Entscheidungsdatum
18.10.2018Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L507 2149365-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.02.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.02.2018, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß den § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 10 Abs. 1 Z 3 und 57 AsylG iVm
§ 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsbürger arabischer Abstammung und moslemischer sunnitischer Religionszugehörigkeit, stellte am 11.07.2015, nachdem er zuvor illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist, einen Antrag auf internationalen Schutz.
Hiezu wurde er am 13.07.2015 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Dabei brachte er vor, dass er aus Angst vor dem herrschenden "Milizenkrieg", vor der unsicheren Lage sowie vor den Terroristen des Islamischen Staates (IS) seine Heimat verlassen habe. Im Falle einer Rückkehr, fürchte er um sein Leben.
2. Am 19.01.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen und brachte zusammengefasst vor, dass sein Haus neben einem amerikanischen Militärflughafen gelegen sei und 2006 eine Art "Ring" um das Areal gezogen worden sei. Es habe Türme zur Überwachung und eine Ausgangssperre ab achtzehn Uhr gegeben. Der Beschwerdeführer habe sich nicht mehr frei bewegen können und beim Betreten oder Verlassen des Militärgebietes eine Ausweiskarte vorzeigen müssen. Im Jahr 2010 seien die Amerikaner abgezogen und habe die irakische Armee das Areal übernommen. Da der Flughafen öfter bombardiert worden sei, seien Leute der Armee in die Häuser gekommen und hätten Verhöre durchgeführt. Nach einer Bombardierung des Flughafens im Jahr 2012 seien der Beschwerdeführer, ein Bruder sowie ein Onkel des Beschwerdeführers fünf Tage inhaftiert, befragt und gefoltert worden. Nach seiner Freilassung sei der Beschwerdeführer wieder arbeiten gegangen und habe an Demonstrationen teilgenommen. Der Geheimdienst habe diese Demonstrationen organisiert und die Namen der Teilnehmer an die Regierung weitergegeben. Im Jahr 2014 seien dann Freunde des Beschwerdeführers verschwunden bzw. von Leuten der Armee verhaftet worden und wisse bis heute keiner, was mit diesen passiert sei. Nach der Festnahme seiner Freunde habe der Beschwerdeführer nicht mehr arbeiten können und sei zu seinem Onkel in die XXXX gegangen. Dort habe er sich sieben bis zehn Tage aufgehalten und seien am 10.06.2014 die Daesh (arabische Bezeichnung für den Islamischen Staat) gekommen. Die Armee habe sich daraufhin zurückgezogen und sei die Region von den Daesh übernommen worden, weshalb der Beschwerdeführer mit seinem Onkel nach XXXX gegangen sei. Dort seien Araber von den Kurden anders behandelt worden bzw. seien sie nicht erwünscht gewesen und sei eine Rückkehr in die Heimatregion wegen der Daesh nicht möglich gewesen. Auch nach Bagdad habe der Beschwerdeführer nicht gehen können, weshalb er sich letztlich zur Ausreise entschlossen habe.
3. Mit Bescheid des BFA vom 15.02.2017, Zl. 1077632209-150837965/BMI-BFA_KNT_AST_01_TEAM_02, wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß
§ 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
Beweiswürdigend wurde vom BFA ausgeführt, dass es den dargelegten Verfolgungshandlungen seitens der irakischen Armee an der erforderlichen Intensität und am Konnex zur Ausreise fehle. Der Beschwerdeführer habe auch keine aktuelle, asylrelevante und konkret vor der Ausreise gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlung geschildert. Eine Bedrohungssituation aufgrund der Teilnahme an Demonstrationen habe nie vorgelegen. Weiters wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer auch keine Gefahren drohen, die eine Gewährung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen.
4. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 16.02.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG die Verpflichtung mitgeteilt, bis zum 03.03.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
5. Der bekämpfte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 21.02.2017 ordnungsgemäß zugestellt, wogegen mit Schreiben vom 04.03.2017 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.
Darin wurde zusammengefasst ausgeführt, dass der Beschwerdeführer leicht nachvollziehbar geschildert habe, weshalb er befürchte, aus politischen Gründen vom irakischen Staat bedroht, verfolgt und getötet zu werden. Wenn das BFA dem Beschwerdeführer die Glaubwürdigkeit abspreche, hätte es weiterer Ermittlungen vor Ort durchführen müssen. Das BFA habe aber, ohne in der Beweiswürdigung darauf einzugehen, den Beschwerdeführer für unglaubwürdig erklärt, weshalb der angefochtene Bescheid grob mangelhaft sei. Das Vorbringen könne nicht einfach für unglaubwürdig erklärt werden, um sich weitere Ermittlungen zu ersparen. Auf dieser Ermittlungsbasis könne das BFA keine mangelfreie Entscheidung treffen. Zudem habe das BFA die eigenen Länderberichte nur unzureichend gewertet, weshalb ein Bericht zu tödlichen Angriffen in Tikrit vom September 2016 zitiert wurde. Das BFA habe sohin keine Grundlage, die Spruchpunkte I. und II abzuweisen, zumal keinerlei Ermittlungstätigkeit vorgenommen worden sei. Darüber hinaus sei der Grundsatz des Parteiengehörs verletzt worden, zumal auf das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach sein Vater von Milizen genötigt worden sei, Gefängnisinsassen freizulassen, sei nicht eingegangen worden und habe der Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit gehabt, auf den Inhalt der Beweiswürdigung zu reagieren. Zur näheren Erläuterung wurden diesbezüglich zwei Entscheidungen des EuGH zitiert (EuGH 22.11.2012 zu C-277/11 und EuGH 18.12.2008 zu C-349/07). Das BFA hätte dem Beschwerdeführer seine Zweifel und Argumente in Beziehung auf seine Glaubwürdigkeit noch in erster Instanz mitteilen müssen. Zudem liege eine negative antizipierte Beweiswürdigung vor und hätte das BFA weitere Ermittlungen durchführen müssen. Zur mangelnden Beweiswürdigung wurde ausgeführt, dass sich das BFA nicht mit der Gefährdung des Beschwerdeführers auseinandergesetzt habe und sohin eine Grundlage fehle, um Spruchpunkt I. und II. abzuweisen, was im Weiteren näher ausgeführt wurde. Zudem sei fälschlicherweise festgestellt worden, dass der Beschwerdeführer in den Irak zurückkehren könne. Diese Annahme gehe jedoch auch nicht aus den Länderberichten hervor bzw. widerspreche jeglichen aktuellen Informationen (EGMR J. K. and Others vs. Sweden, Nr. 59166/12) v. 23.08.2016). Aufgrund der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers und vor dem Hintergrund der Länderberichte sei auch davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer infolge seines politischen Engagements und seiner Teilnahme an Demonstrationen zu einer gefährdeten Gruppe zähle. Der Beschwerdeführer gehöre auch der sozialen Gruppe der vom irakischen Staat politisch Verfolgten an (VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479). Der Beschwerdeführer sei auch als sunnitischer Moslem besonders gefährdet und sei es wahrscheinlich, dass er wegen seiner Religionszugehörigkeit verfolgt werde. Beantragt wurde weiters die persönliche Einvernahme des Beschwerdeführers sowie die Bestellung eines länderkundlichen Sachverständigen, zum Beweis für die Richtigkeit seiner Angaben und das Vorliegen eines asylrelevanten Sachverhaltes. Der Beschwerdeführer könne sich auch nirgendwo anders im Irak niederlassen, zumal ihm dort jegliche Lebensgrundlage entzogen wäre. Eine Prüfung und Bewertung der Frage eines tatsächlichen und effizienten Schutzes im Heimatstaat habe im angefochtenen Bescheid nicht stattgefunden. Das BFA könne auch nicht begründen, weshalb der Beschwerdeführer nicht in eine ausweglose Situation geraten würde, zumal er außerhalb seiner Herkunftsregion, in welche er nicht zurückkehren könne, über keine Verwandten bzw. keine Lebengrundlage verfüge. Dem Beschwerdeführer sei daher in eventu subsidiärer Schutz zu gewähren. Letztlich wurde noch angemerkt, dass der Beschwerdeführer eindeutig über ein schützenswertes Privat- und Familienleben iSd Art. 8 EMRK verfüge und sei aufgrund der Integrationsbemühungen die Rückkehrentscheidung für dauerhaft unzulässig zu erklären.
6. Am 19.02.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen Zudem wurden dem Beschwerdeführer Länderfeststellungen zum Irak ausgehändigt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen eingeräumt.
7. Mit Schreiben vom 02.03.2018 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme zu den ihm in der mündlichen Verhandlung ausgehändigten Länderfeststellungen zum Irak. Darin wurde eingangs auf Berichte verwiesen, welche darlegen würden, dass es in den Jahren 2013 und 2014 Demonstrationen von Sunniten gegen die schiitische Regierung gegeben habe. Darüber hinaus wurden auszugsweise Artikel zitiert, die eine Verfolgung von Sunniten im Irak, die Abnahme von Dokumenten in bestimmten Flüchtlingslagern sowie laufende Änderungen der Regelungen über die Bewegungsfreiheit (insbesondere von IDPs) belegen würden. Der Stellungnahme war zudem ein Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 26.01.2015 zu Irak - Mosul) beigefügt.
1. Sachverhalt
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak, sunnitischen Glaubens und Angehöriger der arabischen Volksgruppe. Er stammt aus dem Dorf XXXX in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX und besuchte dort die Grund- und Mittelschule sowie eine Höhere Schule. Im Jahr 2000 hat der Beschwerdeführer in XXXX das Masterstudium "Neue Europäische Geschichte" begonnen zu studieren und schloss dieses im Jahr 2007 ab und war danach bei seinem Vater in der elterlichen Landwirtschaft sowie bei seinem Onkel, welcher mit Klimaanlagen gearbeitet hat, tätig. Von 2010 bis 2014 unterrichtete der Beschwerdeführer an der Universität in XXXX . Im Juni 2014 zog der Beschwerdeführer nach XXXX , wo er bis zu seiner Ausreise im Juni 2015 gewohnt hat.
Der Beschwerdeführer ist ledig, hat keine Kinder und ist gesund. Seine Mutter, drei Brüder sowie zwei Schwestern des Beschwerdeführers sind in Deutschland aufhältig. Der Vater sowie eine Schwester des Beschwerdeführers leben in der Türkei.
In Österreich leben ein Onkel und ein Cousin des Beschwerdeführers. Mit diesen besteht kein gemeinsamer Wohnsitz. Einmal in der Woche besteht zu diesen Verwandten telefonischer Kontakt.
Seit Juli 2015 hält sich der Beschwerdeführer durchgehend in Österreich auf, ist hier nicht berufstätig und lebt von Leistungen der Grundversorgung für Asylwerber. Er besuchte mehrere Deutschqualifizierungsmaßnahmen und spricht die deutsche Sprache auf einem guten Niveau. Seit Mai 2017 unterrichtet der Beschwerdeführer viermal wöchentlich ehrenamtlich einen Deutschkurs (Niveau Basiskenntnisse Deutsch für Migrantinnen) und ist freiwillig als Übersetzer und/oder Lernassistent bei der Caritas tätig. Am 19.05.2017 hat der Beschwerdeführer einen Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds besucht. Am 03.07.2017, 26.06.2017, 25.04.2017 und 10.07.2017 hat der Beschwerdeführer an Informationsveranstaltungen des Österreichischen Integrationsfonds teilgenommen. Von 19.02.2018 bis 06.07.2018 hat der Beschwerdeführer die Schule XXXX besucht. Seit Anfang April 2016 besucht der Beschwerdeführer regelmäßig im interkulturellen Zentrum XXXX . Bei der Caritas Kärnten hat der Beschwerdeführer die Veranstaltung "soziales Lernen" sowie "Einführung in die österreichische Lebenskultur" besucht.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak vor seiner Ausreise einer individuellen Verfolgung durch den IS, durch radikal islamische Milizen, durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in den Irak einer solchen ausgesetzt wäre.
Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt ist oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
1.2. Zur Lage im Irak wird festgestellt:
1.2.1. Allgemeine politische Lage:
Gemäß der Verfassung ist Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat. Der Islam ist Staatsreligion und eine (nicht die) Hauptquelle der Gesetzgebung.
In Artikel 117 der Verfassung wird die Region Kurdistan-Irak mit ihren Institutionen als eine
Region Iraks anerkannt.
Traditionelle Stammesstrukturen und ethnisch-religiöse Zugehörigkeiten bestimmen die gesellschaftlichen und politischen Loyalitäten bzw. Konfliktlinien. Die wichtigsten ethnischreligiösen Gruppierungen sind (arabische) Schiiten, die 60 bis 65% der Bevölkerung ausmachen und vor allem den Südosten/Süden des Landes bewohnen, (arabische) Sunniten (17 bis 22%) mit Schwerpunkt im Zentral- und Westirak (aus dieser Gruppe stammte bis zum Ende der Diktatur von Saddam Hussein 2003 der größte Teil der politischen und militärischen Führung) und die vor allem im Norden des Landes lebenden überwiegend sunnitischen Kurden (15 bis 20%). Entlang dieser Linien hat sich die Parteienlandschaft gebildet. Angehörige der religiösen Minderheiten, die traditionell besonders im arabisch-kurdischen Grenzgebiet siedelten, haben teilweise eine eigene ethnisch-religiöse Identität bewahrt, betrachten sich häufig aber auch als Kurden oder Araber.
Die vierten Parlamentswahlen fanden am 30. April 2014 statt. Die gegenwärtige Regierung ist eine "Regierung der nationalen Einheit", die alle maßgeblichen Parteien des Landes umfasst. Die Regierung steht weiterhin vor Herkulesaufgaben. Ein Teil des Landes (v. a. Teile der Provinz Ninawa) ist immer noch durch die Terrororganisation IS besetzt, die seit Ende 2015 mit einem Bündnis auf Zeit aus irakischem Militär, kurdischen Peschmerga, schiitischen Milizen und Luftschlägen der internationalen US-geführten Anti-IS-Koalition bekämpft wird.
Betätigungsmöglichkeiten von Menschenrechtsorganisationen: Trotz positiver rechtlicher Rahmenbedingungen hat sich im Zuge der seit 2014 anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen das Arbeitsumfeld für Menschenrechtsorganisationen deutlich verschlechtert. Derzeit existieren im gesamten Irak etwa 350 registrierte Nichtregierungsorganisationen (NROs) im Bereich Menschenrechte. Ein Gesetz zu NROs existiert seit 2010. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, unterliegen in ihrer Registrierung keinen besonderen Einschränkungen. Die schwierige Sicherheitslage und weiter bestehende regulatorische Hindernisse erschweren dennoch die Arbeit vieler NROs. Sie unterliegen der Kontrolle durch die Behörde für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft; zahlreiche unter ihnen berichten glaubhaft von bürokratischen und intransparenten Registrierungsverfahren, willkürlichem Einfrieren von Bankkonten sowie unangekündigten und einschüchternden "Besuchen" durch Vertreter des Ministeriums. Die Präsenz von ausländischen NROs im Zentral- und Südirak ist nach wie vor gering. Dies gilt nicht für die Region Kurdistan-Irak, wo viele ausländische NROs tätig sind. In Reaktion auf Beschwerden internationaler Partner hat die irakische Regierung das Registrierungsverfahren für ausländische NROs in Irak allerdings Mitte des Jahres2016 vereinfacht und beschleunigt.
Die Rolle der Sicherheitskräfte: Die irakischen Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige und über 100.000 Polizisten umfassen. Die irakischen Sicherheitskräfte sind nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert, ohnehin gibt es kein Polizeigesetz. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Im Rahmen der Unterstützung des Iraks im Kampf gegen IS bildet Italien Polizeikräfte (hälftig lokale und Bundespolizei) fort. Deutschland finanziert ein Vorhaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zur Förderung einer bürgernahen lokalen Polizei.
Die Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte erlaubt es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den von Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa'ib Ahl a-Haq und Kata'ib Hisbollah, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Mit dem am 26.11.2016 verabschiedeten Gesetz über die Volksmobilisierung wurde der Versuch unternommen, einen Teil der Milizangehörigen in Strukturen unter dem formalen Oberbefehl des Premierministers zu überführen und einen Teil unter Zahlung eines Existenzminimums zu Demobilisieren. Der Ausgang dieses Experiments ist völlig offen.
Die irakische Armee verfügt nicht über ausreichende Fähigkeiten oder Ausrüstung, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Die Schmach des weitgehend kampflosen Rückzugs gegenüber den IS-Kräften bei deren Vormarsch 2014 sitzt jedoch tief und führte in Teilen der Truppe zu einer hohen Motivation bei der Rückeroberung besetzter Gebiete. Die Professionalisierung der Armee und vor allem auch der Bundes- und lokalen Polizei wird im Rahmen der internationalen Anti-IS-Koalition mit Hilfe internationaler Militär- und Polizeiausbildung unterstützt, darunter auch bis zu 150 Soldaten der Bundeswehr im sog. "Kurdistan Training Coordination Center" (KTCC).
Gemäß Art. 121 der irakischen Verfassung üben kurdische Sicherheitskräfte (insbesondere die militärisch organisierten Peschmerga und die Sicherheitspolizei Asayisch) die Sicherheitsverantwortung in den Provinzen Erbil, Sulaymaniya, Dohuk und Halabdscha aus; diese Kräfte kontrollieren darüber hinaus de facto Teile der Provinzen Diyala, Kirkuk und Ninawa (Mosul). Sie unterstehen formal der kurdischen Regionalregierung und sind nicht in den Sicherheitsapparat der Zentralregierung eingegliedert. Die kurdischen Sicherheitskräfte bilden allerdings keine homogene Einheit, sondern unterstehen faktisch den beiden großen Parteien KDP und PUK (s.o.) in ihren jeweiligen Einflussgebieten.
Ca. 20.000 Angehörige privater Sicherheitsunternehmen sind in Irak tätig. Die größten Unternehmen haben sich in der "Private Security Companies Association of Iraq" (PSCAI) zusammengeschlossen. Viele werden inzwischen von der irakischen Regierung, Unternehmen und Organisationen als Personen- und Objektschützer eingesetzt. Sie genießen keine Immunität.
1.2.2. Staatliche Repressionen:
Staatliche Stellen sind nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und trotz erkennbarem Willen der Regierung Abadi nicht in der Lage, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Derzeit ist es staatlichen Stellen zudem nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Dies geht nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen sowie den VN einher mit Repressionen, mitunter auch extralegalen Tötungen sowie Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession.
Politische Opposition: Belastbare Erkenntnisse über die gezielte Unterdrückung der politischen Opposition durch staatliche Organe liegen nicht vor. Politische Aktivisten berichten von Einschüchterungen und Gewalt durch staatliche, nichtstaatliche oder paramilitärische Akteure, die abschrecken sollen, neue politische Bewegungen zu etablieren und die freie Meinungsäußerung teils massiv einschränken. Einige sunnitische Politiker wurden unter dem Vorwurf von terroristischen Aktivitäten (oder der Beihilfe dazu) behindert, mussten fliehen oder wurden in absentia verurteilt. Das betraf u. a. den ehemaligen Vize-StP Al-Hashemi, ex-Finanzminister Issawi und den Abgeordneten Ahmad Al-Alwani. Die politische Atmosphäre im Land ist zudem durch ethnische Spannungen und Korruption belastet.
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit: Die Verfassung vom 15.10.2005 (Art. 38 C und 39) sieht die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung vor und stellt die nähere Ausgestaltung durch ein Gesetz in Aussicht, das es aber noch nicht gibt.
Art. 38 A und B der Verfassung garantieren die Freiheit der Meinungsäußerung, solange die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt wird. Das "Gesetz zum Schutz von Journalisten" von 2011 hält u. a. mehrere Kategorien des Straftatbestands der "Diffamierung" aufrecht, die in ihrem Strafmaß z. T. unverhältnismäßig hoch sind. Klagen gegen das Gesetz sind anhängig.
Religionsfreiheit: Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an: Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung, in Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Art. 3 legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung Iraks fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes. Art. 43 verpflichtet den Staat zum Schutz der religiösen Stätten. Das Strafgesetzbuch kennt keine aus dem islamischen Recht übernommenen Straftatbestände, wie z. B. den Abfall vom Islam; auch spezielle, in anderen islamischen Ländern existierende Straftatbestände, wie z. B. die Beleidigung des Propheten, existieren nicht. Die alten irakischen Personalausweise enthielten ein Feld zur Religionszugehörigkeit, was von Menschenrechtsorganisationen als Sicherheitsrisiko im aktuell herrschenden Klima religiöskonfessioneller Gewalt kritisiert wurde. Mit Einführung des neuen Personalausweises wurde dieser Eintrag zeitweise abgeschafft. Mit Verabschiedung eines Gesetzes zum neuen Personalausweis im November 2015 wurde allerdings auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen: Art. 26 stipuliert, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden.
Die meisten religiös-ethnischen Minderheiten sind im Parlament vertreten. Grundlage bildet ein Quotensystem bei der Verteilung der Sitze (fünf Sitze für die christliche Minderheit sowie jeweils einen Sitz für Yeziden, Sabäer, Mandäer und Schabak). Das kurdische Regionalparlament sieht jeweils fünf Sitze für Turkmenen, Chaldäer und Assyrische Christen sowie einen für Armenier vor. Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt.
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Allerdings ist nach dem Ende der Herrschaft Saddam Husseins die irakische Gesellschaft teilweise in ihre (konkurrierenden) religiösen und ethnischen Segmente zerfallen - eine Tendenz, die sich durch die IS-Gräuel gegen Schiiten und Angehörige religiöser Minderheiten weiterhin verstärkt hat. Gepaart mit der extremen Korruption im Lande führt diese Spaltung der Gesellschaft dazu, dass im Parlament, in den Ministerien und zu einem großen Teil auch in der nachgeordneten Verwaltung, nicht nach tragfähigen, allgemein akzeptablen und gewaltfrei durchsetzbaren Kompromissen gesucht wird, sondern die zahlreichen ethnisch-konfessionell orientierten Gruppen oder Einzelakteure ausschließlich ihren individuellen Vorteil suchen oder ihre religiös geprägten Vorstellungen durchsetzen. Ein berechenbares Verwaltungshandeln oder gar Rechtssicherheit existieren nicht.
Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter Kontrolle des IS standen oder noch stehen. Hier kommt es zu gezielten Verfolgungen von Jesiden, Mandäern, Kakai, Schabak und Christen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonversionen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Rund 300.000 Jesiden wurden 2014 aus ihrem Stammland um Sindschar vertrieben und mussten tagelang ohne Wasser und Lebensmittel im Gebirge ausharren, bis sie gerettet werden konnten. Mitte November 2015 wurde Sindschar von kurdischen Sicherheitskräften zurückerobert, eine unzureichende Sicherheitslage, große Zerstörungen und Rivalitäten verschiedener Peschmergagruppierungen und Milizen machen bislang eine Rückkehr der Bevölkerung unmöglich. In der Region Kurdistan-Irak wie auch in weiteren Gebieten, die unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung stehen, sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten Zuflucht gefunden.
Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis: Es liegen keine belastbaren Erkenntnisse zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis vor. Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt. Es mangelt an ausgebildeten, unbelasteten Richtern; eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über "schiitische Siegerjustiz" und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten.
Auch die Lage in der Region Kurdistan-Irak ist von Defiziten der rechtsstaatlichen Praxis gekennzeichnet. Die Asayisch-Sicherheitskräfte operieren immer wieder außerhalb der Kontrolle des zuständigen Innenministeriums (insbesondere in der Provinz Sulaymaniya). In einem glaubhaft belegten Fall berichtet Amnesty International von einem Gefangenen, der seit zehn Jahren ohne Verfahren in Haft sitzt. Untersuchungen nach Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte bleiben oft ohne Ergebnis. Haftbesuche sind, auch für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), grundsätzlich möglich.
Militärdienst: Es gibt keine Wehrpflicht. Nach der Auflösung der Sicherheitskräfte des Regimes von Saddam Hussein wurden bei den neuen irakischen Sicherheitskräften nur Personen ohne Verbindungen zum alten Regime eingestellt. Bei der Einstellung in den Polizeidienst werden teilweise Schiiten bevorzugt.
Geschlechtsspezifische Verfolgung: Irak war das erste Land im Mittleren Osten, welches Anfang 2014 einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der VN-Sicherheitsratsresolution 1325 (2000) zu Frauen, Frieden und Sicherheit verabschiedete. Die Region Kurdistan-Iraq hatte bereits 2013 eine Strategie zum Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verabschiedet.
In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% im Parlament (Region Kurdistan: 30%) verankert. Dadurch sind im irakischen Parlament derzeit 82 Frauen vertreten (von insgesamt 328 Abgeordneten). Allerdings sind Frauen in den bedeutenden Ausschüssen wie dem für Verteidigung und Sicherheit oder dem Komitee für Nationale Versöhnung nicht vertreten. Die geschätzte Erwerbsquote unter Frauen lag 2014 bei nur 14%, der Anteil an der arbeitenden Bevölkerung bei 17 %.
Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragraphen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen, rund 20% der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 - 14 Jahren. Kinderheirat wie auch sexuelle Ausbeutung werden dadurch begünstigt, dass 10% der irakischen Frauen Witwen, viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien sind.
Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die prekäre Sicherheitslage und wachsende fundamentalistische Tendenzen in Teilen der irakischen Gesellschaft haben negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken.
Der IS hat in den von der Terrororganisation kontrollierten Gebieten das nach Meinung der Terrororganisation ‚richtige' islamische Recht angewandt, was zu massiven Menschenrechtsverletzungen, insbesondere gegen Frauen, Kinder und Homosexuelle geführt hat. Frauen dort sind Berichten zufolge Opfer von Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung (auch in Mehrehen) und werden in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. In Mosul herrscht Beobachtern zufolge für Frauen Verschleierungszwang (Niqab).
Nach Angaben der VN-Sonderbeauftragten gegen sexuelle Gewalt in Konflikten setzen der IS und andere Milizen sexuelle Gewalt systematisch als Mittel der Kriegsführung ein. Der
VN-Sicherheitsrat verurteilte am 28. August 2015 den Einsatz sexueller Gewalt in Syrien und Irak.
Die kurdische Regionalregierung hat ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie zwei staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NROs betrieben. Vereinzelt werden Frauen "zum eigenen Schutz" inhaftiert. Im August 2011 trat das kurdische Gesetz gegen häusliche Gewalt in Kraft, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden.
Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden.
NROs berichten über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion. Im Zuge des IS-Vormarschs auf Sindschar sollen über 5.000 jesidische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als Trophäen an IS-Kämpfer gegeben oder nach Syrien verkauft wurden.
Viele Frauen und Mädchen sind auch durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass minderjährige Frauen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Frauen.
Repressionen durch nicht-staatliche Akteure: Neben die staatliche tritt die Repression durch nicht-staatliche Akteure, vor denen Regierung und Staat die Bürger nicht schützen können. Bereits seit 2013 hat das Erstarken der Terrorgruppe IS zur verstärkten Repression gegen die Zivilbevölkerung insbesondere in Ninawa geführt. Mit Ausbruch der Kämpfe in weiten Teilen Iraks seit Juni 2014 wurden auch schiitische Milizen mobilisiert, die Racheakte, einschließlich Vertreibungsaktionen, gegen sunnitische Iraker begehen. Minderheiten geraten oft zwischen die Fronten. Im Zuge der Rückeroberung von Gebieten, die der IS im Jahr 2014 erobert hatte, kommt es auch zu Repressionen durch kurdische Peschmerga, schiitische und auch sunnitische Milizen (sowie, in geringerem Maße, weiterer Milizen der verschiedenen konfessionellen Minderheiten) besonders gegen Angehörige (anderer) sunnitischer Stämme, die der Kollaboration mit dem IS bezichtigt werden. Durch die staatliche Akzeptanz, tlw. Führung und Bezahlung der Milizen verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen.
1.2.3. Militante Opposition, Milizen, Terrorgruppen:
Sicherheitslage: Teile der nordwestlichen Provinzen sind nicht oder nur teilweise unter der Kontrolle der Zentralregierung. Seit Juni 2014 wird IS von verschiedenen irakischen wie internationalen Akteuren bekämpft, was bewaffnete Auseinandersetzungen in den Provinzen Anbar, Babil, Bagdad, Diyala, Ninawa, Salah al-Din und Kirkuk sowie auch an den Rändern der Region Kurdistan-Irak zur Folge hat. Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen sogar eine asymmetrische Kriegführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert.
Nach der Rückeroberung Mossuls Ende Juni 2017 erklärte der irakische Premierminister Haider al-Abadi am 31. August 2017 mit Tal-Afar eine weitere Stadt als vom "Islamischen Staat" (IS) befreit (Al-Jazeera 31.8.2017).
Den "Staat", der die irakisch-syrische Grenze zum Teil aufgehoben hatte, gibt es nicht mehr. Die IS-Kontrollgebiete in Irak und in Syrien hängen nicht mehr zusammen. Die Hoffnung, dass der IS völlig zusammenbrechen würde, wenn er Mossul, die Hauptstadt seines "Kalifats", verliert, hat sich jedoch nicht erfüllt (Harrer 20.8.2017).
Besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen: Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte, alle Mitglieder des Sicherheitsapparats sind besonders gefährdet. Auch Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen werden regelmäßig Opfer von gezielten Attentaten.
Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird (fast ausschließlich Angehörige von (Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen), Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal werden ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen.
Eine Vielzahl von ehemaligen Mitgliedern der seit 2003 verbotenen Baath-Partei Saddam Husseins ist, soweit nicht ins Ausland geflüchtet, häufig auf Grund der Anschuldigung terroristischer Aktivitäten in Haft. Laut der VN-Mission haben viele von ihnen weder Zugang zu Anwälten noch Kontakt zu ihren Familien. Mit Verabschiedung des Gesetzes zur Generalamnestie am 25. August 2016 durch das irakische Parlament besteht jedoch Aussicht auf eine Verbesserung der Situation. Vereinzelte Fälle von Entlassungen wurden bereits bekannt.
1.2.4. Diskriminierung ethnisch-religiöser Minderheiten:
Sunniten: Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach Entmachtung Saddam Husseins 2003 insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014) aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es ihr weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Die Sunniten leben mehrheitlich in den am stärksten umkämpften Gebieten der Provinzen Anbar und Ninawa. Einige bekennen sich nicht mehr zu ihrer Konfession und versuchen dadurch, Benachteiligungen zu umgehen.
Kurden: Von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen sind auch Kurden betroffen, soweit sie außerhalb der Region Kurdistan-Irak leben. Im Konflikt um die Zukunft von Kirkuk, aber auch in Mosul kommt es immer wieder zu Übergriffen und Anschlägen auf Kurden. Aus Gebieten, die durch kurdische Peschmerga vom IS zurückerobert wurden, wird teilweise berichtet, dass den vertriebenen sunnitischen und auch schiitischen arabischen Bewohnern eine Rückkehr nicht gestattet wird und Häuser von vermeintlichen IS-Kollaborateuren zerstört werden. Nach der Befreiung von Ortschaften aus den Händen der Terrormiliz IS kommt es teilweise im Nachgang zu Machtkämpfen um die Vorherrschaft im jeweiligen Gebiet; so wurde Sommer/Herbst 2016 über Zusammenstöße zwischen kurdischen Peschmerga und schiitischen Milizen in der Stadt Tuz Khurmatu berichtet.
Christen: Schätzungen gehen davon aus, dass heute noch etwa 200.000 -bis 400.000 Christen in Irak leben (zum Vergleich 2003: 1,5 Mio.). Die Situation der Christen (v. a. assyrische sowie mit Rom unierte chaldäische Christen) hat sich kirchlichen Quellen zufolge seit Ende der Diktatur 2003 stark verschlechtert. Viele Christen sehen für sich keine Zukunft in Irak. In den vergangenen Jahren sind daher hunderttausende irakische Christen ins Ausland geflohen. Es kommt immer wieder zu Angriffen auf Priester, Bombenanschläge auf Kirchen und christliche Einrichtungen sowie Übergriffe auf von Christen geführte Lebensmittelhandlungen, in denen ggf. auch alkoholhaltige Getränke angeboten werden. Nach dem Vormarsch des IS auf Mosul und das umliegende christliche Kernland ergriffen im Sommer 2014 zehntausende Christen die Flucht in die Region Kurdistan-Irak und vereinzelt auch nach Bagdad. Viele warten dort darauf, dass die teilweise mittlerweile befreiten christlichen Städte um Mosul, wie Qaraqosch sicher genug für eine Rückkehr sind.
In der Region Kurdistan-Irak wie in angrenzenden Gebieten, die von der kurdischen Regionalregierung kontrolliert werden, haben seit 2003 viele christliche Flüchtlinge aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden. Sie leben derzeit unter schwierigen materiellen und sozialen Bedingungen als Binnenvertriebe zumeist in der kurdischen Provinz Dohuk. Es gibt dort keine Anzeichen für staatliche Diskriminierung. Die kurdische Regionalregierung fördert den Kirchenbau wie auch die Kirche als Institution mit staatlichen Ressourcen. Die umfangreichen Enteignungen von christlichem Besitz unter dem alten Regime sind jedoch nicht rückgängig gemacht worden.
Turkmenen: Die meisten der ca. 400.000 irakischen Turkmenen leben im Raum Kirkuk und im westlich von Mosul gelegenen Gebiet um Tal Afar. Im Distrikt Amerli in Salah al-Din wurden im August 2014 bis zu 20.000 schiitische Turkmenen von IS-Kräften eingeschlossen und belagert. Erst durch einen gemeinsamen Angriff von kurdischen Peschmerga, irakischen Sicherheitskräften und Milizen sowie durch amerikanische Luftunterstützung konnten sie befreit werden. Ende 2016 flüchteten tausende Turkmenen aus Tal Afar vor den Kampfhandlungen zur Rückeroberung der Stadt vom IS. Die Stadt Tal Afar wird von schiitischen und sunnitischen Turkmenen bewohnt. Ministerpräsident Abadi hat den schiitisch dominierten Kräften der Volksmobilisierung die Zusage abgerungen, nicht nach Tal Afar vorzustoßen, da sonst Racheakte der schiitischen Kräfte an den pauschal als
IS-Kollaborateure abgestempelten sunnitischen Turkmenen zu befürchten wären.
Jesiden: Die Zahl der monotheistisch-synkretistischen Jesiden in Irak liegt nach eigenen Angaben bei etwa 450.000 bis 500.000. Die Mehrzahl siedelte im Norden Iraks, v. a. im Gebiet um die Städte Sindschar (zwischen Tigris und syrischer Grenze), Schekhan (Provinz Ninawa) und in der Provinz Dohuk. Für die Extremisten des IS sind Jesiden "Ungläubige" (sog. "Teufelsanbeter"), die mit dem Tod bestraft werden können. Die schwersten Menschenrechtsverletzungen an ihnen wurden bereits beschrieben. Viele Jesiden leben derzeit in Flüchtlingslagern, besonders in der Region Kurdistan-Irak, ein großer Teil trägt sich mit Auswanderungsplänen. Außerdem gibt es in der Stadt Dohuk, nahe des jesidischen Heiligtums Lalesh, sehr viele Jesiden, die dort weitgehend ohne Unterdrückung oder Verfolgung leben. Eine Rückkehr nach Sindschar war bis Ende 2016 kaum möglich, da sich nach der Befreiung aus den Händen des IS im Stadtgebiet verschiedene Milizen bekämpfen.
Mandäer: Von den vor allem im Südirak lebenden Mandäern/Sabäern befinden sich von ehemals ca. 60.000 nur noch höchstens 5.000 Personen in Irak. Die Mandäer werden von radikalislamistischen Kreisen als "Ungläubige" angesehen, gegen die Gewalt und Entführung - teilweise mit dem Ziel der Zwangsbekehrung - als legitim angesehen werden. Da sie traditionell oft als Goldschmiede arbeiten, sind sie häufig Opfer finanziell motivierter Entführungen mit z. T. tödlichem Ausgang.
Schabak: Die Schabak sind eine heterodoxe Glaubensgemeinschaft, die im 15. Jahrhundert aus dem heutigen Aserbaidschan in den Nordirak einwanderte und heute ca. 100.000 Personen umfasst. Sie siedeln in Mosul und in Dörfern in der Ninawa-Ebene östlich der Stadt und sehen sich selbst teilweise als Schiiten an. Sie verfügen über eine eigene Sprache. Auch die Schabak wurden wiederholt Opfer von gezielten Angriffen, bisher aber nur außerhalb der Region Kurdistan-Irak.
1.2.5. Ausweichmöglichkeiten:
Innerirakische Migration in die Region Kurdistan-Irak ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug kontrolliert. Wer dauerhaft bleiben möchte, muss zur Asayisch-Behörde des jeweiligen Bezirks gehen und sich anmelden. Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht. Durch den Zustrom von Binnenvertriebenen ist die Region Kurdistan-Irak an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt. Mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge sind allein seit Anfang 2014 nach Kurdistan-Irak geflohen. Hinzu kommen mehr als 250.000 syrische Flüchtlinge. 2015 und 2016 sind weitere Flüchtlingslager entstanden. Auch wegen der eigenen Finanzkrise sieht sich die kurdische Regionalregierung nicht mehr in der Lage, weiter Flüchtlinge aufzunehmen.
Auch die Hauptstadt Bagdad (ca. 570.000) und in geringerem Maße der schiitisch geprägte Südirak (ca. 200.000) haben zahlreiche Binnenvertriebene aus umkämpften Gebieten aufgenommen. Aus Furcht vor der Infiltration von Terroristen sind die Grenzen von Bagdad, Kerbela und Babel für weitere Vertriebene fast vollständig geschlossen. Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, haben daher kaum eine Möglichkeit, einen sicheren Aufnahmeplatz in Irak zu finden. Ausnahmen stellen ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.
1.2.6. Menschenrechtslage:
Es kommt weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren.
Schutz der Menschenrechte in der Verfassung: In der Verfassung vom 15.10.2005 sind wichtige demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung verankert. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung.
Irak hat alle wichtigen internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, ratifiziert (25.01.1971). Es bestehen allerdings noch Vorbehalte gegen einzelne Bestimmungen, u. a. auch sogenannte Scharia-Vorbehalte.
Dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ist Irak nicht beigetreten. Der Ministerrat hat bereits im Dezember 2011 einen Nationalen Aktionsplan zum Schutz der Menschenrechte beschlossen, der 135 Empfehlungen des Menschenrechtsrats in einem Reformpaket aufgreifen soll.
Die bereits in der irakischen Verfassung (Art. 102) vorgesehene Einrichtung einer unabhängigen MR-Kommission erfolgte im April 2012 mit der Berufung der 11 Kommissionsmitglieder durch das irakische Parlament. Der Kommission fehlt es jedoch an einem administrativen Unterbau.
Folter: Folter und unmenschliche Behandlung werden von der irakischen Verfassung in
Art. 37 ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die VN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren eingesetzt. Es kommt immer wieder zu systematischer Anwendung von Folter bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte. Laut Informationen von UNAMI sollen u. a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören. Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz überwiesen, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen.
Nach glaubwürdigen Berichten von Human Rights Watch kommt es in Gefängnissen der Asayisch in der Region Kurdistan-Irak zur Anwendung von Folterpraktiken gegen Terrorverdächtige, z. B. durch Schläge mit Kabeln, Wasserschläuchen, Holzstöcken und Metallstangen, durch das Halten von Gefangenen in Stresspositionen über längere Zeiträume, tagelanges Fesseln und Verbinden der Augen sowie ausgedehnte Einzelhaft. Die Haftbedingungen sind insgesamt sehr schlecht. Allerdings sind Bemühungen der kurdischen Regionalregierung erkennbar, die Haftbedingungen zu verbessern, systematische Folter abzustellen und internationale Standards einzuhalten. Das IKRK hat Zugang zu den Gefängnissen in der Region Kurdistan-Irak.
Todesstrafe: Im irakischen Strafrecht ist die Todesstrafe vorgesehen, sie wird auch verhängt und vollstreckt. Irak ist eines der Länder mit der höchsten Zahl von verhängten Todesstrafen. Sie wurde von der ehemaligen US-Besatzungsbehörde kurzzeitig suspendiert, von der irakischen Interimsregierung am 8. August 2004 unter Verweis auf die Ausnahmesituation in Irak aber wieder eingeführt.
Derweil werden vor allem gegen IS-Kämpfer, die in fragwürdigen Prozessen überführt wurden, zunehmend Todesurteile verhängt und vollstreckt (2015: mind. 26 Hinrichtungen; 2016: bisher mind. 71 Hinrichtungen und über 123 neue Todesurteile). Am 21.08.2016 veröffentlichte so etwa das Justizministerium eine Erklärung über die Vollstreckung der Todesstrafe an 36 Verurteilten, denen Beteiligung an der Ermordung von 1.700 Rekruten im Militärlager Speicher bei Tikrit im Juni 2014 vorgeworfen worden war. Laut Angaben von Amnesty International dauerten die Verfahren lediglich wenige Stunden, wobei die Aussagen unter Folter erzwungen wurden.
Problematisch sind zudem die Bandbreite und die mitunter fehlende rechtliche Klarheit der Straftatbestände, für die die Todesstrafe verhängt werden kann: neben Mord und Totschlag u.a. auch wegen des Verdachts auf staatsfeindliche Aktivitäten, Vergewaltigung, Einsatz von chemischen Waffen und insbesondere wegen terroristischer Aktivitäten unterschiedlicher Art.
Die Todesstrafe stößt in der Bevölkerung auf breite Akzeptanz. In der Region Kurdistan-Irak wurde nach dem Fall des Regimes Saddam Hussein die Todesstrafe abgeschafft, später aber zur Bekämpfung des Terrorismus wieder eingeführt. Am 12. August 2015 wurden erstmals seit 2008 wieder drei Menschen hingerichtet.
Sonstige menschenrechtswidrige Handlungen: Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen. Eine festgenommene Person muss zwar innerhalb von 24 Stunden einem Richter vorgeführt werden, doch diese Frist wird nicht immer eingehalten. Sie wird teilweise bis auf über 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden.
Die Haftbedingungen entsprechen nicht dem Mindeststandard, wobei die Situation in den Haftanstalten erheblich variiert. Das auf Völkerrecht basierende Mandat der VN-Mission UNAMI, irakische Haftanstalten zu besuchen, konnte nicht umfassend wahrgenommen werden, da irakische Behörden UNAMI den Zugang zu verschiedenen Haftanstalten in mehreren Fällen verwehrten. Das IKRK hat hingegen regelmäßigen und flächendeckenden Zugang. In den Haftanstalten der Region Kurdistan-Irak herrschen nach Informationen von UNAMI etwas bessere Bedingungen, insbesondere in der neugebauten Modellanstalt Dohuk.
1.2.7. Rückkehrfragen:
Europa - neben Schweden vor allem Deutschland - gilt als derzeit besonders erstrebenswerte Zielregion, wobei über die Lebensbedingungen in Europa idealisierte Vorstellungen verbreitet sind. Der Flüchtlingsstrom aus Irak in die Nachbarländer ist dagegen zurückgegangen. Hauptaufnahmeländer waren Syrien (nach früheren Schätzung der syrischen Regierung phasenweise ca. 1 bis 1,5 Mio.; belastbare Zahlen über evtl. Anschlussflucht aufgrund der Situation in Syrien liegen nicht vor) und Jordanien (bis zu 450.000) sowie in geringerem Umfang Iran, Ägypten, Libanon und die arabischen Golfstaaten.
Situation für Rückkehrerinnen und Rückkehrer: Derzeit stellt sich für Irak prioritär die Frage nach der Rückkehr der 3,11 Mio. Binnenflüchtlinge. Nach und nach kehrt ein Teil von ihnen, bis Dezember 2016 ca. 1,27 Mio., in befreite Gebiete zurück, viele werden jedoch davon abgeschreckt, dass schiitische Milizen sunnitische Rückkehrer, aber teilweise auch sunnitische Milizen Rückkehrer anderer sunnitischer Stämme an der Rückkehr hindern.
Auf niedrigem Niveau ist eine freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten zu beobachten. In der Region Kurdistan-Irak gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Ob sich diese Tendenzen verstetigen, wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der Region Kurdistan-Irak kurz- und mittelfristig verbessern wird.
Grundversorgung: Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Über 4 Mio. der 36 Mio. Iraker erhalten reguläre Gehälter von der Regierung, die 2015 und 2016 aufgrund der schlechten Haushaltslage teilweise erst mit mehrmonatiger Verspätung gezahlt wurden. Etwa ein Zehntel der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig. Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten zumindest außerhalb der Region Kurdistan-Irak schwierig. Nach Angaben des VN-Programms "Habitat" gleichen die Lebensbedingungen von 57% der städtischen Bevölkerung in Irak denen von Slums. Es gibt Lebensmittelgutscheine für Bedürftige. Die VN-Mission ermittelte schon im Juni 2013, dass vier Millionen Iraker unterernährt sind. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze
(2 USD/Tag). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört.
Die Stromversorgung ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung häufig unterbrochen. Dann wird Strom aus privaten Generatoren erzeugt. Von Ende Juli 2015, als die Stromausfälle einen neuen Höhepunkt erreichten, bis August 2016 haben zeitweise jeden Freitag Tausende von Bürgern in der Hauptstadt und anderen großen Städten des Landes gegen das Versagen des Staates demonstriert. Seither hat sich die Zahl der Demonstranten reduziert. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Region Kurdistan-Irak erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unterunter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste.
Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser.
Medizinische Versorgung: Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt: In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser nur mit deutlich eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen. Korruption ist verbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Die große Zahl von Flüchtlingen und IDPs belastet das Gesundheitssystem zusätzlich. Hinzu kommt, dass durch die Kampfhandlungen nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch schwierige Schusswunden und Kriegsverletzungen behandelt werden müssen.
Behandlung zurückgeführter Iraker: Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u. a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Darauf stellen auch die "Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Irak" des UNHCR vom Mai 2012 ab. Während Rückführungen in die Region Kurdistan-Irak auch von Deutschland aus regelmäßig stattfinden, werden Abschiebungen nach Zentralirak aus Deutschland gar nicht und von anderen Staaten sehr verhalten durchgeführt. Schweden, Großbritannien und Australien führen vereinzelt Abschiebungen durch und planen dies auch für die Zukunft. Im September 2016 begann ein informeller Migrationsdialog zwischen EU-Mitgliedstaaten und dem irakischen Innenministerium, der auch das Thema Rückführungen umfassen soll.
Einreisekontrollen: Irakische Reisepässe, die nach dem 17.06.1999 abgelaufen sind, bleiben zur Rückkehr nach Irak gültig. Die Regierung erkennt die vom alten Regime für ungültig erklärten Pässe der Serie H im Rahmen ihrer Gültigkeitsdaten an. Pässe der Serie M werden seit 01.01.2007 nicht mehr anerkannt, Pässe der Serie N sind seit 01.01.2008 nicht mehr gültig. Es sind vereinzelt noch Pässe der Serie S im Umlauf, die mittlerweile von den EU-Staaten, Jordanien und den USA nicht mehr anerkannt werden. Von 2006 bis 2009 gab die Regierung Pässe der Serie G aus, seit dem 01.10.2010 werden nur noch Pässe der Serie A ausgestellt. Die Pässe der alten Serie G behalten ihre Gültigkeit. Irakische Blanko-Pässe der Serie A 4091901 -bis A 4150000 sind nicht mehr gültig; diese stammten aus der Provinz Anbar.
Die neuen irakischen Pässe enthalten einen maschinenlesbaren Abschnitt sowie einen 3DBarcode und gelten als fälschungssicherer im Vergleich zu