TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/28 W119 2158425-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.03.2019
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Entscheidungsdatum

28.03.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W119 2158425-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Irene Oberschlick, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.12.2017, Zl. 1105158405/160222089, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.02.2019 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin stellte gemeinsam mit ihrem Ehemann (GZ W119 2158423) und ihren drei minderjährigen Kindern (GZ W119 2158418, W119 2158426 und W119 2158421) am 12.02.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am selben Tag erfolgte die Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Dabei gab die Beschwerdeführerin zu ihrem Fluchtgrund Folgendes an:

"Ich habe meinen Mann kennen gelernt und wir lieben uns. Von meiner Familie aber war ich einem anderen, älteren, Mann versprochen, der bereits zwei Frauen hatte. Da ich aber mit meinem Mann zusammen leben wollte, flüchteten wir von Kabul nach Mazar-e Sharif und lebten dort. Dies war vor ca. 10 Jahren. Mein Mann und ich haben drei Kinder. Wir lebten immer in Angst vor meiner Familie, da meine drei Brüder verkündeten, dass sie uns vernichten wollen. Vor ca. 4 Monaten kamen meine drei Brüder nach Mazar-e Sharif, entführten mich und brachten mich nach Kabul. Dort wurde ich misshandelt, geschlagen und gedemütigt. Ich hatte blaue Flecken am ganzen Körper und sie haben mir die Zähne ausgeschlagen. Nach ca. 2 Wochen konnte ich entkommen und kehrte zu meinem Mann zurück. Hierauf beschlossen wir zu fliehen, da wir Angst um unser Leben haben. Seitdem muss ich eine Zahnprothese tragen. Ein Onkel meines Mannes organisierte für uns die Flucht von unserem Heimatland."

Im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens wurde seitens der Caritas ein Befundbericht vom 29.11.2016 des Psychozentralen Dienstes per E-Mail am selben Tag an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) übermittelt. Darin wurde bei der Beschwerdeführerin eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome diagnostiziert und festgehalten, dass eine Medikation eingeleitet und eine somatische Durchuntersuchung dringend empfohlen werde. In der gleichzeitig übermittelten Aufenthaltsbestätigung eines Landesklinikums vom 28.11.2016, wurde mitgeteilt, dass sich die Beschwerdeführerin aufgrund somatischer Beschwerden in stationärer Behandlung vom 23.11.2016 bis laufend befinde.

Nach Zulassung des Verfahrens wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt am 28.03.2017 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari einvernommen. Dabei brachte sie im Wesentlichen vor, bereits in Afghanistan psychisch erkrankt gewesen, jedoch dort nicht behandelt worden zu sein und legte ein Konvolut an Empfehlungsschreiben und (Kurs-) Bestätigungen vor. Seit zehn oder zwölf Jahren sei sie traditionell verheiratet, die Ehe hätten sie und ihr Ehemann in Mazar-e Sharif im Haus des Onkels ihres Ehemannes mütterlicherseits geschlossen. Anwesend seien dabei der Onkel, der Mullah sowie ihre Schwiegermutter gewesen. Die Beschwerdeführerin gehöre der Volksgruppe der Paschtunen und dem sunnitischen Glauben an. Sie stamme aus Kabul und sei nach ihrer Heirat nach Mazar-e Sharif geflüchtet, wo sie bis zur Ausreise mit ihrem Ehemann, den Kindern und der Schwiegermutter gelebt habe. Seit wann ihre Schwiegermutter in dieser Stadt gewohnt habe, wisse sie nicht. In Kabul befänden sich ihre Eltern und ihre drei Brüder.

Zu ihren Fluchtgründen erklärte sie, dass ihr Ehemann in Kabul dreimal bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten habe, was abgelehnt worden sei, weil dieser rauche, Alkohol konsumiere und sich nicht so kleide, wie es sich gehöre. Später gab sie an, man hätte sie auch mit einem alten Mann verheiraten wollen. Deshalb seien sie nach Mazar-e Sharif geflüchtet, um eine Familie gründen zu können.

Als sie bereits drei Kinder gehabt habe, sei sie von ihren Brüdern entführt, zwei Wochen lang im Keller ihres Hauses festgehalten und zusammengeschlagen worden, wobei sie ihre Zähne verloren habe. Bei dieser Entführung hätten ihre Brüder vorgehabt, sie mit einem alten Mann zu verheiraten. Dann habe ihr ihre Mutter beigestanden und die Türe offengelassen, damit sie flüchten könne. Ein Nachbar habe ihr geholfen, mit einem Auto nach Mazar-e Sharif zurückzukehren. Dort habe die Beschwerdeführerin erfahren, dass ihre Schwiegermutter nach der Entführung an einem Herzinfarkt verstorben sei. Der Onkel ihres Ehemannes habe Geld zusammengesammelt bzw. Goldschmuck verkauft, damit die Familie ausreisen könne. Wie lange vor ihrer Ausreise die Entführung geschehen sei, könne sie nicht angeben, sie sei sehr vergesslich.

Sowohl ihr Vater als auch ihre Brüder würden lange Bärte tragen, ihr Vater sei streng religiös und traditionell.

Mit Bescheid vom 03.04.2016 (gemeint wohl: 2017), Zl. 1105158405/160222089 RD NÖ, wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) idgF erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.06.2017, GZ W142 2158425-1/5E, wurde dieser Bescheid in Erledigung der dagegen erhobenen Beschwerde gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG idgF behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen.

Am 4. Dezember 2017 langte beim Bundesamt das infolge dieses Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichtes in Auftrag gegebene Gutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin und psychotherapeutische Medizin zum Zustand der Beschwerdeführerin aus psychologisch / psychiatrischer Sicht sowie zu ihrer Einvernahmefähigkeit ein.

Mit dem gegenständlichen, im Spruch angeführten, Bescheid des Bundesamtes wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde ihr ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgelegt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen beträgt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin habe in keinster Weise glaubhaft machen können, tatsächlich aufgrund der von ihr ins Treffen geführten Gründe gezwungen gewesen zu sein, ihre Heimat aus Angst vor Verfolgung durch Familienangehörige verlassen haben zu müssen. So habe sie nach ihren Aufenthalten gefragt ausdrücklich angegeben, erst nach ihrer Heirat in die Stadt Mazar-e Sharif geflüchtet zu sein. Dies stehe jedoch im Widerspruch zu ihrem Fluchtvorbringen, wonach sie in dieser Stadt heimlich geheiratet habe. Auf Vorhalt habe sie sich damit gerechtfertigt, sich versprochen zu haben. Dass sie hier keine Assoziation mit dem Fluchtvorbringen hergestellt habe, deute schon darauf hin, dass sie dieses konstruiert und bei der einleitenden Frage nach den Aufenthalten schlichtweg keine Verbindung zu den Ausreisegründen hergestellt habe. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich bei ihrem Vorbringen um eine im Nachhinein konstruierte Geschichte handle, sei auch ihre Antwort auf die Frage, seit wann ihre Schwiegermutter in Mazar-e Sharif leben würde. Konkret befragt habe die Beschwerdeführerin nämlich angeführt, dies nicht zu wissen, was insofern bemerkenswert sei, als ihr Ehemann in seiner Einvernahme erklärt habe, diese wäre gemeinsam mit ihnen von Kabul dorthin geflüchtet. In diesem Fall hätte die Beschwerdeführerin jedoch diesen Umstand anführen können. In diesem Zusammenhang sei aber auch bemerkenswert, dass die Beschwerdeführerin immer davon gesprochen habe, dass der Onkel ihres Ehemannes, welcher ihnen die Unterkunft in Mazar-e Sharif besorgt haben soll, eben dort gelebt habe und immer noch dort aufhältig sei. Auch ihr Ehemann habe dies in seiner Einvernahme durchwegs angegeben. Erst auf Vorhalt, dass ihr Ehemann im Rahmen seiner Erstbefragung vorgebracht habe, sein Onkel würde in Kabul leben, hätte er ausgeführt, dass dies tatsächlich so wäre, sein Onkel jedoch aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit öfter in Mazar-e Sharif sei. Dies widerspreche jedoch völlig den sonstigen Aussagen. Auch bezüglich der angeblich geplanten Zwangsheirat hätten sich widersprüchliche Angaben ergeben. So habe die Beschwerdeführerin im Rahmen der Erstbefragung ausgeführt, dass ihr Vater sie einem älteren Mann versprochen hätte und sie aus diesem Grund mit ihrem Ehemann nach Mazar-e Sharif geflüchtet wäre. Vor dem Bundesamt konkret nach ihren Fluchtgründen befragt, habe sie vorerst einen derartigen Vorfall mit keinem Wort erwähnt und ausgeführt, dass ihre Familie beabsichtigt hätte, sie vor der Ausreise aus Afghanistan bei der angeblichen Entführung zu verheiraten. Dass die Beschwerdeführerin daher, konkret nach ihren Fluchtgründen befragt, mit keinem Wort davon gesprochen hätte, dass ihr Vater sie bereits vor zehn Jahren verehelichen hätte wollen, deute einmal mehr darauf hin, dass sie keinen selbst miterlebten Sachverhalt schildere. Auf Vorhalt habe sie versucht, sich damit zu rechtfertigen, nur erzählt zu haben, was für sie wichtig gewesen sei. Auch dies könne nur als Schutzbehauptung gewertet werden, zumal sie auch vor dem Bundesamt konkret gefragt worden sei, wieso ihr Vater ihren Mann abgelehnt hätte. Dies habe sie damit begründet, dass dieser Alkohol konsumierte und rauchte. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich einem anderen Mann versprochen gewesen, so wäre doch dies mit Sicherheit der erste Grund ihres Vaters gewesen, einen anderen Mann abzulehnen. Ein weiterer Widerspruch ergebe sich aber auch bezüglich des Heiratsantrags. Während die Beschwerdeführerin nämlich angeführt habe, dass ihr Ehemann bei ihrem Vater gewesen sei, um um ihre Hand anzuhalten und konkret befragt erklärt habe, dass ihr Ehemann dreimal gekommen sei, habe ihr Ehemann völlig widersprüchlich dazu vorgebracht, dass er kein einziges Mal bei ihrem Vater gewesen sei, sondern seine Mutter dies erledigt hätte. Bezüglich der angeblichen Entführung durch Ihre Brüder sei die Beschwerdeführerin nicht ansatzweise in der Lage gewesen, einen Zeitraum zu nennen, wann diese überhaupt stattgefunden haben soll. Während der Erstbefragung habe sie noch angegeben, es sei vier Monate vor der Ausreise gewesen. Vor dem Bundesamt habe sie hingegen erwähnt, die Flucht habe vier Monate gedauert und auf die Frage, wie lange vor der Ausreise sie entführt worden sei, lapidar angegeben, sich nicht zu erinnern. Aufgefordert, dies ungefähr anzugeben bzw. ob sie sich noch Tage, Wochen oder Monate nach der Entführung im Heimatland aufgehalten hätte, habe sie erklärt, vergesslich zu sein. Insgesamt sei aufgrund der widersprüchlichen Aussagen und des nicht nachvollziehbaren Vorbringens die Glaubwürdigkeit zu den genannten Ausreisegründen zur Gänze abzusprechen. Auch sei die Beschwerdeführerin nicht imstande gewesen, das Bundesamt davon zu überzeugen, dass sie als Frau einer gegen sie persönlich gerichteten Verfolgungsgefahr aus einem asylrelevanten Grund ausgesetzt gewesen wäre, insbesondere, worin sich ihre damalige Situation von anderen afghanischen Frauen unterschieden hätte.

Dagegen wurde Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben. In dieser wurde im Wesentlichen das Vorbringen wiederholt, dass die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann vor zehn Jahren gegen den Willen ihrer Familie geheiratet und zu diesem Zweck gemeinsam mit der Schwiegermutter von Kabul nach Mazar-e Sharif geflüchtet seien. Aus Sicht ihrer Familie habe ihr Ehemann sie entführt und damit die Familienehre verletzt. Die gesamte Familie sei deshalb von Blutrache bedroht und daher in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Einige Monate vor der Flucht aus Afghanistan sei die Beschwerdeführerin durch ihre Brüder aufgespürt und nach Kabul entführt worden, wo man sie massiv misshandelt hätte. Während der Zeit ihres Aufenthaltes in Österreich habe sie eine westliche Orientierung angenommen und dies auch demensprechend in ihrer Einvernahme vorgebracht. Sie habe angegeben, Deutsch zu lernen und in der Zukunft einen Beruf ausüben zu wollen und wäre nicht willens, die gewonnenen Freiheiten aufzugeben und sich wieder dem unmenschlichen Regime der traditionellen afghanischen Gesellschaft zu beugen. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann würden ihre Kinder zur Schule schicken und insbesondere auch ihrer Tochter ein Leben in Freiheit ermöglichen wollen. Das Bundesamt habe sich zudem mit der Situation der Kinder der Beschwerdeführerin in keinster Weise auseinandergesetzt.

Am 27.02.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht im Beisein der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu der das Bundesamt als Verfahrenspartei nicht erschien.

Dabei erklärte die Beschwerdeführerin zunächst, psychisch und physisch in der Lage zu sein, dieser Verhandlung zu folgen und legte in Kopie diverse Bescheinigungsmittel (Kursbesuchsbestätigungen, Empfehlungsschreiben sowie Medikamentenempfehlungen) vor.

Die Beschwerdeführerin gab an, in Afghanistan keine Schule besucht zu haben, weil ihre Familie ihr dies nicht erlaubt habe. Sie habe ihrer Mutter bei der Hausarbeit geholfen, wenn ihr Vater und ihrer Brüder nach Hause gekommen seien, hätten diese sie gezwungen, den Koran zu lesen und zu beten. Ihr Vater und ihre Brüder seien gefährliche Leute gewesen, die Waffen bei sich getragen hätten. Welchen Beruf sie ausgeübt hätten, wisse die Beschwerdeführerin nicht, sie hätten aber mit gefährlichen Leuten zu tun gehabt.

Nachgefragt, wann sie erfahren habe, dass ihr Vater sie mit einem älteren Mann verheiraten habe wollen, erklärte sie, dass ihre Mutter ihr dies gesagt habe, an den Zeitpunkt könne sie sich jedoch nicht mehr erinnern. Ihren nunmehrigen Ehemann habe sie damals jedoch schon gekannt. Dass er geraucht und Alkohol getrunken habe, habe ihr nicht gefallen, aber er habe eine freie Denkweise gehabt, was ihr sehr zugesagt habe. Zu Hause (bei ihrer Familie) sei sie gezwungen worden, ein Kopftuch zu tragen und hätte niemanden sehen bzw. treffen dürfen. Ihr Mann habe sie hingegen zu nichts gezwungen und ihr erlaubt, hinaus zu gehen. Wenn sie etwas tun haben wollen, habe er sich nicht eingemischt. Nachdem sie mit ihm nach Mazar-e Sharif geflüchtet sei, habe sie kein Kopftuch und beim Hinausgehen keine Burka mehr tragen müssen. Ihre Familie hätte ihr so etwas nie erlaubt. Bereits als seine Mutter bei ihnen gewesen sei und um ihre Hand angehalten habe, habe sie erkannt, dass die Familie frei sei und sie auch nach ihrer Heirat Freiheiten haben werde. In Mazar-e Sharif habe sie ruhig atmen können. Das Leben ihrer Kinder sei in Ordnung gewesen, aus Angst vor den Brüdern der Beschwerdeführerin hätten sie ihnen aber nicht erlaubt, die Schule zu besuchen. Eine Nachbarin habe vorgeschlagen, diese bei sich zu Hause zu unterrichten. Einmal, als die Beschwerdeführerin ihre Kinder dort abgegeben habe, sei sie auf den Heimweg von ihren Brüdern entführt worden.

In Österreich könne die Beschwerdeführerin alleine hinausgehen, ohne Angst vor Verfolgung oder Bedrohung zu haben. Sie gehe alleine zum Markt oder einkaufen. In Afghanistan sei sie in einer Familie aufgewachsen, die es ihr nicht erlaubt habe, einen Stift in der Hand zu halten. Den A1 Kurs habe sie hier besucht, jedoch die Prüfung noch nicht abgelegt. Zurzeit mache sie einen Alphabetisierungskurs. Sie spreche ein bisschen Deutsch, sodass sie alleine einkaufen gehen könne. Mit ihren österreichischen Freunden unterhalte sie sich auf Deutsch. Ihr sei zwar bewusst, dass sie Fehler mache, aber sie würden verstehen, was sie ihnen sagen wolle. Wenn sie gesund sei, bringe die Beschwerdeführerin morgens ihre Kinder zur Schule, gehe danach spazieren und erledige den täglichen Einkauf. Beim wöchentlichen Großeinkauf begleite sie ihr Ehemann. Die Kinder würden Handball Spielen, auch dorthin bringe sie die Beschwerdeführerin selbst und ihr Ehemann hole die Kinder danach ab. In der Nähe gebe es Modegeschäfte, wo die Beschwerdeführerin ihre Kleidung kaufe. Seit ca. zwei Jahren nehme sie Antidepressiva. An den Tagen, an denen es ihr schlecht gehe, bemerke sie, dass der Ehemann die Kinder zur Schule gebracht habe. Sie befinde sich im Psychotherapie, nehme Medikamente und mache gemeinsam mit ihrem Mann eine Gesprächstherapie. Ansonsten gehe sie alleine zu den Ärzten. Ihrem Mann gehe es psychisch auch nicht ganz gut, er nehme aber keine Medikamente. Er habe sehr viel Verständnis für sie, insbesondere seitdem es ihr psychisch nicht gut gehe. Gleichberechtigung sei für sie das Beste. In der Familie verwalte sie das Geld und übernehme es meistens selbst. Nur manchmal, wenn sie sich nicht wohl fühle, übernehme ihr Ehemann diese Aufgabe. Ihre Tochter habe hier ebenfalls ein freies Leben. Sie selbst wolle zuerst die Sprache erlernen und danach wie alle Frauen arbeiten, gerne als Verkäuferin. Seitens der Beschwerdeführervertreterin wurden zahlreiche Fotos der Familie mit österreichischen Freunden vorgelegt. Alle drei Kinder, auch die Tochter, würden Handball spielen. Die Beschwerdeführerin würde ihre Tochter bei der freien Partnerwahl unterstützen. Falls ihr Mann meinen sollte, dass sie und ihre Tochter ein Kopftuch tragen müssten, würde sie dies bei der Polizei melden.

Im Rahmen der Verhandlung wurden die dem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderfeststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes übergeben, die Beschwerdeführerin verzichtete auf die Abgabe einer Stellungnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführerin ist afghanische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischen Glaubens.

Sie stammt ursprünglich aus Kabul und lebte die letzten zehn Jahre vor ihrer Ausreise mit ihrem Mann und den gemeinsamen minderjährigen Kindern in Mazar-e Sharif. Sie stammte aus einer religiös-konservativen Familie, die ihr einen Schulbesuch verweigerte. Überdies akzeptierte sie auch das strenge Bekleidungsgebot nicht. Sie empfand die dort befehligenden Einschränkungen als sehr belastend. Die Beschwerdeführerin befindet sich in Österreich in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Diese Arztbesuche besucht sie ohne Begleitung, was ihr aufgrund ihrer bereits erworbenen Deutschkenntnisse bereits möglich ist, wenngleich sie - trotz des Besuches von Deutschkursen - noch kein Sprachzertifikat besitzt.

Obwohl sie durch ihre Erkrankung im Hinblick auf ihr psychisches Wohlbefinden eingeschränkt ist, geht sie alleine einkaufen, bringt ihre Kinder in die Schule, besucht Modegeschäfte und besitzt einen aus österreichischen Staatsbürgern bestehenden Freundeskreis. Gemeinsam mit ihrem Mann verwaltet sie das Einkommen und strebt eine Berufstätigkeit als Verkäuferin an. Aufgrund des Umstandes, dass sie sehr streng erzogen wurde und ihr das in ihrer Familie herrschende Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen ständig vor Augen gehalten wurde, ist ihr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ein großes Anliegen. Überdies betreibt sie Sport, indem sie Kanu fährt und regelmäßig Radfahren geht. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine moderne und aufgeklärte Frau, die mit ihrer Flucht nach Österreich zudem ihre Vorstellungen über die einer Frau zustehenden Rechte verwirklichen und nach diesen Maßstäben ihr weiteres Leben gestalten will, wobei ihre westliche Lebensweise mittlerweile für sie eine große Rolle spielt und zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist. Die Beschwerdeführerin würde im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund ihrer nach außen hin erkennbaren persönlichen Wertehaltung, die sich vorrangig in ihrem Wunsch nach Bildung und Unabhängigkeit geäußert hatte, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt sein.

Feststellungen zur Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom Juni 2018 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler, letzte Aktualisierung vom 19. 10. 2018):

Frauen

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018). Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018). In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017). Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017). Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt

8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon 77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017). Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017). Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.). Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018). Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018). Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018). Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018). Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 8. "NGOs und Menschenrechtsaktivisten", 11. "Meinungs- und Pressefreiheit" und 5. "Sicherheitsbehörden" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation. Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5.2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017). EVAW-Gesetz

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5.2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).

Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen:

Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5.2018). Frauenhäuser

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018). Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5.2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5.2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in

den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5.2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5.2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018). Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017). Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5.2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5.2018; vgl. USDOS 3.3.2017).

Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).

Ehrenmorde

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 3.3.2017). Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Eherenmorde (AIHRC 11.3.2018; vgl. Tolonews 11.3.2018). Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System (KP 23.3.2016).

Reisefreiheit

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. In vielen Firmen, öffentlichen Institutionen sowie NGOs ist die Meinung verbreitet, dass Frauen nicht alleine in die Distrikte reisen sollten und es daher besser sei einen Mann anzustellen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann nach eigener Aussage eine NGO-Vertreterin selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (BFA Staatendokumentation 4.2018). Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab heute nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden. Andere Provinzen sind bei diesem Thema viel strenger. In Mazar-e Sharif könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, ganz auf den Hijab zu verzichten, ohne behelligt zu werden. Garantie besteht darauf natürlich keine (BFA Staatendokumentation 4.2018). Frauen in Afghanistan ist es zwar nicht verboten Auto zu fahren, dennoch tun dies nur wenige. In unzähligen afghanischen Städten und Dörfern, werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Viele Eltern unterstützen zwar grundsätzlich die Idee ihren Töchtern das Autofahren zu erlauben, haben jedoch Angst vor öffentlichen Repressalien. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind. In Kabul sowie in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Jalalabad gibt es einige Fahrschulen; in Kabul sogar mehr als 20 Stück. An ihnen sind sowohl Frauen als auch Männer eingeschrieben. In Kandahar zum Beispiel sind Frauen generell nur selten alleine außer Haus zu sehen - noch seltener als Lenkerin eines Fahrzeugs. Jene, die dennoch fahren, haben verschiedene Strategien um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Manche tragen dabei einen Niqab, um unerkannt zu bleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 5.2018).

Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika) (AA 5.2018). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (USDOS 3.3.2017).

Bildungssystem in Afghanistan

Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (USDOS 20.4.2018).

Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes (USDOS 3.3.2017). Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (USDOS 20.4.2018). Nichtregierungsorganisationen sind im Bildungsbereich tätig, wie z. B. UNICEF, NRC, AWEC und Save the Children. Eine der Herausforderungen für alle Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich - speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind. UNICEF unterstützt daher durch die Identifizierung von Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind. Dort wird eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet. UNICEF bezeichnet das als "classroom". Auf diese Art "kommt die Schule zu den Kindern". Auch wird eine Lehrkraft aus demselben, gegebenenfalls aus dem nächstgelegenen Dorf, ausgewählt - bevorzugt werden Frauen. Lehrkräfte müssen fortlaufend Tests des Provinzbüros des Bildungsministeriums absolvieren. Je nach Ausbildungsstand beträgt das monatliche Gehalt der Lehrkräfte zwischen US$ 90 und 120. Die Infrastruktur für diese Schulen wird von der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt, UNICEF stellt die Unterrichtsmaterialien. Aufgrund mangelnder Finanzierung sind Schulbücher knapp. Wenn keine geeignete Lehrperson gefunden werden kann, wendet sich UNICEF an den lokalen Mullah, um den Kindern des Dorfes doch noch den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. UNICEF zufolge ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, auch später einem öffentlichen Schulplan folgen zu können (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In Afghanistan existieren zwei parallele Bildungssysteme; religiöse Bildung liegt in der Verantwortung des Klerus in den Moscheen, während die Regierung kostenfreie Bildung an staatlichen Einrichtungen bietet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017). Nachdem in den meisten ländlichen Gemeinden konservative Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist es hilfreich, wenn beim Versuch Modernisierungen durchzusetzen, auf die Unterstützung lokaler Meinungsträger zurückgegriffen wird - vor allem lokaler religiöser Würdenträger, denen die Dorfgemeinschaft vertraut. Im Rahmen von Projekten arbeiten unterschiedliche UN-Organisationen mit religiösen Führern in den Gemeinden zusammen, um sie in den Bereichen Frauenrechte, Bildung, Kinderehen und Gewalt, aber auch Gesundheit, Ernährung und Hygiene zu beraten. Eines dieser Projekte wurde von UNDP angeboten; als Projektteilnehmer arbeiten die Mullahs der Gemeinden, die weiterzugebenden Informationen in ihre Freitagpredigten ein. Auch halten sie Workshops zu Themen wie Bildung für Mädchen, Kinderehen und Gewalt an Frauen. Auf diesem Wege ist es ihnen möglich eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Im Rahmen eines Projektes hat UNICEF im Jahr 2003 mit rund 80.000 Mullahs zusammengearbeitet, mit dem Ziel Informationen zu Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Bildung und Sicherheit in ihre Predigten einzubauen. Die tatsächliche Herausforderung dabei ist es, die Informationen in den Predigten zu vermitteln, ohne dabei Widerstand innerhalb der Gemeinschaft hervorzurufen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können (AA 9.2016). Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld (AA 9.2016; vgl. CAN 2.2018), in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet immerhin Handreichungen zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern (AA 9.2016). Einer Befragung in drei Städten zufolge (Jalalabad, Kabul und Torkham), berichteten Kinder von physischer Gewalt - auch der Großteil der befragten Eltern gab an, physische Gewalt als Disziplinierungsmethode anzuwenden. Eltern mit höherem Bildungsabschluss und qualifizierterem Beruf wendeten weniger Gewalt an, um ihre Kinder zu disziplinieren (CAN 2.2018).

2. Beweiswürdigung:

Die Länderfeststellungen gründen auf den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.

Auf Grund der glaubwürdigen Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrer Nationalität, Ethnie und zu ihrer regionalen Herkunft konnten diese ebenso den Feststellungen zugrunde gelegt werden.

In der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hinterließ die Beschwerdeführerin durch ihr Auftreten und die Spontanität ihrer Antworten einen in jeder Hinsicht glaubwürdigen und überzeugenden Eindruck. Nach der Art ihres Auftretens und ihres Kommunizierens handelt es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Frau, die sich der sozio-kulturellen Problematik der Stellung der Frau in Afghanistan bewusst ist. Dies zeigte sich insbesondere, als die Beschwerdeführerin anführte, dass sie es schätze in Österreich frei zu sein und sich nicht an die strengen Kleidervorschriften halten zu müssen. Es ist ihr zudem wichtig, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um damit Unabhängigkeit zu erlangen. Die Beschwerdeführerin erlernt die deutsche Sprache und vermittelte in der mündlichen Verhandlung sehr glaubhaft, dass sie nach ihren eigenen Bedürfnissen und damit selbstbestimmt zu leben beabsichtigt. Weiters erledigt sie den Alltagseinkauf alleine, übt Sport aus und verfügt über einen aus österreichischen Staatsbürgern bestehenden Freundeskreis. Ihr Leben in Österreich unterscheidet sich - auch in der Freizeitgestaltung - nicht von dem Leben, welches andere Frauen in Österreich führen.

Aus alldem geht hervor, dass die Beschwerdeführerin das - mit ihrer derzeitigen Lebensweise in Widerspruch stehende - konservativ-afghanische Frauenbild und die konservativ-afghanische Tradition ablehnt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

In vorliegendem Fall ist in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen und obliegt somit in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesge

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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