Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** G*****, vertreten durch Mag. Renate Rechinger, Rechtsanwältin in Graz, gegen die beklagten Parteien 1. Dr. R***** T*****, 2. S*****, beide vertreten durch Schlösser & Partner Rechtsanwälte OG in Graz, wegen 22.003,80 EUR sA und Feststellung (Streitwert 1.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 17. Oktober 2018, GZ 4 R 129/18z-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 25. Juni 2018, GZ 21 Cg 2/18p-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt und beschlossen:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
I. Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass sie als Teil- und Teilzwischenurteil zu lauten hat:
„1. Das Leistungsbegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 22.003,80 EUR samt 4 % Zinsen seit 11. 5. 2017 zu bezahlen, besteht dem Grunde nach zu einem Drittel zu Recht.
2. Das Leistungsmehrbegehren, die beklagten Parteien seien zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei weitere 14.669,20 EUR samt 4 % Zinsen seit 11. 5. 2017 zu bezahlen, wird abgewiesen.
3. Das Klagebegehren, es werde festgestellt, dass die beklagten Parteien der klagenden Partei für alle zukünftigen Schäden und Auslagen welcher Art auch immer aus dem Verkehrsunfall vom 3. 11. 2016 im Ortsgebiet Graz, Höhe Petersgasse 118 haften, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei mit der Versicherungssumme begrenzt wird, wird im Umfang von zwei Dritteln abgewiesen.“
Insoweit bleibt die Entscheidung über die Verfahrenskosten aller drei Instanzen der Endentscheidung vorbehalten.
II. Im Umfang der Abweisung des Feststellungsbegehrens, dass die beklagten Parteien der klagenden Partei für alle zukünftigen Schäden und Auslagen welcher Art auch immer aus dem Verkehrsunfall vom 3. 11. 2016 im Ortsgebiet Graz, Höhe Petersgasse 118 haften, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei mit der Versicherungssumme begrenzt wird, zu einem Drittel hafteten, werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben. Die Rechtssache wird insoweit an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind insoweit weitere Verfahrenskosten.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 3. 11. 2016 kam es auf Höhe des Hauses Petersgasse 118 in Graz zu einem Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Radfahrerin und der Erstbeklagte als Lenker eines bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Pkw beteiligt waren.
Im Unfallbereich verläuft die Petersgasse in Graz-St. Peter annähernd in West-Ost-Richtung. Beide beteiligten Fahrzeuglenker befuhren die Petersgasse stadtauswärts in Richtung Osten, weshalb der Straßenverlauf in dieser Richtung beschrieben wird. Als Bezugslinie wird eine Normale zur Fahrbahnlängsachse der Petersgasse auf Höhe der westlichen Begrenzung des Schutzwegs gewählt, der sich gegenüber dem Haus Nr 118 befindet. Die Petersgasse weist westlich der Bezugslinie eine Gesamtbreite von 7,1 m auf, wobei die Fahrbahnbegrenzung durch eine Bordsteinkante der angrenzenden Gehsteige bzw Grünstreifen gebildet wird. In einem Abstand von 0,93 m nördlich des südlichen Fahrbahnrandes bzw der Bordsteinkante verläuft die südliche Schiene des zweigleisigen Schienenasts der Straßenbahn. Am südlichen Fahrbahnrand ist ein 0,3 m breites, kleinkopfgepflastertes Rinnsal vorhanden, das bis in einen Bereich 6,5 m östlich der Bezugslinie reicht. Ab dieser Position springt die südliche Bordsteinkante in Richtung Norden vor, sodass sich der Abstand zwischen der Bordsteinkante und der südlichen Schiene des südlichen Schienenstrangs auf 0,55 m verringert. In diesem Bereich, und zwar ca 7 m östlich der Bezugslinie, befindet sich unmittelbar südlich der südlichen Bordsteinkante auf dem dort befindlichen Gehsteig ein Leitbaken, der auf diese Verengung hinweist. (Nur) Westlich der Bezugslinie ist in der Mitte der beiden Schienen des südlichen Schienenstrangs die Markierung für die Radfahrer auf der Fahrbahn vorhanden. Zwischen dem nördlichen und dem südlichen Fahrstreifen besteht eine Leitlinie, die von Westen her ab einer Position von 13 m westlich der Bezugslinie in eine Sperrlinie übergeht, die ihrerseits bis zur Haltelinie (1 m westlich der Bezugslinie) verläuft und sich 5 m östlich der Bezugslinie bis in einen Bereich 11 m östlich der Bezugslinie fortsetzt. Ab der Position 11 m östlich der Bezugslinie geht die Sperrlinie wieder in eine Leitlinie über. Beidseits der Unfallstelle verläuft die Fahrbahn der Petersgasse über mehr als 100 m gerade, horizontal und übersichtlich. Im Unfallbereich gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h.
Am 3. 11. 2016 befuhr die Klägerin gegen 18:40 Uhr mit ihrem Fahrrad, dessen Lenker 66 cm breit ist, die Petersgasse stadtauswärts in Richtung Osten mit einer Geschwindigkeit von 13 km/h.
Zur gleichen Zeit lenkte der Erstbeklagte den Pkw in der Petersgasse hinter der Klägerin mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h in die gleiche Richtung. Als er auf die Klägerin aufholte, leitete er ein Überholmanöver ein, wobei er seine Fahrlinie über die oben beschriebene Sperrlinie so weit nach links verlagerte, dass er sich mit einem Großteil der Wagenbreite auf der nördlichen, dem Gegenverkehr zugeordneten Fahrbahnhälfte und 2,9 m nördlich des südlichen Fahrbahnrandes befand. Die Klägerin, die ihre Fahrlinie bereits 7 m westlich der Bezugslinie leicht nach links zwischen die beiden Schienen des südlichen, stadtauswärts führenden Schienenasts verlegt hatte, verlagerte ihre Fahrlinie einige Meter östlich der Bezugslinie um weitere 1,4 m nach links bis insgesamt rund 2,6 m nördlich des südlichen Fahrbahnrandes und stieß dabei ca 9 m östlich der Bezugslinie mit dem linken Ende ihrer Lenkstange gegen die Scheibe der Beifahrertür, etwa in der Mitte des rund 4,3 m langen Fahrzeugs. Zu diesem Zeitpunkt fuhr sie in aufrechter Haltung. Durch den Anstoß der Lenkstange an das Beklagtenfahrzeug bekam das Fahrrad einen Impuls nach rechts; die Klägerin stürzte nach links, rutschte geschwindigkeitsbedingt noch einige Meter weiter und kam rund 14 m östlich der Bezugslinie in ihre Endlage nördlich der nördlichen Schiene des südlichen Schienenasts, im Bereich der Leitlinie.
Der Erstbeklagte reagierte auf den Anstoß sofort mit einer Notbremsung und brachte sein Fahrzeug mit einer Verzögerung von 8 m/sec² in einer Strecke von 12 m in einer Position des rechten Vorderrades 22 m östlich der Bezugslinie und 2,9 m nördlich des südlichen Fahrbahnrandes zum Stillstand, ohne seine fahrbahnparallele Fahrlinie zuvor irgendwie verändert zu haben.
Die Klägerin benötigte für die Seitenverlagerung von 1,4 m rund 1,2 Sekunden. Bei Beginn dieses Manövers befand sich das Beklagtenfahrzeug rund 4 m hinter der Klägerin und wäre bei entsprechender Aufmerksamkeit für sie wahrnehmbar gewesen. Sie hätte das Linkslenkmanöver unfallverhütend unterlassen können. Dem Erstbeklagten war wegen der geringen Auffälligkeitszeit des Linkslenkmanövers der Klägerin eine unfallverhütende Maßnahme nicht möglich.
Die Klägerin begehrt von den beklagten Parteien zur ungeteilten Hand die Zahlung von 22.003,80 EUR (davon 20.000 EUR Schmerzengeld) samt Anhang und die Feststellung ihrer – hinsichtlich der Zweitbeklagten mit der Höhe der Versicherungssumme begrenzten – Haftung für zukünftige unfallkausale Schäden. Sie bringt vor, sie sei beim Unfall verletzt worden. Den Erstbeklagten treffe das Alleinverschulden, weil er sie trotz Sperrlinie und unter Einhaltung eines zu geringen Sicherheitsabstands überholt habe, wodurch es aufgrund einer durch eine Fahrbahnverengung bedingten leichten Fahrlinienänderung ihres Fahrrads zu einem Kontakt und in der Folge zu ihrem Sturz gekommen sei. Sie habe beabsichtigt, die Petersgasse geradeaus weiterzufahren. Dem Erstbeklagten sei als Ortskundigen die Fahrbahnverengung bekannt gewesen, weshalb er mit der Fahrlinienverlagerung eines Radfahrers hätte rechnen müssen.
Die Beklagten wenden ein, die Klägerin treffe das Alleinverschulden, weil sie plötzlich und ohne ersichtlichen Grund ihr Fahrrad nach links gelenkt habe und mit dem einen Seitenabstand von 1,5 m einhaltenden Pkw kollidiert sei. Der Unfall stelle für den Erstbeklagten ein unabwendbares Ereignis dar. Das Überfahren der Sperrlinie sei nicht kausal und der Schadenseintritt auch nicht vom Schutzzweck der Norm umfasst. Die Beklagten wenden eine Gegenforderung von 575 EUR (Wertminderung am Beklagtenfahrzeug und pauschale Unkosten) ein.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf die wiedergegebenen Feststellungen und führte rechtlich aus, der vom Erstbeklagten eingehaltene Seitenabstand von 1,4 m zum überholten Fahrzeug sei ausreichend gewesen. Der unfallskausale (zweite) Linksschwenk der Klägerin sei nicht durch die Fahrbahnverengung bedingt und nach den örtlichen Begebenheiten weder zwingend noch vorhersehbar gewesen. Damit habe die Klägerin gegen § 7 Abs 1 und § 11 Abs 1 und 3 StVO verstoßen. Der Erstbeklagte hätte zwar gemäß § 9 Abs 1 StVO die Sperrlinie nicht überfahren dürfen. Diese Norm bezwecke aber nicht den Schutz einer überholten Radfahrerin.
Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichts. Bei den von den beiden Unfallbeteiligten eingehaltenen geringen Fahrgeschwindigkeiten und dem übersichtlichen Fahrbahnverlauf sei der von § 15 Abs 4 StVO geforderte und vom Erstbeklagten während des Überholvorgangs gewählte Seitenabstand von 1,4 m auch unter Bedachtnahme darauf, dass sich Straßenbahnschienen auf der Fahrbahn befinden, nicht zu beanstanden. Das Überholverbot des § 9 Abs 1 StVO bezwecke nicht, eine mit ausreichendem Sicherheitsabstand überholte Radfahrerin zu schützen, die ihre Fahrtrichtung zwar beibehalten wolle, ihre Fahrlinie auf dem für ihre Fahrtrichtung bestimmten Fahrstreifen aber ohne erkennbaren Grund während des Überholvorgangs erheblich nach links verlagere und nur deshalb mit dem überholenden Fahrzeug kollidiere. Auch eine selbst im Berufungsverfahren amtswegig zu prüfende Gefährdungshaftung der Beklagten nach dem EKHG scheide aus, weil bei der gegenseitigen Ersatzpflicht gemäß § 11 EKHG die (hier vorliegende) gewöhnliche Betriebsgefahr des Pkw des Erstbeklagten gegenüber dem Verschulden der Klägerin ganz zurücktrete.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage fehle, ob vom Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO auch der überholte Verkehrsteilnehmer erfasst werde. In der Entscheidung 2 Ob 232/03m habe der Oberste Gerichtshof diese Frage unbeantwortet gelassen. Die Entscheidung 2 Ob 17/14k habe zwar einen überholten Verkehrsteilnehmer betroffen, der allerdings nach links abgebogen und somit auf diese Weise auf den jenseits der Sperrlinie gelegenen Bereich der Fahrbahn gelangt sei, wo sich auch die Kollision ereignet habe.
Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung des bekämpften Urteils im Sinn der Klagestattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagten beantragen in der Revisionsbeantwortung, die Revision mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist auch teilweise berechtigt.
Die Revisionswerberin meint, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts bezwecke das in § 9 Abs 1 StVO normierte Verbot, Sperrlinien zu überfahren, auch den Schutz der überholten Verkehrsteilnehmer, und zwar auch dann, wenn sich die Kollision nicht jenseits der Sperrlinie ereigne. Der vom Erstbeklagten beim Überholen eingehaltene Seitenabstand sei zu gering gewesen. Ein allfälliger Verstoß der Klägerin gegen § 7 oder § 11 StVO trete gegenüber dem Verschulden des Erstbeklagten zurück, allenfalls sei eine Verschuldensteilung von 1:3 oder 1:2 zu Lasten des Erstbeklagten angezeigt. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht § 11 EKHG angewendet, weil die Klägerin als Radfahrerin für keine Betriebsgefahr einstehen müsse.
Die Revisionsgegner bringen in der Sache im Wesentlichen vor, in der vorliegenden Konstellation fehle es hinsichtlich des Überfahrens der Sperrlinie am Rechtswidrigkeitszusammenhang, der vom Erstbeklagten eingehaltene Seitenabstand beim Überholen sei ausreichend gewesen.
Hierzu wurde erwogen:
1. Verschulden des Erstbeklagten
1.1. Überfahren der Sperrlinie (Schutzzweck von § 9 Abs 1 StVO)
1.1.1. Gemäß § 9 Abs 1 StVO dürfen Sperrlinien nicht überfahren werden.
1.1.2. Nach ständiger Rechtsprechung dient das Verbot, Sperrlinien zu überfahren, zum Schutz des Gegenverkehrs, nicht des nachfolgenden Verkehrs (RS0027607). Das Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie gemäß § 9 Abs 1 StVO ist vom Normzweck her vernünftigerweise grundsätzlich als der Sicherheit aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer dienend aufzufassen. Demnach dient sie auch dem Zweck, einer Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer bzw Beschädigung von Sachen im Sinne des § 7 Abs 1 StVO durch andere Fahrzeuge vorzubeugen (RS0073408).
Während nach älteren Entscheidungen ein Schutzzweck von § 9 Abs 1 StVO zugunsten des von rechts kommenden Querverkehrs verneint wurde (8 Ob 203/82 ZVR 1983/71; 8 Ob 41/84 ZVR 1985/41), wurde er in (überwiegend) jüngeren Entscheidungen bejaht (2 Ob 100/82 ZVR 1983/233; 2 Ob 99/83 ZVR 1984/6; 2 Ob 49/93; 2 Ob 284/02g; 2 Ob 172/04i).
Unter Überfahren von Sperrlinien darf grundsätzlich nicht überholt werden (RS0027607 [T2]). Die mit diesem Beisatz indizierten Entscheidungen betrafen aber einerseits Querverkehr (2 Ob 132/81; 2 Ob 100/82 ZVR 1983/233), andererseits einen überholten, erlaubterweise nach links Abbiegenden, wobei sich der Zusammenstoß auf der Gegenfahrbahn, somit jenseits der Sperrlinie, ereignete (2 Ob 17/14k; gleichgelagert auch 2 Ob 145/73 ZVR 1974/267).
1.1.3. Mit den zuletzt genannten Entscheidungen ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar, liegt hier doch weder eine Situation mit Querverkehr noch ein Linksabbiegemanöver der Überholten mit Kollision auf der Gegenfahrbahn (jenseits der Sperrlinie) vor. Dem Berufungsgericht ist somit zuzustimmen, dass zum Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO in der vorliegenden Konstellation, in der sich der Zusammenstoß nicht auf der Gegenfahrbahn, sondern diesseits der Sperrlinie ereignete, keine oberstgerichtliche Rechtsprechung vorliegt, zumal der Oberste Gerichtshof in einer Entscheidung mit vergleichbarem Sachverhalt (2 Ob 232/03m) die an ihn gerichtete Frage ausdrücklich offen ließ.
1.1.4. Der erkennende Senat hat dazu Folgendes erwogen:
Der Oberste Gerichtshof hat in der soeben zitierten Entscheidung 2 Ob 232/03m die bis dahin ergangene Rechtsprechung dahin zusammengefasst, dass das Verbot des Überfahrens einer Sperrlinie zwar „grundsätzlich“ der Sicherheit aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer diene und dadurch „insbesondere“ der Gegenverkehr geschützt werde, in der jüngeren Judikatur aber bereits ausgesprochen worden sei, dass dies nicht der einzige Zweck dieser Norm sei. Damit wurde bereits zum Ausdruck gebracht, dass die Erfassung auch diesseits einer Sperrlinie befindlicher Verkehrsteilnehmer von der Schutznorm des § 9 Abs 1 StVO zumindest nicht ausgeschlossen sei.
Wesentliche Bedeutung kommt dabei dem durch § 3 Abs 1 StVO geschützten Vertrauen jedes Straßenbenützers, dass andere Personen die für die Benützung der Straße maßgeblichen Rechtsvorschriften befolgen, zu. Auch für die Einbeziehung des von rechts einbiegenden Querverkehrs in den Schutzbereich des § 9 Abs 1 StVO (vgl Punkt 1.1.2) war seinerzeit das Vertrauen des Einbiegers in ein vorschriftsmäßiges Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers das tragende Argument (vgl 2 Ob 99/83).
§ 9 Abs 1 StVO normiert zwar an sich kein Überholverbot; faktisch besteht ein solches aber dann, wenn dabei die Sperrlinie überfahren werden muss (vgl 2 Ob 47/94 mwN). Im vorliegenden Fall war angesichts der Breite des Fahrstreifens, in dem die Klägerin fuhr, und ihrer ursprünglichen Fahrlinie (vor dem Linksversatz) zumindest für ein mehrspuriges Fahrzeug – ein anderes Risiko hat sich hier nicht verwirklicht – bei Einhalten eines ausreichenden Sicherheitsabstands (dazu Punkt 1.2) ein Überholen der Klägerin ohne Überfahren der Sperrlinie nicht möglich. Sie musste daher mit einem (mehrspurigen) überholenden Fahrzeug nicht rechnen, sondern durfte darauf vertrauen, dass sich die Lenker nachfolgender Fahrzeuge vorschriftsmäßig verhalten und die Sperrlinie nicht überfahren würden.
Es fehlte an einer sachlichen Rechtfertigung, der Klägerin den Schutz ihres Vertrauens nur deshalb zu versagen, weil sich die Kollision nicht jenseits der Sperrlinie ereignet hat. Dies führt zu der Beurteilung, dass auch die Klägerin als überholte Verkehrsteilnehmerin vom Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO erfasst gewesen ist.
Daran vermag entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch nichts zu ändern, dass die Klägerin
– wie noch zu zeigen ist – selbst ein Fehlverhalten zu verantworten hat. Denn dieses begründet nur ihr Mitverschulden, sagt aber nichts über den Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß des Überholenden gegen § 9 Abs 1 StVO und dem dadurch verursachten Schaden aus.
1.1.5. Zusammengefasst wird daher festgehalten:
Der Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO umfasst jedenfalls dann auch überholte Fahrzeuge, wenn der Überholvorgang bei Einhaltung des gebotenen seitlichen Sicherheitsabstands nur durch Überfahren der Sperrlinie möglich ist.
1.1.6. Aus dem Gesagten folgt, dass entgegen der Ansicht der Vorinstanzen den Erstbeklagten wegen des Überfahrens der Sperrlinie ein Verschulden am Unfall trifft.
1.2. Seitenabstand gemäß § 15 Abs 4 StVO
Im Allgemeinen genügt ein Abstand von einem Meter beim Überholen eines Radfahrers durch einen Personenkraftwagen (RS0074020). Ein Fall, in dem (etwa wegen hoher Geschwindigkeit des Pkw oder einer Sichtbehinderung) ein größerer Seitenabstand erforderlich wäre, liegt hier nicht vor. Einen Verstoß gegen § 15 Abs 4 StVO hat der Erstbeklagte somit nicht zu verantworten.
2. Mitverschulden der Klägerin
2.1. Gemäß § 11 Abs 1 StVO darf der Lenker eines Fahrzeugs die Fahrtrichtung nur ändern oder den Fahrstreifen wechseln, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer möglich ist.
2.2. Nach der Rechtsprechung können bei einspurigen Fahrzeugen richtungsändernde Fahrbewegungen innerhalb eines Fahrstreifens zwar nicht als Fahrstreifenwechsel qualifiziert werden; eine Richtungsänderung liegt aber dann vor, wenn es nicht nur zu einem geringfügigen Ausschwenken, sondern zu einem mit Richtungsänderungen mehrspuriger Fahrzeuge vergleichbaren Abgehen von der eingenommenen Fahrtrichtung kommt; diesfalls sind die Pflichten nach § 11 StVO zu beachten (2 Ob 30/99x = RS0111577).
2.3. Im Licht dieser Rechtsprechung ist der Klägerin ein Verstoß gegen § 11 Abs 1 StVO vorzuwerfen: Der festgestellte Seitenversatz von 1,4 m ist nicht mehr nur als „geringfügiges Ausschwenken“ eines einspurigen Fahrzeugs, sondern „ein mit Richtungsänderungen mehrspuriger Fahrzeuge vergleichbares Abgehen von der eingenommenen Fahrtrichtung“ iSv 2 Ob 30/99x zu werten. Ungeachtet der Tatsache, dass der Erstbeklagte wegen der Sperrlinie nicht überholen durfte, war die Klägerin nach dem klaren Gesetzeswortlaut verpflichtet, sich vor der Richtungsänderung davon zu überzeugen, dass dies ohne Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer, somit auch des nachfolgenden und überholenden Erstbeklagten möglich war (vgl 2 Ob 205/09z = RS0125787; auch RS0073714).
Soweit die Revisionswerberin aus der Entscheidung 2 Ob 53/87 ZVR 1988/119 anderes ableiten will, ist ihr zu entgegnen, dass der damalige Kläger als Radfahrer die Beurteilung des dortigen Erstgerichts, er habe mit seinem Seitenversatz nach links von maximal 1,7 m (nicht gegen § 11 StVO, sondern) gegen § 7 Abs 1 StVO verstoßen, nicht bekämpfte, weshalb dem Obersten Gerichtshof die Überprüfung dieser rechtlichen Beurteilung entzogen war. Diese Entscheidung spricht somit nicht gegen die hier getroffene rechtliche Beurteilung.
3. Verschuldensteilung
In annähernd vergleichbaren Konstellationen zwischen (aus jeweils verschiedenen Gründen) rechtswidrig Überholenden gegenüber überraschend nach links ausschwenkenden Überholten hat der Oberste Gerichtshof mehrfach das Verschulden im Verhältnis 1:2 zu Lasten des Überholten geteilt (2 Ob 2/81; 2 Ob 226/80 ZVR 1984/155; 8 Ob 139/82 ZVR 1983/72; 2 Ob 69/87 ZVR 1988/148; vgl auch Schlosser/Fucik/Hartl, Verkehrsunfall VI2 [2012] Rz 408). Der Senat hält in diesem Sinn auch im vorliegenden Fall eine Verschuldensteilung von 1:2 zu Lasten der Klägerin für angemessen.
4. Ergebnis
Aufgrund des Mitverschuldens der Klägerin von zwei Dritteln war die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der Abweisung von zwei Dritteln des Leistungs- und des Feststellungsbegehrens zu bestätigen. Zum restlichen Drittel des Leistungsbegehrens konnte betreffend den Grund des Anspruchs ein stattgebendes Teilzwischenurteil trotz eingewendeter Gegenforderung (RS0040935 [T11]) gefällt werden. Feststellungen zur Höhe der Klags- wie auch der Gegenforderung werden im fortgesetzten Verfahren zu treffen sein. Zum restlichen Feststellungsbegehren liegt Spruchreife nicht vor, weil über die Möglichkeit künftiger Schäden ebenfalls noch keine Feststellungen vorliegen. Insoweit waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben.
5. Kosten
Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 Abs 1 und 4 ZPO, hinsichtlich des Teilzwischenurteils iVm § 393 Abs 4 ZPO.
Textnummer
E125103European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0020OB00237.18V.0429.000Im RIS seit
29.05.2019Zuletzt aktualisiert am
19.03.2021