (AS 185), hat sie offenbar bereits beglichen, sind doch nunmehr keine Schulden der BF mehr bekannt oder solche festgestellt worden.

Der Erwerb eines Standardcomputerführerscheins (ECDL Standard Certificate) in Österreich am 04.06.2017 geht aus diesbezüglichem dem Verwaltungsakt einliegenden Zertifikat hervor (AS 212). Nachweise für die von der BF über ihren Arbeitgeber absolvierte Weiterbildungsmaßnahmen - "Crew Trainer Modul" am 25.09.2018 und "Teilschichtführertag" am 29.10.2018 - wurden im Zuge der mündlichen Verhandlung am 11.12.2018 vorgelegt.

Die Feststellungen zur rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung der BF und zu den strafrechtlichen Verurteilungen ihres Lebensgefährten beruhen auf die BF und ihren Lebensgefährten bezogene Strafregisterauszüge.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 9 Abs. 2 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 7 Abs. 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht u. a. über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Z. 1) sowie über Beschwerden gegen Maßnahmen unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt gemäß dem 1. Hauptstück des 2. Teiles des BFA-VG und gemäß dem 7. und 8.Hauptstück des FPG (Z. 3).

Da sich die gegenständliche - zulässige und rechtzeitige - Beschwerde gegen einen Bescheid des BFA richtet, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung zuständig.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz (BVwGG), BGBl. I Nr. 2013/10 entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 2013/33 i. d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG entscheidet das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis.

Im Abs. 2 wird angeführt, dass das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden hat, wenn

• der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

• die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Zu Spruchpunkt A):

3.1. Anzuwendendes Recht:

§ 67 FPG lautet:

"(1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) Ein Aufenthaltsverbot kann, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden.

(...)."

Der mit "Schutz des Privat- und Familienlebens" betitelte § 9 BFA-VG lautet wie folgt:

"(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

der Grad der Integration,

die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."

3.1.1. Da von der BF, die aufgrund ihrer ungarischen Staatsangehörigkeit in den persönlichen Anwendungsbereich von § 67 FPG fällt, die Voraussetzung eines Aufenthalts im Bundesgebiet seit zehn Jahren nicht erfüllt ist, kommt für diese der Prüfungsmaßstab des

§ 67 Abs. 1 Satz 2 FPG und nicht § 67 Abs. 1 Satz 4 FPG für Unionsbürger zu Anwendung.

Gegen die BF als unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürgerin ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gemäß § 67 Abs. 1 FPG nur zulässig, wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahme begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

Mit Spruchpunkt I. des gegenständlich angefochtenen Bescheides wurde gegen die BF gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen. Dieses Aufenthaltsverbot stützte sich auf die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung der BF von Juni 2016 zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten, bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren wegen gewerbsmäßiger Betrug, teils als Beteiligte zusammen mit ihrem abgesondert verfolgten Bruder, im September 2013 und März 2014.

Hinsichtlich dieser strafrechtlichen Verurteilung weist das erkennende Gericht der Vollständigkeit halber darauf hin, dass die fremdenpolizeilichen Beurteilungen unabhängig und eigenständig, von den die des Strafgerichts für die Strafbemessung, die bedingte Strafnachsicht und den Aufschub des Strafvollzugs betreffenden Erwägungen zu treffen sind (vgl. Erkenntnis des VwGH v. 6.Juli 2010, Zl. 2010/22/0096). Es geht bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes in keiner Weise um eine Beurteilung der Schuld des Fremden an seinen Straftaten und auch nicht um eine Bestrafung (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 8. Juli 2004, 2001/21/0119).

Bei der Stellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährlichkeitsprognose ist das Gesamt(fehl)verhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die in § 67 Abs. 1 FPG umschriebene Annahme gerechtfertigt ist. Bei dieser Beurteilung kommt es demnach nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf das diesen zugrundeliegende Fehlverhalten, die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild an (vgl. VwGH 19.02.2013, Zl. 2012/18/0230).

Fest steht im gegenständlichen Fall, dass die BF im Jahre 2013 und 2014 Straftaten begangen hat und im Juni 2016 wegen gewerbsmäßig schweren Betrugs, teils als Beteiligte, Bestimmung zur falschen Beweisaussage und Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung und Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung selbst zu einer auf die Probezeit von drei Jahren bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten strafrechtlich verurteilt wurde, danach jedoch keine weiteren strafbaren Handlungen gesetzt hat, sondern im Gegenteil sich beruflich nicht nur etablierte sondern auch aufgestiegen ist.

Die BF hat im Juni 2017 den Standardcomputerführerschein absolviert.

Im Zuge ihres letzten Beschäftigungsverhältnisses von 15.09.2017 bis 13.07.2018 wurde der BF von ihrem Arbeitgeber in einem Empfehlungsschreiben Zuverlässigkeit und hohes Weiterentwicklungspotential bescheinigt. Seit 21.08.2018 befindet sich die BF in einem neuen Dienstverhältnis, wobei sie nunmehr eine Teilschichtführung innehat und ca. 4-5 Stunden lang für den Betrieb und alle Mitarbeiter allein verantwortlich ist. Im Zuge ihrer neuen Beschäftigung hat die BF am 25.09.2018 ein "Crew Trainer Modul" und am 29.10.2018 erfolgreich einen Teilschichtführertag absolviert.

Daraus ist ersichtlich, dass die BF nach rechtskräftiger bedingter strafrechtlicher Verurteilung von Juni 2016 innerhalb der mit diesem Urteil ausgesprochenen dreijährigen Probezeit, für welche die über sie verhängte Freiheitsstrafe von 18 Monaten ausgesprochen wurde, sich stets um berufliches Weiterkommen bemühte und bislang nicht wieder straffällig geworden ist.

Die BF gab in der mündlichen Verhandlung vom 14.11.2017 befragt danach, an, diese Vermögensstraftaten nur für ihren Bruder, der sich in finanzieller Not befunden habe, begangen zu haben. Die BF wurde in der mündlichen Verhandlung vom 14.11.2017 vorgehalten, ihr Verhalten sei gesetzeswidrig gewesen, berücksichtige man, dass die BF Schulden habe und das Risiko bestehe, dass die BF in einer finanziellen Notlage erneut durch Straftaten zu Geld zu kommen versucht. Die Ausführungen der BF, durch den Bruder zu Straftaten verleitet worden zu sein, ist aufgrund des Strafaktes nachvollziehbar, feststellbar und glaubwürdig. Bezüglich der von der Richterin angesprochenen Schulden wurde auf das Vorbringen der BF zuvor in der mündlichen Verhandlung vom 14.11.2017 Bezug genommen, dass die BF derzeit einen Schuldenstand in Höhe von insgesamt ca. EUR 1.200 habe, monatlich EUR 1.460 brutto verdiene und davon monatlich ein Betrag von EUR 170,29 zur Begleichung ihrer Schulden abgezogen werde. Ausgehend von Zahlungsbeginn im November 2017 sind diese Schulden mit heutigem Entscheidungsdatum jedenfalls bereits zurückgezahlt, bzw. sind keine gegenteiligen Nachweise vorgelegt worden.

Ein krimineller negativer Einfluss durch den abgesondert ebenfalls strafrechtlich verfolgten Bruder der BF besteht jedenfalls nicht mehr, hat die BF zu diesem doch keinen aufrechten Kontakt mehr.

Das Zusammenleben der BF mit ihrem Lebensgefährten und offenbar auch die Tatsache, dass der unmündig minderjährige Sohn des Lebensgefährten der BF bei ihnen an jedem Wochenende wohnt und sich die BF maßgeblich um das Kind kümmert und eine starke Bindung zu ihm aufgebaut hat, war offensichtlich für ihre kriminelle Enthaltsamkeit ebenso positiv förderlich.

Fest steht, dass sich die BF, der am 16.06.2015 eine unbefristete Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmerin erteilt wurde, bereits zum Zeitpunkt der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme und der behördlich geplanten Erlassung eines Aufenthaltsverbotes mit Schreiben des BFA vom 29.07.2016, das der BF am 01.08.2016 zugestellt wurde, über ihren unsicheren Aufenthaltsstatus mitgeteilt wurde. Dies hat die BF spätestens zur Gesinnungsumkehr bewogen.

Ab diesem Zeitpunkt hat die BF jedenfalls einige berufliche Integrationsschritte gesetzt, darunter einen Standardcomputerführerschein am 04.06.2017 erworben und weitere Weiterbildungsmaßnahmen - "Crew Trainer Modul" am 25.09.2018 und Teilschichtführertag erfolgreich am 29.10.2018 - absolviert. Die BF hat jedoch bereits nach ihren im September 2013 und März 2014 begangenen Straftaten berufliche Integrationsschritte gesetzt, und zwar zunächst durch eine geringfügige Beschäftigung von 26.11.2014 bis 25.06.2016 und Beschäftigungsverhältnisse von 21.07.2017 bis 08.09.2017, 15.09.2017 bis 13.07.2018 und nunmehr seit 21.08.2018. Ihre finanzielle Notlage, bezog sie doch während ihrer von 26.11.2014 bis 25.06.2016 nachgegangenen geringfügigen Beschäftigung laut AJ WEB-Auskunftsverfahrensauszug von 03.02.2016 bis 12.06.2016 bedarfsorientierte Mindestsicherung, hat die BF jedenfalls nicht mehr zu einer Vermögensstraftat verleitet. Die BF bemühte sich stattdessen vielmehr um baldige Aufnahme einer Mehrzeitbeschäftigung und konnte nach zwischenzeitigem Arbeitslosengeldbezug am 21.07.2017 tatsächlich eine Teilzeitbeschäftigung im Ausmaß von 35 Stunden wöchentlich aufnehmen. Ihrem Beschäftigungsverhältnis von 21.07.2017 bis 08.09.2017 folgte eine Beschäftigung von 15.09.2017 bis 13.07.2018.

Seit 21.08.2018 befindet sich die BF in einem neuen Dienstverhältnis. Sie bezieht durchschnittlich einen Monatslohn von ca. EUR 1.300 bis 1.400 netto und ist nunmehr in ihrem neuen Betrieb "Teilschichtführerin". Dabei ist sie ca. vier bis fünf Stunden lang für den Betrieb und die Mitarbeiter allein verantwortlich und hat sie die Personalleitung inne. Die BF und ihr Lebensgefährte haben gemeinsam ein Monatseinkommen von insgesamt ca. EUR 2.200, wobei die Zahlungen für die Miete von der BF und für Betriebskosten, Strom und Gas von ihrem Lebensgefährten geleistet werden.

Es ist in Gesamtbetrachtung aller Umstände eine familiäre Nahebeziehung der BF zu ihrem Lebensgefährten iSv Art. 8 EMRK seit 2011 zu erkennen und aufgrund der bisher von der BF, der am 16.06.2015 eine unbefristete Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmerin erteilt wurde, nachgegangenen Erwerbstätigkeit und ihren beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen - Erwerb des Standardcomputerführerscheins am 04.06.2017 und Absolvierung des "Crew Trainer Moduls" am 25.09.2018 und des "Teilschichtführertags" am 29.10.2018 - von einer beruflichen bzw. wirtschaftlichen Integration und Selbsterhaltungsfähigkeit der BF auszugehen.

Abgesehen davon hat konnte sich die BF auch sprachlich gut im Bundesgebiet integrieren und in beiden mündlichen Verhandlungen am 14.11.2017 und 11.12.2018 ohne Dolmetscher für die ungarische Sprache einvernommen werden.

Während der mündlichen Verhandlung konnte sich die erkennende Richterin durch den Gesamteindruck der BF ein positives Bild machen und konnte die BF glaubwürdig von einem Gesinnungswandel überzeugen, zumal die Straftaten im Jahre 2013 und 2014 nunmehr bereits 5 bzw. 6 Jahre zurückliegen und die BF seit dieser Zeit eine persönliche Gesinnungsänderung durchgemacht hat. Die BF selbst ist durchgehend mit positiven Dienstgeberauskünften in Beschäftigung und versucht auch ihren Lebensgefährten positiv im Hinblick auf Beschäftigungsaufnahme zu unterstützen.

Angesichts des sich darüber hinaus aus dem Akteninhalt ergebenden Gesamtverhaltens der BF im Bundesgebiet, die nur einmal rechtskräftig strafrechtlich bedingt verurteilt wurde, eine familiäre Beziehung zu ihrem Lebensgefährtin, den sie 2011 kennen gelernt und mit welchem sie zusammen lebt, führt, seit 16.06.2015 im Besitz einer unbefristeten Anmeldebescheinigung als Arbeitnehmerin ist und sich beruflich und sprachlich gut im Bundesgebiet integrieren konnte, ist bei einem weiteren Verbleib der BF im Bundesgebiet nicht von einer von dieser ausgehenden tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr iSv § 67 Abs. 1 S. 2 FPG auszugehen, weshalb spruchgemäß von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes Abstand zu nehmen ist.

Sohin war spruchgemäß zu entscheiden, der Beschwerde stattzugeben und der gegenständlich angefochtene Bescheid zu beheben.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlichen Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht hervorgekommen.

Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar zu früheren Rechtslagen ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Schlagworte

Aufenthaltsverbot, Durchsetzungsaufschub, Selbsterhaltungsfähigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:G313.2149452.1.00

Zuletzt aktualisiert am

04.06.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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