TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/28 W194 2183048-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.03.2019
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Entscheidungsdatum

28.03.2019

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W194 2183048-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Daniela Sabetzer über die Beschwerde des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.11.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 27.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am darauf folgenden Tag erfolgte seine Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Hierbei wurde das im Spruch genannte Geburtsdatum des Beschwerdeführers vermerkt.

2. Mit Beschluss des zuständigen BG vom 06.03.2017 wurde die Obsorge und gesetzliche Vertretung für den minderjährigen Beschwerdeführer dem Land XXXX übertragen.

3. Am 13.06.2017 wurde der Beschwerdeführer im Beisein seines gesetzlichen Vertreters im Rahmen einer Einvernahme vor der belangten Behörde ua. näher zu seinen Fluchtgründen befragt. Der Beschwerdeführer führte dabei zusammengefasst an, dass es in Afghanistan nicht sicher sei. Die Taliban hätten seinen Vater und seine Schwestern getötet.

4. In einem von der belangten Behörde eingeholten medizinischen Gutachten vom 30.08.2017 wurde ein fiktives Geburtsdatum errechnet und festgestellt, dass von einem Mindestalter des Beschwerdeführers von XXXX im Untersuchungszeitpunkt auszugehen sei. Im weiteren Verfahren ging die belangte Behörde von dem im Spruch angeführten (ursprünglich vermerkten) Geburtsdatum des Beschwerdeführers aus.

5. Die belangte Behörde wies mit Bescheid vom 07.11.2017 den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 28.06.2016 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 07.11.2018 (Spruchpunkt III.).

Zu Spruchpunkt I. führte die belangte Behörde begründend insbesondere aus, dass der Fluchtgrund des Beschwerdeführers nicht glaubhaft sei.

Zur Erteilung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) wurde begründet, dass die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers als nicht ausreichend stabil zu bewerten sei. Auch wenn der Beschwerdeführer noch einen Onkel in seinem Heimatdistrikt habe, könne daraus nicht abgeleitet werden, dass dieser den Beschwerdeführer noch mittragen könne. Zudem verfüge der Beschwerdeführer an keinem anderen Ort in Afghanistan über familiäre bzw. soziale Anknüpfungspunkte, er verfüge über keine Schulbildung oder besondere berufliche Qualifikationen und würde ohne Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse zurückkehren, sodass der Beschwerdeführer nach den Länderberichten mit Schwierigkeiten im existenzgefährdenden Ausmaß zu rechnen habe. Es sei nicht ersichtlich wie der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr und auf sich alleine gestellt in einem der übrigen Landesteile in der Lage sein solle, für sich eine ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen.

Der Bescheid wurde dem gesetzlichen Vertreter des Beschwerdeführers am 07.11.2017 zugestellt.

Die belangte Behörde stellte dem Beschwerdeführer weiters mit Verfahrensanordnung vom 07.11.2017 einen Rechtsberater für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite.

6. Der Beschwerdeführer erhob mit Schreiben vom 05.12.2017, bei der belangten Behörde am selben Tag eingelangt, gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides durch seinen gesetzlichen Vertreter Beschwerde. Begründend führte er aus, dass er fürchte, von den Taliban ermordet zu werden. Seine Familie gelte bei den Taliban als regierungsfreundlich, da sich sein Vater geweigert habe, sich den Taliban anzuschließen. Der Beschwerdeführer schwebe in Gefahr, ebenfalls von den Taliban ermordet oder rekrutiert zu werden.

7. Die belangte Behörde übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht mit hg. am 16.01.2018 eingelangter Beschwerdevorlage den verfahrensgegenständlichen Verwaltungsakt.

8. Mit Schreiben vom 17.08.2018 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien des Verfahrens die Ladungen zur Verhandlung sowie die im Beschwerdefall als relevant erachteten Berichte zur Lage in Afghanistan.

9. Am 03.10.2018 übermittelte der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers der belangten Behörde ua. einen klinisch-psychologischen Befund des Beschwerdeführers vom 10.04.2018, eine Schulbesuchsbestätigung für die Polytechnische Schule für das Schuljahr 2017/18 und zwei Kurs-Teilnahmebestätigungen. Die belangte Behörde reichte diese Unterlagen dem Bundesverwaltungsgericht am 04.10.2018 zur Kenntnis nach.

10. Am 10.10.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine gesetzliche Vertreterin teilnahmen und der ein Dolmetscher für die Sprache Paschtu beigezogen wurde. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung fern. Sie hatte am 03.10.2018 mitgeteilt, dass eine Teilnahme aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei.

Der Beschwerdeführer wurde in der Verhandlung zu seiner Person und seiner Herkunft, seinem bisherigen Leben und seinen Fluchtgründen befragt. Der Beschwerdeführer legte an weiteren Unterlagen eine Medikamentenliste vor.

Zudem wurden die im Beschwerdefall vom Bundesverwaltungsgericht als relevant erachteten Länderberichte erörtert. Die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers verzichtete auf Ausführungen zu den Berichten.

Die Niederschrift der mündlichen Verhandlung samt den vorgelegten Unterlagen wurde der belangten Behörde im Anschluss an die Verhandlung zur Kenntnis übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Beschwerdeführer:

1.1.1. Der minderjährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und führt den im Spruch angeführten Namen sowie das im Spruch angeführte Geburtsdatum. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz XXXX im Dorf XXXX im Distrikt XXXX geboren und lebte dort bis zum Alter von ca. 12 Jahren, als sein Onkel mütterlicherseits die Mutter des Beschwerdeführers, den Beschwerdeführer und seine beiden jüngeren Brüder nach Pakistan holte (ca. 2014). In Pakistan hielt der Beschwerdeführer sich zwei Jahre auf und reiste dann nach Europa (ca. 2016). Der Beschwerdeführer besuchte weder in Afghanistan noch in Pakistan die Schule. In Pakistan arbeitete er (als XXXX ). Seine Muttersprache ist Paschtu. Die Mutter des Beschwerdeführers, seine beiden Brüder und sein Onkel mütterlicherseits, der entschieden hat, dass der Beschwerdeführer Pakistan verlassen soll, leben weiterhin in Pakistan, und der Beschwerdeführer steht mit ihnen in Kontakt. Ein weiterer Onkel des Beschwerdeführers, der bis dahin im Heimatdorf gewohnt hat, lebt seit ca. einem Jahr ebenfalls in Pakistan.

Am 27.06.2016 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. In Österreich verfügte der Beschwerdeführer (jedenfalls) bis zum 07.11.2018 über den Status des subsidiär Schutzberechtigten. Der Beschwerdeführer besuchte im Schuljahr 2017/18 die XXXX Schule als außerordentlicher Schüler. Der Beschwerdeführer ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer hat Schlafstörungen, da er häufig über Erlebnisse auf seiner Flucht nachdenken muss und sich um seine Mutter und seine Brüder sorgt. Er nahm deswegen Medikamente, die ihm beim Einschlafen halfen. Außerdem nahm er Medikamente, weil er sich manchmal selbst verletzte. Zum Zeitpunkt der Verhandlung nahm der Beschwerdeführer keine Medikamente und war nicht in psychologischer Behandlung, er ging jedoch zum Hausarzt. Der Beschwerdeführer weist nach einem klinisch-psychologischen Befund überdurchschnittliche Werte ua. in den Bereichen Depressivität und Ängstlichkeit auf. Bezüglich seiner kognitiven Leistungsfähigkeit zeigt er eine unterdurchschnittliche logische Denkfähigkeit.

1.1.2. Zu den geltend gemachten Fluchtgründen:

Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus Afghanistan physischer oder psychischer Gewalt, Strafverfolgung oder Bedrohungen von erheblicher Intensität durch staatliche Organe oder Private bzw. speziell durch die Taliban, sei es vor dem Hintergrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung, ausgesetzt gewesen ist.

Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aktuell, dh. im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr, derartige Bedrohungen in seinem Heimatland zu erwarten hätte.

1.2. Zur Lage in Afghanistan:

Im Verfahren wurden folgende Quellen herangezogen:

* Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der ISLAMISCHEN REPUBLIK AFGHANISTAN (Stand Mai 2018) vom 31.05.2018,

* UNHCR-RICHTLINIEN zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018,

* BFA, Arbeitsübersetzung: Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017,

* Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, sowie die Kapitel Neueste Ereignisse, Sicherheitslage, Laghman, Wehrdienst, Wehrdienstverweigerung/Desertion, Religionsfreiheit, Ethnische Minderheiten, Paschtunen, Kinder, Rückkehr, Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.

Auf der Grundlage dieser Quellen wird im Beschwerdefall festgestellt:

1.2.1. Zur Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, 29.06.2018):

Die Provinz Laghman liegt inmitten des Hindukush-Gebirges. Sie besteht aus folgenden Distrikten: Alishing/Alishang, Alingar, Dawlat Shah/Dawlatshah, Qargayi/Qarghayi und Mehtar Lam/Bad Pash (Pajhwok o. D.f). Laghman grenzt an die Provinzen Nangarhar im Süden, Kunar im Osten, Nuristan und Panjshir im Norden und Kapisa und Kabul im Westen. Mehtar Lam/Mehtarlam ist die Provinzhauptstadt (NPS o.D.; vgl. UN OCHA 4.2014, Pajhwok o.D.b). In der Provinz leben mehrheitlich Paschtunen, gefolgt von Tadschiken, Nuristani, Paschai (Pajhwok o.D.a; vgl. NPS o.D.). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 460.352 geschätzt (CSO 4.2017).

Zahlreiche Projekte werden in der Provinz Laghman implementiert (Pajhwok 21.8.2017; vgl. Tolonews 15.10.2017): der Bau eines Flughafens, der die vier östlichen Provinzen verbinden soll, Dämme, ein Solarenergieplan, Parks, Straßen, ein Wasserversorgungssystem, der Campus der Universität Laghman sowie die Errichtung eines Kricket-Stadiums usw. (MENAFN 28.1.2018). Ein Abschnitt der Kabul-Jalalabad Autobahn geht durch die Provinz Laghman (Pajhwok 29.3.2018; vgl. Pajhwok 3.3.2017). Auch wurde Ende 2013 eine 14 km lange Straße gebaut, welche die Provinzhauptstadt Mehtarlam mit dem Distrikt Qarghayi verbindet (Pajhwok 7.11.2013). Mitte April 2017 wurde in Mehtarlam der Bau einer Tangente in der Provinz Laghman angekündigt (Khaama Press 17.4.2017).

2017 stieg die Opium-Produktion in der Provinz Laghman um 64% im Vergleich zu 2016. Alle Distrikte der Provinz, in denen Mohn angebaut wird, waren davon betroffen. Im Laufe des Jahres 2017 wurden 23 Hektar Mohnfelder umgewidmet (UNODC 11.2017).

Allgemeine Informationen zur Sicherheitslage

Laghman zählte seit dem Fall der Taliban im Jahr 2001 zu den relativ friedlichen Provinzen; Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen nahmen jedoch in den letzten Jahren zu (Khaama Press 26.2.2018; vgl. Khaama Press 19.2.2018, ToI 6.1.2018, Khaama Press 19.12.2017, Khaama Press 11.4.2017). Im Juli 2017 waren die Distrikte Alingar, Alishing und Dawlatshah von Sicherheitsproblemen betroffen, während sich die Sicherheitslage in der Provinzhauptstadt und ihren Vororten verbesserte (Tolonews 18.7.2017).

In Laghman befindet sich eine internationale Militärbasis (Forward Operating Base Gamberi) (U.S. DoD 21.3.2018; vgl. U.S. DoD 22.3.2018, Reuters 10.2.2017).

Im Jahr 2017 wurden aufgrund von Bedrohungen durch regierungsfeindliche Gruppierungen u.a. in der Provinz Laghman vorübergehend Gesundheitseinrichtungen geschlossen (UNAMA 2.2018).

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 147 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen [Darstellung fehlt].

Im gesamten Jahr 2017 wurden in Laghman 354 zivile Opfer (84 getötete Zivilisten und 270 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 14% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Militärische Operationen in Laghman

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien (Tolonews 3.3.2018; vgl. Khaama Press 26.2.2018, Pajhwok 25.12.2017, Tolonews 25.9.2017). Luftangriffe werden durchgeführt (Khaama Press 26.2.2018, vgl. ToI 6.1.2018, Khaama Press 22.11.2016, Khaama Press 21.11.2016). Dabei werden Aufständische, auch Talibananführer (Khaama Press 26.2.2018; vgl. Xinhua 9.1.2018, Tolonews 25.12.2017, Khaama Press 19.12.2017, Tolonews 25.9.2017). Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräfte finden statt (Xinhua 20.9.2017; vgl. Khaama Press 11.4.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen in Laghman

Berichtet wurde, dass nun zum ersten Mal Zusammenstöße zwischen Aufständischen der Taliban und des IS von Nangarhar auf die Provinz Laghman übergeschwappt sind - beide Seiten haben hohe Verluste bei diesen Zusammenstößen zu verzeichnen (Khaama Press 29.11.2017). Die Provinz Laghman grenzt an die Provinz Nangarhar, in der sowohl Anhänger der Taliban als auch Anhänger des IS in abgelegenen Distrikten aktiv sind. Lokale Beamte berichten von Luftangriffen auf die Taliban und den IS in manchen Distrikten der Provinz Laghman (Khaama Press 26.2.2018; vgl. ToI 26.2.2018). Regierungsfeindliche Gruppierungen, inklusive Anhänger der Taliban und des IS, haben versucht, in abgelegenen Teilen der Provinz ihre Aktivitäten auszuweiten (Khaama Press 19.2.2018). In der Provinz Laghman kam es zu Zusammenstößen zwischen Taliban- und IS-Kämpfern (VoA 30.11.2017; vgl. Khaama Press 29.11.2017).

Im Juli 2017 wurde in den drei Distrikten Alingar, Alishing und Dawlatshah die Aktivität von Aufständischen registriert (Tolonews 18.7.2017).

Im Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden IS-bezogene Sicherheitsvorfälle in der Provinz registriert (ACLED 23.2.2018).

1.2.2. Religionsfreiheit (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, 29.06.2018):

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten (CIA 2017; vgl. USCIRF 2017). Schätzungen zufolge sind etwa 10 - 19% der Bevölkerung Schiiten (AA 5.2018; vgl. CIA 2017). Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan (USDOS 15.8.2017).

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 15.8.2017). Der politische Islam behält in Afghanistan die Oberhand; welche Gruppierung - die Taliban (Deobandi-Hanafismus), der IS (Salafismus) oder die afghanische Verfassung (moderater Hanafismus) - religiös korrekter ist, stellt jedoch weiterhin eine Kontroverse dar. Diese Uneinigkeit führt zwischen den involvierten Akteuren zu erheblichem Streit um die Kontrolle bestimmter Gebiete und Anhängerschaft in der Bevölkerung (BTI 2018).

[...]

Mitglieder der Taliban und des IS töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 15.8.2017; vgl. CRS 13.12.2017, FH 11.4.2018). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 15.8.2017).

1.2.3. Ethnische Minderheiten, Paschtunen (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, 29.06.2018):

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen (CIA Factbook 18.1.2018). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. CIA Factbook 18.1.2018). Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2018; vgl. CIA Factbook 18.1.2018).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." (BFA Staatendokumentation 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 20.4.2018).

[...]

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; die meisten ihrer Regierungsvertreter sprechen auch Dari (CSR 12.1.2015). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze (USDOS 20.4.2018). Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (Brookings 25.5.2017).

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (BFA Staatendokumentation 7.2016).

[...]

1.2.4. Taliban und Zwangsrekrutierung:

1.2.4.1. Wörtlich entnommen den UNHCR-RICHTLINIEN zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018:

Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Kontext der Rekrutierung Minderjähriger und von Zwangsrekrutierung

Berichten zufolge werden Fälle von Zwangsrekrutierung Minderjähriger zu einem großen Teil unzureichend erfasst. Jedoch geht aus Berichten hervor, dass die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern durch alle Konfliktparteien für Unterstützungs- und Kampfhandlungen im ganzen Land beobachtet werden.

a) Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs)

Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden. Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, so wird berichtet, weiterhin Kinder, um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen zu verwenden, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln sowie als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung.

1.2.4.2. Wörtlich entnommen der BFA, Arbeitsübersetzung: Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017:

Zusammenfassung

Die Taliban sind im Wesentlichen immer noch eine Bewegung der Paschtunen. Im letzten Jahrzehnt hat sich allerdings die Rekrutierung von Nichtpaschtunen verstärkt.

Das Konfliktschema in Afghanistan hat sich seit der Übergangsperiode 2014 verändert, die Taliban konzentrieren sich seither auf den Aufbau einer professionelleren militärischen Organisation. Das hat Folgen für die Rekrutierung, sowohl im Hinblick auf das Profil der rekrutierten Personen, als auch im Hinblick auf ihre Ausbildung. Religion und die Idee des Dschihad spielen bei der Rekrutierung weiterhin eine bedeutsame Rolle, ebenso die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Das kulturelle und sozioökonomische Umfeld erlegt den meisten Afghanen Einschränkungen auf, viele von ihnen haben keine andere Wahl als sich den Taliban anzuschließen.

Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet.

Ethnische und geografische Zugehörigkeit

Informationen über die Anzahl und ethnische und geografische Zugehörigkeit der Talibankader beruhen auf Schätzungen. Landinfo geht davon aus, dass die Taliban im Hinblick auf die tatsächlichen und relativen Zahlen noch immer ein hauptsächlich paschtunisches Phänomen darstellen. Die Mehrheit sind Paschtunen, obwohl die Taliban behaupten, dass ethnische Zugehörigkeit, Stamm und Region irrelevant seien.

[...]

Elitetruppen der Taliban

In den Jahren nach 2014 gründeten die Taliban Elitetruppen und entwickelten spezialisierte und professionellere Streitkräfte. Diese Strategien waren unter der Führung des verstorbenen Mullah Mansour ausgearbeitet worden. Ein angesehener lokaler Analytiker beschrieb Mansour als strategischen und visionären Führer (Gespräch in Kabul, Mai 2017).

[...]

Aufgrund dieser mobilen Elitetruppen sind die Taliban nicht mehr so stark auf die lokale Rekrutierung von Kämpfern angewiesen (EASO 2016, S. 22). Gleichzeitig stellt Giustozzi fest (zitiert in EASO 2016, S. 16), dass den besten lokalen Kämpfern angeboten wird, in die Elitetruppen einzutreten und so ihre eigene Karriere voranzutreiben und bessere Bezahlung zu erhalten. Ferner behauptet Giustozzi, dass die meisten Elitetruppen in Pakistan rekrutiert werden.

Zusätzlich haben die Taliban eine Sondereinheit für Selbstmordattentäter eingerichtet. Selbstmordattentate sind ressourcenintensiv und die Taliban investieren sehr viel in diese Angriffe. Daher wird nachdrücklich betont, dass die für Selbstmordattentate rekrutierten Personen vertrauenswürdig sein müssen. Die Ausbildung soll den Selbstmordattentätern ausreichende mentale Stärke für die Durchführung des geplanten Attentats geben. Die religiöse und ideologische Überzeugung ist für alle Personen, die für solche Aufgaben ausgewählt werden, besonders wichtig. Selbstmordattentäter spielen bei komplexen, koordinierten Angriffen, zum Beispiel in der Stadt Kabul, eine bedeutsame Rolle: Bei solchen Angriffen machen die Selbstmordattentäter den Scharfschützen den Weg frei (Gespräch mit einem Analytiker in Kabul, Mai 2017).

Wie rekrutieren die Taliban

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte erfolgt; sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban (Clark 2011) enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura ist für die Rekrutierung verantwortlich.

[...]

Zusätzlich unternehmen die Taliban persönlich und direkt Versuche, die Menschen von ihrer Ideologie und Weltanschauung zu überzeugen, damit sie die Bewegung unterstützen. Ein Gutteil dieser Aktivitäten läuft über religiöse Netzwerke. Das kann bei den Freitagsgebeten in der Moschee oder bei anderen lokalen Veranstaltungen und Schauplätzen geschehen (Gespräch mit lokalem Thinktank, April 2016). Ein großer Apparat von politischen Agenten und Vermittlern ist mit der Anwerbung in Moscheen und Madrassen befasst, häufig in Pakistan (Gespräch mit Giustozzi in Oslo, November 2015), aber es gibt auch einige Berichte über Madrassen als zentrale Rekrutierungsstätte in Afghanistan (EASO 2016, Seite 17).

[...]

Ausmaß unmittelbaren Zwangs

Quellen von Landinfo haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen (Gespräch mit NGO A in Kabul, Mai 2017).

Nach Aussagen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afghanistan (UNAMA) ist die Gruppe der Stammesältesten gezielten Tötungen ausgesetzt (UNAMA & OHCHR 2017, S. 64). Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Der Analytiker Borham Osman (berichtet in EASO 2016, S. 24) hat auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfen verweigert haben, verwiesen. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet (NGO A, Kabul, Mai 2017), meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen.

Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Nach Osman (zitiert in EASO 2016, S. 24) kann die erweiterte Familie allerdings auch eine Zahlung leisten anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich frei zu kaufen.

[...]

Die Beantwortung einer Anfrage zur Rekrutierung durch Landinfo im Februar 2012 kommt zu dem Schluss, dass es nur in Ausnahmefällen zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban gekommen ist. Die Antwort bezieht sich auf Gespräche, die Landinfo im Oktober 2011 in Kabul geführt hat (Landinfo 2012). Es gibt keine Angaben, die darauf hindeuten, dass sich das Ausmaß von Zwangsrekrutierungen in den vergangenen Jahren erhöht hat. Das geänderte Konfliktschema und die Tatsache, dass die Taliban ihre Truppen professionalisiert haben, bedeuten auch, dass unmittelbare Zwangsrekrutierungen vermutlich sehr gering verbreitet sind. Dies wurde in Gesprächen von Landinfo im April/Mai 2017 in Kabul bestätigt; unmittelbare Zwangsrekrutierungen erfolgen in sehr beschränktem Ausmaß und lediglich in Ausnahmefällen. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Eine Quelle äußerte den Gedanken, dass es "schwierig sei, einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden/etwas zu kämpfen".

Strukturelle Gegebenheiten

Es sind in erster Linie die strukturellen Gegebenheiten, die als eine Form von Zwang in der Rekrutierung durch die Taliban betrachtet werden können. Strukturelle Gegebenheiten können allgemeine kulturelle, religiöse oder soziale Faktoren sein, gepaart mit eingeschränktem Vertrauen in den Staatsbildungsprozess. Traditionsbedingte Verpflichtungen im Zusammenhang mit Stammesgruppen und örtlichen Machtgruppen bedeuten, dass Menschen als Ergebnis von Entscheidungen (Bildung von Allianzen), auf die sie selbst wenig Einfluss haben, Teil der Taliban werden. Lokale Drahtzieher spielen in dem Prozess, wie sich die Taliban in einem Gebiet etablieren und die Kontrolle erlangen, eine zentrale Funktion. Wenn ein zentraler Kommandant bzw. Stammesältester ein Bündnis mit den Taliban eingeht, so geschieht dies vielfach zur Sicherung der Interessen der Gemeinschaft (Hammer & Jensen 2016).

[...]

Die Bedachtnahme auf das Kollektiv und das kollektive Denken ist in allen ethnischen Gruppen Afghanistans zentral verankert. Das Kollektiv steht über den Wünschen und Bedürfnissen des Einzelnen, die Rechte des Einzelnen sind sekundär (EASO 2016, S. 22). Für Einwendungen oder die kritische Hinterfragung von Entscheidungen, die vom Kollektiv getroffen wurden, sei es von der erweiterten Familie oder der lokalen Gemeinschaft, besteht wenig Spielraum.

[...]

Die Wahlmöglichkeiten werden durch sozio-ökonomische bzw. familiäre Beziehungen, durch Erwartungen des Clans oder Stammes und örtliche politische Entscheidungen eingeschränkt. Der strukturelle Zwang wird durch ein kulturelles Merkmal verstärkt, nämlich, dass das Kollektiv wichtiger als der Einzelne ist, und dass der Einzelne in nahezu jeder Hinsicht eine Gruppe vertritt. Dies löst Erwartungen ebenso wie Verpflichtungen aus. [...]

Rekrutierung von Minderjährigen

Im Kontext Afghanistans verläuft die Grenze zwischen Junge und Mann fließend; ausschlaggebend für diese Beurteilung sind Faktoren wie Pubertät, Bartwuchs, Mut, Unabhängigkeit, Stärke und die Fähigkeit, die erweiterte Familie zu repräsentieren. Welchen Status jemand auf der Skala vom Kind zum Erwachsenen innehat und zu welchem Zeitpunkt erwachsenes Verhalten erwartet wird, entspricht im Regelfall weder den nationalen afghanischen Gesetzen noch dem Völkerrecht. Diese Tatsache, gepaart mit der demografischen Zusammensetzung, wirtschaftlichen, politischen und anderen kulturellen Gegebenheiten führt im Ergebnis dazu, dass bewaffnete Soldaten in verschiedenen Gruppen die im Völkerrecht festgelegten Altersgrenzen unterschreiten können. In der überwiegenden Mehrzahl aller Kontexte ziehen Afghanen bei der Beurteilung von Status, Stellung und Reife einer Person nur in geringem Ausmaß formelle und rechtliche Bestimmungen heran.

Wie bereits erwähnt, ist die erweiterte Familie die tonangebende gesellschaftliche Institution und bildet den Rahmen für die Familienmitglieder. Der Familienälteste ist das Oberhaupt, absolute Loyalität gegenüber getroffenen Entscheidungen wird vorausgesetzt. Kinder unterstehen der Obrigkeit der erweiterten Familie. Es stünde im Widerspruch mit der afghanischen Kultur, würde man Kinder gegen den Wunsch der Familie und ohne entsprechende Entscheidung des Familienverbandes aus dem Familienverband "herauslösen" (Gespräch mit einer NGO, Kabul 2016).

1.2.5. Kinder, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (wörtlich entnommen dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, 29.06.2018):

Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika) (AA 5.2018). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (USDOS 3.3.2017).

Bildungssystem in Afghanistan

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (USDOS 20.4.2018).

Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes (USDOS 3.3.2017). Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (USDOS 20.4.2018). Nichtregierungsorganisationen sind im Bildungsbereich tätig, wie z. B. UNICEF, NRC, AWEC und Save the Children. Eine der Herausforderungen für alle Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich - speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind. UNICEF unterstützt daher durch die Identifizierung von Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind. Dort wird eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet. UNICEF bezeichnet das als "classroom".

Auf diese Art "kommt die Schule zu den Kindern". Auch wird eine Lehrkraft aus demselben, gegebenenfalls aus dem nächstgelegenen Dorf, ausgewählt - bevorzugt werden Frauen. Lehrkräfte müssen fortlaufend Tests des Provinzbüros des Bildungsministeriums absolvieren. Je nach Ausbildungsstand beträgt das monatliche Gehalt der Lehrkräfte zwischen US$ 90 und 120. Die Infrastruktur für diese Schulen wird von der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt, UNICEF stellt die Unterrichtsmaterialien. Aufgrund mangelnder Finanzierung sind Schulbücher knapp.

Wenn keine geeignete Lehrperson gefunden werden kann, wendet sich UNICEF an den lokalen Mullah, um den Kindern des Dorfes doch noch den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. UNICEF zufolge ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, auch später einem öffentlichen Schulplan folgen zu können (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In Afghanistan existieren zwei parallele Bildungssysteme; religiöse Bildung liegt in der Verantwortung des Klerus in den Moscheen, während die Regierung kostenfreie Bildung an staatlichen Einrichtungen bietet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017). Nachdem in den meisten ländlichen Gemeinden konservative Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist es hilfreich, wenn beim Versuch Modernisierungen durchzusetzen, auf die Unterstützung lokaler Meinungsträger zurückgegriffen wird - vor allem lokaler religiöser Würdenträger, denen die Dorfgemeinschaft vertraut. Im Rahmen von Projekten arbeiten unterschiedliche UNOrganisationen mit religiösen Führern in den Gemeinden zusammen, um sie in den Bereichen Frauenrechte, Bildung, Kinderehen und Gewalt, aber auch Gesundheit, Ernährung und Hygiene zu beraten. Eines dieser Projekte wurde von UNDP angeboten; als Projektteilnehmer arbeiten die Mullahs der Gemeinden, die weiterzugebenden Informationen in ihre Freitagpredigten ein. Auch halten sie Workshops zu Themen wie Bildung für Mädchen, Kinderehen und Gewalt an Frauen. Auf diesem Wege ist es ihnen möglich eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Im Rahmen eines Projektes hat UNICEF im Jahr 2003 mit rund 80.000 Mullahs zusammengearbeitet, mit dem Ziel Informationen zu Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Bildung und Sicherheit in ihre Predigten einzubauen. Die tatsächliche Herausforderung dabei ist es, die Informationen in den Predigten zu vermitteln, ohne dabei Widerstand innerhalb der Gemeinschaft hervorzurufen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können (AA 9.2016). Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld (AA 9.2016; vgl. CAN 2.2018), in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet immerhin Handreichungen zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern (AA 9.2016). Einer Befragung in drei Städten zufolge (Jalalabad, Kabul und Torkham), berichteten Kinder von physischer Gewalt - auch der Großteil der befragten Eltern gab an, physische Gewalt als Disziplinierungsmethode anzuwenden. Eltern mit höherem Bildungsabschluss und qualifizierterem Beruf wendeten weniger Gewalt an, um ihre Kinder zu disziplinieren (CAN 2.2018).

Bacha Bazi (Bacha Bazi) - Tanzjungen

Bacha Bazi, auch Tanzjungen genannt, sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653). In weiten Teilen Afghanistans, vor allem in den Rängen von Armee und Polizei, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird nicht selten unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein (AA 5.2018). Mit Inkrafttreten des neuen afghanischen Strafgesetzbuches im Jahr 2018, wurde die Praxis des Bacha Bazi kriminalisiert. Den Tätern drohen bis zu sieben Jahre Haft. Jene, die mehrere Buben unter zwölf Jahren halten, müssen mit lebenslanger Haft rechnen.

Das neue afghanische Strafgesetzbuch kriminalisiert nicht nur die Praxis von Bacha Bazi, sondern auch die Teilnahme an solchen Tanzveranstaltungen. Der Artikel 660 des fünften Kapitels beschreibt, dass Beamte der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF), die in die Praxis von Bacha Bazi involviert sind, mit durchschnittlich bis zu fünf Jahren Haft rechnen müssen (MoJ 15.5.2017; vgl. LSE 24.1.2018).

Üblicherweise sind die Jungen zwischen zehn und 18 Jahre alt (SBS 20.12.2016; vgl. AA 9.2016); viele von ihnen werden weggeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben (SBS 21.12.2016). Viele der Jungen wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft (SBS 20.12.2016; vgl. AA 5.2018). Manchmal sind die Betroffenen Waisenkinder und in manchen Fällen entschließen sich Jungen, Bacha Bazi zu werden, um ihre Familien zu versorgen (TAD 9.3.2017). Die Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung verstoßen; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (AA 5.2018).

Kinderarbeit

Das Arbeitsgesetz in Afghanistan setzt das Mindestalter für Arbeit mit 18 Jahren fest; es erlaubt Jugendlichen ab 14 Jahren als Lehrlinge zu arbeiten und solchen über 15 Jahren "einfache Arbeiten" zu verrichten. 16- und 17-Jährige dürfen bis zu 35 Stunden pro Woche arbeiten. Kinder unter 14 Jahren dürfen unter keinen Umständen arbeiten. Das Arbeitsgesetz verbietet die Anstellung von Kindern in Bereichen, die ihre Gesundheit gefährden. In Afghanistan existiert eine Liste, die gefährliche Jobs definiert; dazu zählen: Arbeit im Bergbau, Betteln, Abfallentsorgung und Müllverbrennung, arbeiten an Schmelzöfen sowie in großen Schlachthöfen, arbeiten mit Krankenhausabfall oder Drogen, arbeiten als Sicherheitspersonal und Arbeit im Kontext von Krieg (USDOS 20.4.2018).

Afghanistan hat die Konvention zum Schutze der Kinder ratifiziert (AA 5.2018; vgl. UNTC 9.4.2018). Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten (AA 5.2018). Berichten zufolge arbeiten mindestens 15% der schulpflichtigen Kinder (IRC 15.2.2018; vgl. FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Viele Familien sind auf die Einkünfte ihrer Kinder angewiesen (AA 5.2018; vgl. IDMC 1.2018). Daher ist die konsequente Umsetzung eines Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt allerdings Programme, die es Kindern erlauben sollen, zumindest neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z. B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) wurden gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen für diese gesetzlichen Regelungen (AA 5.2018). Allgemein kann gesagt werden, dass schwache staatliche Institutionen die effektive Durchsetzung des Arbeitsrechts hemmen und die Regierung zeigt nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018).

Kinderarbeit bleibt ein tiefgreifendes Problem (USDOS 20.4.2018; vgl. IRC 15.2.2018, FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Das Arbeitsministerium verweigert Schätzungen zur Zahl der arbeitenden Kinder in Afghanistan und begründet dies mit fehlenden Daten und Mängeln bei der Geburtenregistrierung. Dies schränkt die ohnehin schwachen Kapazitäten der Behörden bei der Durchsetzung des Mindestalters für Arbeit ein. Berichten zufolge werden weniger als 10% der Kinder bei Geburt registriert. Oft sind Kinder sexuellem Missbrauch durch erwachsene Arbeiter ausgesetzt (USDOS 20.4.2018).

Strafverfolgung von Kindern

Das Gesetz besagt, dass die Festnahme eines Kindes als letztes Mittel und so kurz wie möglich vorgenommen werden soll. Berichten zufolge mangelt es Kindern in Jugendhaftanstalten landesweit an Zugang zu adäquater Verpflegung, Gesundheitsvorsorge und Bildung. Festgenommenen Kindern werden oftmals Grundrechte wie z.B. die Unschuldsvermutung, das Recht auf einen Anwalt, oder das Recht auf Information über die Haftgründe sowie das Recht, nicht zu einem Geständnis gezwungen zu werden, verwehrt. Das Gesetz sieht eine eigene Jugendgerichtsbarkeit vor; wegen limitierter Ressourcen sind spezielle Jugendgerichte nur in sechs Gebieten funktionsfähig:

Kabul, Herat, Balkh, Kandahar, Nangarhar und Kunduz. In anderen Provinzen, in denen keine speziellen Gerichte existieren, fallen Kinder unter die Zuständigkeit allgemeiner Gerichte. Im afghanischen Strafjustizsystem sind Kinder oftmals eher die Opfer als die Täter (USDOS 20.4.2018).

Viele Kinder sind unterernährt. Ca. 10% (laut offizieller Statistik 91 von 1.000, laut Weltbank 97 von 1.000) der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (AA 9.2016). Nachdem im Jahr 2016 die Zahl getöteter oder verletzter Kinder gegenüber dem Vorjahr um 24% gestiegen war (923 Todesfälle, 2.589 Verletzte), sank sie 2017 um 10% (861 Todesfälle, 2.318 Verletzte). 2017 machten Kinder 30% aller zivilen Opfer aus. Die Hauptursachen sind Kollateralschäden bei Kämpfen am Boden (45%), Sprengfallen (17%) und zurückgelassene Kampfmittel (16%) (AA 5.2018).

Rekrutierung von Kindern

Im Februar 2016 trat das Gesetz über das Verbot der Rekrutierung von Kindern im Militär in Kraft. Berichten zufolge rekrutieren die ANDSF und andere regierungsfreundliche Milizen in limitierten Fällen Kinder; die Taliban und andere regierungsfeindliche Gruppierungen benutzen Kinder regelmäßig für militärische Zwecke. Im Rahmen eines Regierungsprogramms werden Schulungen für ANP-Mitarbeiter zu Alterseinschätzung und Sensibilisierungskampagnen betreffend die Rekrutierung von Minderjährigen organisiert sowie Ermittlungen in angeblichen Kinderrekrutierungsfällen eingeleitet (USDOS 20.4.2018).

Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF)

Mit dem Begriff "unbegleitete Minderjährige" werden Personen bezeichnet, die unter 18 Jahre alt sind bzw. das nationale Volljährigkeitsalter nicht erreicht haben und getrennt von ihren Eltern bzw. ohne die Obhut eines Vormundes leben (MPI 11.2017).

Ca. 58% der nach Afghanistan zurückkehrenden Jugendlichen sind minderjährig. Besonders gefährdet sind aus dem Iran kommende unbegleitete Minderjährige, deren Anzahl im Jahr 2017 auf ca. 2.000 geschätzt wurde (HO 4.2018). Schätzungen zufolge waren ungefähr 15% der aus dem Iran zurückgeführten Afghanen zum Zeitpunkt ihre Rückkehr zwischen 15 und 17 Jahre alt, dennoch gab es auch einige Zehnjährige darunter (MPI 11.2017). Die Rückkehr ist oft nicht freiwillig und zahlreiche Heimkehrer sind unbegleitete Buben, die willkürlichen Festnahmen und Misshandlungen ausgesetzt sind (BAAG 3.2018). Unbegleitete Minderjährige, die im Iran oder anderswo aufgewachsen sind, sind bei Rückführungen besonders gefährdet, da sie nie in Afghanistan gelebt haben (MPI 3.2018). Schätzung von IOM zufolge ist die Anzahl der nach Afghanistan zurückkehrenden unbegleiteten Minderjährigen von 2.110 im Jahr 2015 auf 4.419 im Jahr 2017 gestiegen (IOM 28.2.2017).

Einer Aussage des Direktors der Afghanistan Migrants Advice and Support Organisation aus dem Jahr 2015 zufolge gibt es in Afghanistan keine auf UMF spezialisierten Reintegrationsprogramme. Wegen der hohen Zahl an Rückkehrern und Rückkehrerinnen beschränken sich die Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen auf die Bereitstellung von Grundversorgungsdiensten wie Unterkunft, Essen und Transport (HO 4.2018). Unbegleitete Minderjährige werden durch Vormundschaftsvereinbarungen von IOM versorgt (MPI 11.2017).

Quellen zufolge entscheidet meist der weitere Familienkreis, ein minderjähriges Familienmitglied nach Europa zu schicken. Ohne familiäre Unterstützung wäre es dem Minderjährigen meistens gar nicht möglich, die Reise nach Europa anzutreten; dies ist eine wichtige Netzwerkentscheidung, die u.a. die Finanzen der Familie belastet. Jedoch gibt es auch Fälle, in denen der Minderjährige unabhängig von seiner Familie beschließt, das Land zu verlassen und nach Europa zu reisen. Meist sind dies junge Leute aus gebildeten, wohlhabenden Familien. Dies wird oft durch den Kontakt zu Freunden und Bekannten im Ausland, die über soziale Medien ein idealisiertes Bild der Lebensbedingungen in Europa vermitteln, gefördert (EASO 2.2018). Eine größere Anzahl an unbegleiteten Minderjährigen ist auf der Suche nach Arbeit in den Iran, nach Pakistan, Europa und in urbane Zentren innerhalb Afghanistans migriert; viele von ihnen nutzten dafür Schlepperdienste (MPI 3.2018).

2. Beweiswürdigung:

Dass der Beschwerdeführer minderjährig ist, steht unter Bedachtnahme auf die im Verfahren einheitlichen Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Alter in Verbindung mit dem von der belangten Behörde eingeholten medizinischen Gutachten (vgl. I.4.) fest. Auch im angefochtenen Bescheid wurden die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Alter als glaubwürdig eingestuft.

Zu der Berücksichtigung der Minderjährigkeit in der Beweiswürdigung hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass in einem Fall, in dem das fluchtauslösende Ereignis im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren erlebt wurde und diesem Ereignis eine mehrjährige Flucht nachfolgte, eine besonders sorgfältige Beurteilung der Art und Weise des erstatteten Vorbringens zu den Fluchtgründen erforderlich ist und die Dichte dieses Vorbringens nicht mit "normalen Maßstäben" gemessen werden darf. Es muss sich aus der Entscheidung erkennen lassen, dass solche Umstände in die Beweiswürdigung Eingang gefunden haben und dass darauf Bedacht genommen wurde, aus welchem Blickwinkel die Schilderung der Fluchtgeschichte erfolgte. Auf die Tatsache, dass ein Asylwerber seinen Heimatstaat als Minderjähriger verlassen hat, ist in der Entscheidung einzugehen. Im Lichte dieser Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist ersichtlich, dass es zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Minderjährigen einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung bedarf (VwGH 06.09.2018, Zl. Ra 2018/18/0150 mwN).

Im Beschwerdefall ist demnach darauf Bedacht zu nehmen, dass der Beschwerdeführer sein Heimatland im Alter von ca. 12 Jahren verlassen hat. Weiters ist zu berücksichtigen, dass er im Zeitpunkt der Antragstellung, der Einvernahme vor der belangten Behörde und der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht minderjährig war. Seine Schilderungen und Eindrücke erfolgen insoweit aus dem Blickwinkel eines Jugendlichen. Der Beschwerdeführer ist auch im Zeitpunkt dieser Entscheidung minderjährig. Hinzu tritt im konkreten Fall auch eine zu berücksichtigende unterdurchschnittliche logische Denkfähigkeit des Beschwerdeführers (vgl. II.1.1. und sogleich II.2.1.1.).

2.1. Zu den zum Beschwerdeführer getroffenen Feststellungen (II.1.1.):

2.1.1. Die Feststellungen zur Herkunft des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppenzugehörigkeit, zu seiner Mutter und seinen Brüdern, zu seinem Familienstand, seinem bisherigen Leben in Afghanistan und Pakistan und seinem Leben in Österreich sind unstrittig und gründen sich auf die glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers im Verfahren. Es besteht kein Grund an diesen Angaben zu zweifeln, weil diese im Laufe des gesamten Verfahrens gleichgeblieben sind und auch in der Verhandlung spontan und ohne Zögern dargetan wurden.

Dass der Beschwerdeführer am 27.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich stellte, ist dem entsprechenden Polizeibericht im Verwaltungsakt der belangten Behörde zu entnehmen. Dass der Beschwerdeführer (zumindest) bis zum 07.11.2018 über den Status des subsidiär Schutzberechtigten verfügte, ergibt sich aus dem angefochtenen Bescheid. Die Feststellungen zum Schulbesuch des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem vorgelegten Zeugnis. Die Feststellungen zur strafrechtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers beruhen auf eingeholten Strafregisterauskünften des Bundesverwaltungsgerichtes.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers gründen sich auf den im Verfahren vorgelegten klinisch-psychologischen Befund vom 10.04.2018, die vorgelegte Medikamentenliste vom 07.05.2018 sowie die authentisch dargetanen und nachvollziehbaren Schilderungen des Beschwerdeführers zu seinen Beschwerden in der Verhandlung (siehe zB die Seiten 9f und 11 der Niederschrift: "Es kommt vieles von mehreren Seiten. Ich mache mir Gedanken um mich und mein Leben. Dann mache ich mir Sorgen um meine Mutter und meine Brüder. Dann sehe ich wie die Lage in Afghanistan ist. [...] Ich habe mich hier bemüht, mich zu bilden. Aber meine Krankheit hat das nicht zugelassen, ich habe mich selbst mit einer Klinge verletzt und mich selbst geschlagen. Ich bin dann zum Arzt gegangen, er hat mir ein Medikament verschrieben und dann ging es mir besser."). Dass der Beschwerdeführer aktuell keine Medikamente einnimmt und nicht in psychologischer Betreuung ist, hat er in der Verhandlung glaubhaft angegeben. Dies wurde auch von seinem Betreuer bestätigt.

2.1.2. Soweit nicht festgestellt werden kann, dass konkret der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus Afghanistan physischer oder psychischer Gewalt, Strafverfolgung oder Bedrohungen von erheblicher Intensität durch staatliche Organe oder Private bzw. speziell durch die Taliban ausgesetzt gewesen ist oder aktuell solche Bedrohungen in seinem Heimatland zu erwarten hätte, ist Folgendes auszuführen:

Der Beschwerdeführer hat im Verfahren vorgebracht, dass die Taliban seinen Vater und seine beiden Schwestern umgebracht hätten, weil der Vater sich geweigert habe, sich den Taliban anzuschließen. Dies sei ca. 2014, als der Beschwerdeführer ca. 12 Jahre alt gewesen sei, passiert. Ca. ein bis zwei Monate danach habe der Onkel des Beschwerdeführers den Beschwerdeführer, seine Mutter und seine beiden Brüder nach Pakistan geholt. Der Beschwerdeführer schwebe in Gefahr, ebenfalls von den Taliban ermordet oder rekrutiert zu werden.

Die belangte Behörde hat dieses Vorbringen im angefochtenen Bescheid aufgrund von Ungereimtheiten und Widersprüchen in den Angaben des Beschwerdeführers (vor allem dahingehend, dass die Taliban kein Interesse an älteren Männern hätten, den Vater davor niemals bedroht hätten und der Beschwerdeführer keine einheitlichen Angaben zum Tatort angeben habe können) als nicht glaubwürdig eingestuft.

In der Beschwerde wird diese Würdigung auch gar nicht substantiiert oder konkret bestritten, sondern lediglich einerseits ganz generell angeführt, dass die Taliban auch ältere Männer rekrutieren wollten, und andererseits darauf verwiesen, dass bei der Glaubwürdigkeitsprüfung ua. das jugendliche Alter und die Schulbildung einer Person zu berücksichtigen seien.

In der Verhandlung antwortete der Beschwerdeführer auf die Frage, ob er von den Taliban persönlich bedroht worden sei (Seite 7 der Niederschrift): "Das hätten sie, aber mein Onkel ms hat uns weggebracht. Kindern sagen sie dort nichts, aber da ich der älteste im Haus war; wenn sie mich erwischt hätten, hätte ich bestimmt Schwierigkeiten bekommen. Aber sie haben mich nicht erwischt." Die Frage, ob, als sein Vater getötet worden sei, auch andere Leute getötet worden seien, beantwortete der Beschwerdeführer mit (Seite 9 der Niederschrift): "Vor dem Tod meines Vaters wurden auch andere umgebracht, aber zu dem Zeitpunkt, als mein Vater getötet wurde, nicht."

Dass eine konkrete Betroffenheit seiner Person vorgelegen hat, macht der Beschwerdeführer mit alledem nicht glaubwürdig geltend. Zwar spricht er mögliche Gefährdungspotentiale vor seiner Ausreise aus Afghanistan an, er vermag damit aber keine konkrete Verknüpfung einer Gefährdung mit seiner Person darzutun. Vielmehr entstand in der Verhandlung der Eindruck, dass der Beschwerdeführer - gerade auch aufgrund des jungen Alters, in welchem er Afghanistan verlassen hat - keinerlei persönliche Erlebnisse oder Wahrnehmungen von Bedrohungen hatte, sondern auf (- wie er selbst andeutet - wohl bloß rudimentäre) Schilderungen der Erwachsenen in seiner Umgebung zurückgreifen muss.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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