TE Bvwg Erkenntnis 2019/2/7 L524 2211473-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.02.2019
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Entscheidungsdatum

07.02.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L524 2211474-1/2E

L524 2211473-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Veronika SANGLHUBER, LL.B. über die Beschwerden von (1.) XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei und (2.) mj. XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, beide vertreten durch RA Dr. Rudolf Mayer, Universitätsstraße 8/2, 1090 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.11.2018, (1.) Zl. 250795705-170018977/BMI-BFA_WIEN_RD und

(2.) ZI. 1138248108-170018993/BMI-BFA_WIEN_RD, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerdeführerin. Sie sind türkische Staatsangehörige und reisten am 20.12.2016 legal mit einem Visum für die Schengen-Staaten über den Flughafen Wien in Österreich ein.

Die Beschwerdeführerinnen stellten jeweils am 05.01.2017 Anträge auf internationalen Schutz. Bei der am selben Tag erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes brachte die Erstbeschwerdeführerin vor, dass sie aus XXXX , XXXX in der Türkei stamme und habe dort zuletzt an der Adresse XXXX gelebt. Sie habe in der Türkei acht Jahre die Grundschule besucht. Sie sei seit 02.05.2016 geschieden. In Österreich würden ihre Eltern sowie zwei Schwestern und drei Brüder leben. Sie habe nach Österreich gewollt, weil ihre Familie hier lebe.

Hinsichtlich ihres Fluchtgrundes gab sie an (Schreibfehler im Original): "Ich bin kurdischer Abstammung und da ich alleine mit meiner Tochter in der Türkei lebte (meine Familie lebt seit Jahren schon in Österreich) hatte ich seit jüngster Zeit wegen PKK und anderen Unruhen, (siehe gegenwärtige Lage der Kurden in der Türkei), mit der Behörde große Probleme. Es verging kein Tag, wo ich nicht von der Behörde überprüft wurde. Das Leben wurde mir in Türkei zur Hölle gemacht. Darum habe ich versucht für meine unmündig minderjährig Tochter und mir ein legales Visum nach Österreich zu bekommen. Ich habe furchtbare Angst, falls ich in die Türkei zurückkehren sollte, das ich dort inhaftiert werde. Das ist mein Asylgrund."

Im Falle ihrer Rückkehr habe sie Angst, ins Gefängnis zu kommen.

Ihre Tochter habe keine eigenen Fluchtgründe.

2. Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 24.10.2018 brachte die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen vor, dass sie Türkin sei, aber aus einer kurdischen Familie stamme. Sie sei sunnitische Muslimin. Sie sei fünf Jahre verheiratet gewesen. In dieser Zeit sei ihr damaliger Ehemann für ihren Lebensunterhalt aufgekommen. Danach habe sie mit ihrer Tochter ca. ein Jahr bei ihren Großeltern väterlicherseits gelebt, die bis zum Tod des Großvaters im Jahr 2014 für ihren Lebensunterhalt aufgekommen sei. Daraufhin habe sie ca. sieben oder acht Monate als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet und später schließlich ca. ein Jahr als Kassiererin in einem Kleidungsgeschäft.

Ihr Ex-Ehemann lebe in seinem Heimatdorf XXXX in der Türkei. Ihr Sohn XXXX , geb. XXXX , lebe bei ihrem Ex-Ehemann, der nun wieder verheiratet sei. Die Erstbeschwerdeführerin habe zuletzt in XXXX , im Bezirk XXXX in der Gemeinde XXXX gelebt. Dort, und zwar in XXXX , Bezirk XXXX , würden noch vier Tanten, ein Onkel und ihre Großmutter leben. Die Erstbeschwerdeführerin lebe mit ihrer Tochter bei ihren Eltern, ihrer Schwester und zwei Brüdern. Eine weitere Schwester und ein weiterer Bruder würden ebenso in Österreich leben. Die Erstbeschwerdeführerin habe sich im Jahr 2003 in Österreich aufgehalten. Sie habe über ein von 11.07.2003 bis 15.09.2003 gültiges Visum verfügt. Danach sei sie ihn die Türkei zurückgekehrt.

In Österreich habe sie einen Deutschkurs besucht und habe einen breiten Freundeskreis. Sie sei den ganzen Tag zu Hause, koche und bringe ihre Tochter in die Schule. Sie beschäftige sich mit ihrer Tochter. In die Türkei würde sie zurückkehren, wenn sie einen guten Job mit kurzen Arbeitszeiten fände.

Zu Ihrem Fluchtgrund gab die Erstbeschwerdeführerin an (Schreibfehler im Original).

"LA: Warum haben Sie Ihr Heimatland verlassen und in Österreich einen Asylantrag gestellt? Nennen Sie bitte all Ihre Fluchtgründe!

VP: Im Jahr 2003 bin ich zusammen mit meiner Familie nach Österreich gekommen. Wir hatten damals ein 3 monatiges Visum für Österreich. Ich bin dann hier zur Schule gegangen. Meine Großmutter väterlicherseits die in der Türkei lebt ist krank geworden. Ich sollte kurz vor dem Ablauf meines Visums in die Türkei zurückgehen um auf meine Großmutter aufzupassen. Ein Jahr später kehrte meine Familie auch zurück. Sie haben dann ein einjähriges Visum für Österreich beantragt und bekommen, so sind wir dann alle gemeinsam nach Österreich gereist. Ich bin dann in die Türkei auf Urlaub gefahren, die Verwandten haben mich dann zwangsweise zu einer Heirat gezwungen. Eine Wochen nach der Verlobung fand die Hochzeit statt. Ich blieb dann in der Türkei, weil man Exmann mit nicht erlaubt hat nach Österreich zurückzukehren. Damals hatte ich noch ein Visum für Österreich, welches noch sieben oder acht Monate gültig war. Mein Exmann hat es mir aber nicht erlaubt nach Österreich zu reisen. Deshalb bin ich in der Türkei geblieben. Mein Visum wurde blockiert. Ich wollte aber nicht in der Türkei bleiben, habe meine Familie vermisst, da ich damals noch sehr jung war. Ich hab Österreich auch sehr vermisst, hatte aber keine Möglichkeit mehr zurückzukehren.

Wie ich vorher sagte, war ich dann fünf Jahre lang mit meinem Exmann verheiratet, weitere fünf Jahre lang habe ich dann getrennt von ihm gewohnt. Seit ungefähr zwei Jahren lebe ich hier in Österreich. Mein Cousin hat dann für mich die Verpflichtungserklärung gemacht und so habe ich ein Visum für Österreich bekommen.

Nach meiner Einreise in Österreich habe ich mich an verschiedene Institutionen in Österreich gewendet. Ich war bei der Caritas und beim Sozialamt und habe keine Unterstützung erhalten. Mir wurde jede Unterstützung verwehrt.

LA: Haben Sie noch andere Fluchtgründe?

VP: Die Tatsache, dass ich eine Kurdin bin war in der Türkei auch ein Problem. Als Kurdin kannst du in der Türkei nichts machen. Es ist schwer dort als Kurde Freunde zu finden. Mein Exmann hat mich auch immer verfolgt. Er hat mir gedroht, dass er mir meine Tochter wegnimmt. Ich habe aber das Obsorgerecht. Es war sehr schwer dort für mich alleine ein neues Leben aufzubauen, weil meine ganze Familie in Österreich aufhältig ist. Die Arbeitszeiten sind sehr lang in der Türkei, ich konnte meine Tochter nicht mitnehmen und musste sie zuhause alleine lassen. Nach der Schule war sie immer alleine zuhause.

[...]

LA: Wann und wie wurden Sie von Ihrem Exmann verfolgt?

VP: Das war im Jahr 2016. Das Scheidungsverfahren hat fünf Jahre lang gedauert, es war keine einvernehmliche Scheidung. Er wollte nicht, dass ich aus der Türkei ausreise und das ich keinen anderen Mann mehr heirate.

Laut Gerichtsbescheid durfte er seine Tochter alle zwei Wochen besuchen und sehen, ich wiederum durfte meinen Sohn alle zwei Woche sehen und besuchen. Ich wollte aber mit meiner Tochter nach Österreich reisen und habe ihn um eine Vollmacht für die Tochter gebeten. Die Vollmacht wollte er mir aber nicht geben und er hat mich bedroht, dass ich meine Tochter nie ins Ausland mitnehmen kann und das er einen Antrag auf das Obsorgerecht bei Gericht stellen wird, damit er mir die Tochter wegnehmen kann.

LA: Wann und wie wurden Sie persönlich bedroht?

VP: Er hat mich telefonisch im Jahr 2016 bedroht. Ich befand mich damals in XXXX und mein Mann war in XXXX auch in der Provinz XXXX .

LA: Was hat er gesagt?

VP: Er hat gesagt, ich werde nie zulassen, dass du mit meiner Tochter ins Ausland reist. Du wirst dort einen anderen Mann heiraten und das werde ich nicht zulassen. Ich nehme dir meine Tochter weg, ich geh wieder zu Gericht und stelle dort einen Antrag.

LA: Hat er sie auch körperlich bedroht?

VP: Nein.

LA: Gab es sonst einen Vorfall wobei Sie von ihm bedroht wurden?

VP: Nein. Er war nie bei mir zuhause. Er hat mich nie körperlich bedroht. Er hat aber alle seine Verwandten engagiert, damit sie mich telefonisch belästigen.

[...]

LA: Bei Ihrer Erstbefragung gaben Sie an, dass Sie Angst hätten vor einer Inhaftierung aufgrund Ihrer kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit hätten. Jetzt ist Ihr Fluchtgrund aber ein gänzlich anderer.

Können Sie das erklären.

VP: Damals gab es in verschiedenen Teilen der Türkei Bombenexplosionen. Jetzt ist es aber ruhig in der Türkei.

[...]

LA: Wurden Sie wegen Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder Religion in der Türkei verfolgt?

VP: Ich wurde nie aufgrund meiner Volksgruppenzugehörigkeit noch aufgrund meiner Religion verfolgt. Es ist aber allgemein so in der Türkei, dass wenn jemand Kurde ist hält man von ihm Abstand. Deswegen habe ich auch niemanden gesagt, dass ich Kurdin bin."

Für ihre Tochter brachte sie keine eigenen Fluchtgründe vor.

3. Mit den Bescheiden des BFA jeweils vom 06.11.2018, (1.) Zl. 250795705-170018977/BMI-BFA_WIEN_RD und (2.) ZI.

1138248108-170018993/BMI-BFA_WIEN_RD, wurden die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerinnen eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

In der Begründung wurden zunächst die Angaben der Erstbeschwerdeführerin zu ihrem Fluchtgrund in der Erstbefragung sowie die Niederschrift der Einvernahme vor dem BFA wörtlich wiedergegeben. Weiters wurden die von den Beschwerdeführerinnen vorgelegten Dokumente angeführt. Das BFA stellte fest, dass die Beschwerdeführerinnen türkische Staatsangehörige, Kurdinnen und Muslimas seien. Die Erstbeschwerdeführerin sei geschieden und habe gemeinsam mit ihrem ehemaligen Ehegatten eine Tochter, die sich ebenfalls im Bundesgebiet befinde, und einen Sohn, der sich in der Türkei befinde. Sie habe in ihrem Heimatland bis zur 7. Klasse die Grundschule absolviert und in Österreich 2003 einen polytechnischen Lehrgang besucht, welchen sie jedoch nicht abgeschlossen habe. Bis zur Ausreise aus der Türkei sei die Erstbeschwerdeführerin als Kassiererin tätig gewesen und sei gemeinsam mit der Zweitbeschwerdeführerin am 20.12.2016 mit einem Visum C der österreichischen Botschaft Ankara in das österreichische Bundesgebiet gereist. Sie habe kaum Kenntnisse der deutschen Sprache und sei gesund. In Österreich sei die Erstbeschwerdeführerin strafrechtlich unbescholten. Die Beschwerdeführerinnen würden beide kurdisch als Muttersprache sprechen und die Erstbeschwerdeführerin zudem Türkisch.

Zu den Gründen für das Verlassen ihres Heimatstaates stellte das BFA fest, dass die Erstbeschwerdeführerin eine individuell gegen sie gerichtete Gefahr einer Verfolgung oder Bedrohung nicht glaubhaft vorbringen habe können. Sie habe die Türkei verlassen, weil sie bei ihrer Familie in Österreich leben wolle. Hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin stellte das BFA fest, dass ihre gesetzliche Vertretung für sie keine eigenen Fluchtgründe angegeben habe und nicht habe festgestellt werden können, dass die Zweitbeschwerdeführerin in der Türkei eine begründete Furcht vor asylrelevanter Verfolgung zu gewärtigen hätte.

Danach traf das BFA Feststellungen zur Lage in der Türkei.

Beweiswürdigend führte das BFA zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaats der Erstbeschwerdeführerin aus (Schreibfehler im Original):

"Grundsätzlich ist eine Aussage dann als glaubhaft einzustufen, wenn das Vorbringen des Asylwerbers genügend substantiiert ist und der Asylwerber in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen. Zudem muss das Vorbringen in sich schlüssig und plausibel sein, was voraussetzt, dass der Asylwerber sich nicht in wesentlichen Aussagen widerspricht bzw. dass sein Vorbringen mit den Tatsachen oder der allgemeinen Lebenserfahrung übereinstimmt. Die von Ihnen gemachten Angaben über Ihr Leben in der Türkei und den fluchtrelevanten Begebenheiten, vermochten den Voraussetzungen für die Glaubhaftmachung einer asylrelevanten Verfolgung oder Verfolgungsgefahr nicht zu entsprechen. Im Folgenden wird ausgeführt warum Ihren Angaben kein Glauben geschenkt wird.

Zusammengefasst machten Sie während Ihrer Einvernahme am 24.10.2018, folgende Angaben:

Sie gaben an, dass Sie im Jahre 2003 ein drei monatiges Visum erhalten hätten und gemeinsam mit Ihrer Familie nach Österreich gekommen wären. Da Ihre in der Türkei lebende Großmutter väterlicherseits krank geworden ist, mussten Sie kurz vor Ablauf Ihres Visums in die Türkei zurückgehen um auf Ihre Großmutter aufzupassen. Ein Jahr später ist Ihre Familie in die Türkei zurückgekehrt und Sie haben anschließend ein einjähriges Visum für Österreich beantragt und bekommen, so sind Sie dann alle gemeinsam nach Österreich gereist. Als Sie dann schließlich in die Türkei auf Urlaub gefahren sind, sollen Sie schließlich von Verwandten zu einer Heirat gezwungen worden sein. Da Ihr Exmann Ihnen nicht erlaubt hat nach Österreich zu reisen wären Sie in der Türkei geblieben. Weiters waren Sie fünf Jahre mit Ihrem Exmann verheiratet und haben dann weitere fünf Jahre getrennt voneinander gelebt. Ihr Cousin hätte dann eine Verpflichtungserklärung für Sie gemacht und so haben Sie ein Visum für Österreich erhalten.

Im Zuge Ihrer Erstbefragung gaben Sie an, dass Sie wegen der PKK und anderen Unruhen mit den Behörden Ihres Heimatlandes große Probleme gehabt hätten. Das Leben wäre Ihnen zur Hölle gemacht worden. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei hätten Sie furchtbare Angst inhaftiert zu werden. Im Widerspruch dazu gaben Sie während Ihrer Einvernahme vor ha. Behörde lediglich an, dass Sie mit Ihrer Familie zusammenleben möchten. Sie machten keinerlei Angaben welche eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung andeuten würden. Konfrontiert mit diesem Widerspruch gaben Sie zu Protokoll, dass es damals in verschiedenen Teilen der Türkei Bombenexplosionen gegeben hätte, heute wäre es wieder ruhig in der Türkei. Aufgrund jener massiven inhaltlichen Diskrepanz, hinsichtlich Ihrer Angaben in der Erstbefragung und der Einvernahme vor ha. Behörde zu Ihrem angeblichen Fluchtgrund, wird Ihnen die persönliche Glaubwürdigkeit abgesprochen.

Auf die Frage ob Sie noch andere Fluchtgründe hätten, teilten Sie der Behörde mit, dass man als Kurdin in der Türkei nichts machen könne. Es wäre schwer dort als Kurdin Freunde zu finden. Weiters wären Sie von Ihrem Exmann verfolgt worden, welcher gedroht haben soll Ihnen die Obsorge für Ihre Tochter wegzunehmen. Es ist für die ha. Behörde nicht überprüfbar ob man in der Türkei als Kurdin nichts machen könne. Fest steht, dass Sie weder eine diskriminierende Haltung gegenüber Ihrer Person noch eine Verfolgung aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit vorbrachten.

Befragt wann und wie Sie von Ihrem Exmann verfolgt worden wären, gaben Sie zu Protokoll, dass das Scheidungsverfahren fünf Jahre lang gedauert hätte und die Scheidung nicht einvernehmlich gewesen sei. Ihr Exmann hätte nicht gewollt, dass Sie aus der Türkei ausreisen und keinen anderen Mann mehr heiraten. Auf die Frage wann und wie Ihr Exmann Sie persönlich bedroht hätte, teilten Sie der Behörde mit, dass er Ihnen telefonisch gedroht hätte Ihnen die Obsorge für Ihre Tochter wegzunehmen, da Ihr Exmann nicht wollte, dass Sie gemeinsam mit Ihrer Tochter die Türkei verlassen. Anhand Ihrer Angaben konnte keine maßgebliche Bedrohung festgestellt werden. Weiters gaben Sie an, dass Sie eine polizeiliche Anzeige gemacht hätten wenn Ihr Exmann persönlich erschienen wäre. Somit hätten Sie in diesem fiktiven Fall die richtige Entscheidung getroffen. Befragt gaben Sie an niemals körperlich bedroht worden zu sein.

Ihr Vorbringen ist nicht asylrelevant, Sie konnten keine persönliche oder individuelle Verfolgung geltend machen. Aufgrund der Diskrepanz hinsichtlich Ihrer Angaben in der Erstbefragung und Ihrer Einvernahme vor ha. Behörde zu Ihrem angeblichen Fluchtgrund musste Ihnen die Glaubwürdigkeit abgesprochen werden. Es ist somit offensichtlich, dass die Antragstellung lediglich der Legalisierung Ihres Aufenthalts im österreichischen Bundesgebiet dienen soll und die Ausreise aus Ihrem Heimatland aus nicht asylrelevanten Gründen erfolgte."

Hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin führte das BFA beweiswürdigend aus, dass ihre gesetzliche Vertreterin keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht habe und der Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen und subsidiären Schutz abgewiesen worden sei.

In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass die von der Erstbeschwerdeführerin vorgebrachten Angaben nicht asylrelevant seien. Es ergebe sich auch kein Hinweis darauf, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde. Nach Abwägung aller Interessen ergebe sich, dass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

4. Gegen diesen Bescheid erhoben die Beschwerdeführerinnen über ihren rechtsfreundlichen Vertreter fristgerecht Beschwerde wegen materieller und formeller Rechtswidrigkeit. Das Ermittlungsverfahren und die Beweiswürdigung seien mangelhaft, ohne dies jedoch zu konkretisieren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerinnen sind türkische Staatsangehörige, Kurdinnen und Musliminnen.

Die Erstbeschwerdeführerin verfügte von 11.07.2003 bis 15.09.2003 über ein für Österreich gültiges Visum. In dieser Zeit hielt sie sich in Österreich auf und besucht eine Polytechnische Schule, die sie aber nicht abschloss. Nach diesem Aufenthalt kehrte sie in Türkei zurück. Im Jahr 2005 wurde der Erstbeschwerdeführerin erneut ein Visum für Österreich ausgestellt. Sie reiste am 17.04.2005 in Österreich ein. Der konkrete Zeitpunkt der Rückkehr in die Türkei kann nicht festgestellt werden.

Am 12.01.2007 heiratete die Erstbeschwerdeführerin in der Türkei. Dieser Ehe entstammen die Zweitbeschwerdeführerin, die minderjährige Tochter XXXX , geb. XXXX , und der minderjährige Sohn XXXX , geb. XXXX . Der Sohn lebt bei seinem Vater in der Türkei. Die Ehe der Erstbeschwerdeführerin wurde mit Urteil vom 24.05.2016 geschieden. Der Ex-Ehemann ist wieder verheiratet und lebt in XXXX .

Nach der Scheidung lebte die Erstbeschwerdeführerin mit ihrer Tochter ca. ein Jahr bei ihren Großeltern väterlicherseits, die für ihren Lebensunterhalt aufkamen. Nach dem Tod des Großvaters im Jahr 2014 arbeitete die Erstbeschwerdeführerin ca. sieben oder acht Monate als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft und danach ca. ein Jahr als Kassiererin in einem Kleidungsgeschäft. Die Erstbeschwerdeführerin hat in der Türkei die Grundschule bis zur 7. Klasse besucht.

Die Beschwerdeführerinnen lebten im Bezirk XXXX , in der Provinz XXXX , in der Türkei. Dort leben noch vier Tanten, ein Onkel und die Großmutter der Erstbeschwerdeführerin.

Die Beschwerdeführerinnen verließen die Türkei am 20.12.2016 legal mit einem vom 16.12.2016 bis 15.01.2017 gültigen Visum C für die Schengen-Staaten. Am 05.01.2017 stellten sie die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

Die Erstbeschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten. Die Zweitbeschwerdeführerin ist nicht strafmündig. Die Beschwerdeführerinnen bezogen von 01.07.2017 bis 26.09.2018 Leistungen aus der Grundversorgung. Die Erstbeschwerdeführerin ist nicht erwerbstätig. Die Beschwerdeführerinnen sprechen nicht Deutsch. Nicht festgestellt werden kann, dass die Erstbeschwerdeführerin einen Deutschkurs besucht hat. Die Erstbeschwerdeführerin hat einen Freundeskreis in Österreich.

Die Beschwerdeführerinnen leben mit den Eltern, einer Schwester und zwei Brüdern der Erstbeschwerdeführerin in einem gemeinsamen Haushalt. Die Beschwerdeführerinnen werden von den Eltern der Erstbeschwerdeführerin finanziell unterstützt. Die Erstbeschwerdeführerin verbringt den ganzen Tag zu Hause, bringt ihre Tochter zur Schule und holt sie und beschäftigt sich mit ihrer Tochter.

Die Beschwerdeführerinnen sind gesund.

Die Erstbeschwerdeführerin hat die Türkei verlassen, um bei ihrer Familie in Österreich zu leben. Für die Zweitbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerinnen vor ihrer Ausreise einer konkreten, individuell gegen sie gerichteten Verfolgung ausgesetzt waren oder sie im Falle einer Rückkehr in die Türkei der Gefahr einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wären.

Nicht festgestellt werden kann, dass die Erstbeschwerdeführerin wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit in der Türkei verfolgt wurde.

Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen

457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen,

5. Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey?

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018

* AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final],

https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018

* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018

* OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report,

http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018

* OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017):

INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions,

https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018

* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018,

https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018

* SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years,

https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018

* TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018

* TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018

* ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz,

https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018

Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018

* BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018

* CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf, Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final],

https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

* EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018

* MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery,

http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018

* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018

* SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei:

Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017

Sicherheitsbehörden

Die Polizei übt ihre Tätigkeit in den Städten aus. Die Jandarma ist für die ländlichen Gebiete und Stadtrandgebiete zuständig und untersteht dem Innenminister. Polizei und Jandarma sind zuständig für innere Sicherheit, Strafverfolgung und Grenzschutz.Der Einfluss der Polizei wird seit den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung sukzessive von der AKP zurückgedrängt (massenhafte Versetzungen, Suspendierungen vom Dienst und Strafverfahren). Die politische Bedeutung des Militärs ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Auch das traditionelle Selbstverständnis der türkischen Armee als Hüterin der von Staatsgründer Kemal Atatürk begründeten Traditionen und Grundsätze, besonders des Laizismus und der Einheit der Nation (v. a. gegen kurdischen Separatismus), ist in Frage gestellt (AA 3.8.2018).

Am 9.7.2018 erließ Staatspräsident Erdogan ein Dekret, das die Kompetenzen der Armee neu ordnet. Der türkische Generalstab wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt. Der Oberste Militärrat wurde aufgelöst. Erdogan hat auch den Nationalen Sicherheitsrat und das Sekretariat für nationale Sicherheit der Türkei abgeschafft. Ihre Aufgaben werden vom Komitee für Sicherheit und Außenpolitik (Board of Security and Foreign Policy) übernommen, einem von neun beratenden Gremien, die dem Staatspräsidenten unterstehen. Ebenfalls per Dekret wird der Verteidigungsminister nun zum wichtigsten Entscheidungsträger für die Sicherheit. Landstreitkräfte, Marine- und Luftwaffenkommandos wurden dem Verteidigungsminister unterstellt. Der Präsident kann bei Bedarf direkt mit den Kommandeuren der Streitkräfte verhandeln und Befehle erteilen, die ohne weitere Genehmigung durch ein anderes Büro umgesetzt werden sollen. Hiermit soll die Schwäche der Sicherheitskommando-Kontrolle während des Putschversuchs in Zukunft vermieden werden (AM 17.7.2018).

Die Gesetzesnovelle vom April 2014 brachte dem MIT erweiterte Befugnisse zum Abhören von privaten Telefongesprächen und zur Sammlung von Informationen über terroristische und internationale Straftaten. MIT-Agenten besitzen von nun an eine größere Immunität gegenüber dem Gesetz. Es sieht Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren für Personen vor, die Geheiminformation veröffentlichen (z.B. Journalist Can Dündar). Auch Personen, die dem MIT Dokumente bzw. Informationen vorenthalten, drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Entscheidung, ob gegen den MIT-Vorsitzenden ermittelt werden darf, bedarf mit der Novelle April 2014 der Zustimmung des Staatspräsidenten. Seit September 2017 untersteht der türkische Nachrichtendienst MIT direkt dem Staatspräsidenten und nicht mehr dem Amt des Premierministers (ÖB 10.2017).

Das türkische Parlament verabschiedete am 27.3.2015 eine Änderung des Sicherheitsgesetzes, das terroristische Aktivitäten unterbinden soll. Dadurch wurden der Polizei weitreichende Kompetenzen übertragen. Das Gesetz sieht den Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen vor, welche Molotow-Cocktails, Explosiv- und Feuerwerkskörper oder Ähnliches, etwa im Rahmen von Demonstrationen, einsetzen, oder versuchen einzusetzen. Zudem werden die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure ermächtigt, den Ausnahmezustand zu verhängen und der Polizei Instruktionen zu erteilen (NZZ 27.3.2015, vgl. FAZ 27.3.2015, HDN 27.3.2015). Die Polizei kann auf Grundlage einer mündlichen oder schriftlichen Einwilligung des Chefs der Verwaltungsbehörde eine Person, ihren Besitz und ihr privates Verkehrsmittel durchsuchen. Der Gouverneur kann die Exekutive anweisen, Gesetzesbrecher ausfindig zu machen (Anadolu 27.3.2015).

Vor dem Putschversuch im Juli 2016 hatte die Türkei 271.564 Polizisten und 166.002 Gendarmerie-Offiziere (einschließlich Wehrpflichtige). Nach dem Putschversuch wurden mehr als 18.000 Polizei- und Gendarmerieoffiziere suspendiert und mehr als 11.500 entlassen, während mehr als 9.000 inhaftiert blieben (EC 9.11.2016). Anfang Jänner 2017 wurden weitere 2.687 Polizisten entlassen (Independent 7.1.2017). Die Regierung ordnete am 8.7.2018 im letzten Notstandsdekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes die Entlassung von 18.632 Staatsangestellten an, darunter fast 9.000 Polizisten wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Terrororganisationen und Gruppen, die "gegen die nationale Sicherheit vorgehen", 3.077 Armeesoldaten, 1.949 Angehörige der Luftwaffe und 1.126 Angehörige der Seestreitkräfte (HDN 8.7.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (17.7.2018): Erdogan makes major security changes as he starts new term,

https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/07/turkey--revamping-national-security-apparatus.html, Zugriff 18.9.2018

* Anadolu Agency (27.3.2015): Turkey: Parliament approves domestic security package,

http://www.aa.com.tr/en/s/484662--turkey-parliament-approves-domestic-security-package, Zugriff 18.9.2018

* EC - European Commission (9.11.2016): Turkey 2016 Report [SWD (2016)366 final],

http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2016/20161109_report_turkey.pdf, Zugriff 18.9.2018

* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (27.3.2015): Die Polizei bekommt mehr Befugnisse,

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/tuerkei-mehr-befugnisse-fuer-polizei-gegen-demonstranten-13509122.html, Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (27.3.2015): Turkish main opposition CHP to appeal for the annulment of the security package, http://www.hurriyetdailynews.com/turkish-main-opposition-chp-to-appeal-for-the-annulment-of-the-security-package-.aspx?pageID=238&nID=80261&NewsCatID=338, Zugriff 18.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (8.7.2018): Over 18,500 Turkish public workers dismissed with new emergency state decree, http://www.hurriyetdailynews.com/over-18-500-turkish-public-workers-dismissed-with-new-emergency-state-decree-134290, Zugriff 18.9.2018

* Independent (7.1.2017): Turkey dismisses 6,000 police, civil servants and academics under emergency measures following coup, http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/turkey-sacks-workers-emergency-measures-police-civil-servants-academics-a7514021.html, 18.9.2018

* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (27.3.2015): Mehr Befugnisse für die Polizei; Ankara zieht die Schraube an, http://www.nzz.ch/international/europa/ankara-zieht-die-schraube-an-1.18511712, Zugriff 18.9.2018

* ÖB - Österreichische Botschaft - Ankara (10.2017):

Asylländerbericht Türkei

Ombudsmann und die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung

Seit 2012 verfügt die Türkei auch über das Amt eines Ombudsmannes mit etwa 200 Mitarbeitern. Beschwerden können auf Türkisch, Englisch, Arabisch und Kurdisch eingereicht werden (AA 3.8.2018). Die Institution arbeitet unter dem Parlament, aber als unabhängiger Beschwerdemechanismus für Bürger, um Untersuchungen zu Regierungspraktiken und -maßnahmen, insbesondere in Bezug auf Menschenrechtsprobleme und Personalfragen, zu beantragen, obwohl Entlassungen aufgrund von Notstandsdekreten nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (USDOS 20.4.2018). Ferner verfügt das Parlament über einen ständigen Ausschuss für Menschenrechte sowie einen Petitionsausschuss, die sich allerdings kaum mit Fragen wie Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit befassen (AA 3.8.2018).

Im Jahr 2017 erhielt die Ombudsmannstelle 17.131 neue Anträge, fast dreimal so viele wie im Durchschnitt der letzten vier Jahre. Da der Ombudsmann jedoch nicht befugt ist, Ermittlungen einzuleiten und keine Rechtsmittel zur Intervention besitzt, schwieg er zu bestimmten Menschenrechtsbelangen, insbesondere zu Menschenrechtsverletzungen im Südosten des Landes. Die Nationale Institution für Menschenrechte und Gleichstellung (Türkiye Insan Haklari Kurumu, TIHK) fungiert auch als nationaler Präventionsmechanismus gegen Folter und hat den Auftrag, Misshandlung und Folter auf Antrag oder von Amts wegen zu untersuchen. Sie hat auch die Befugnis, von sich aus Untersuchungen zu möglichen Menschenrechtsverletzungen einzuleiten. Weder die TIHK noch die Ombudsmannstelle sind operativ, strukturell oder finanziell unabhängig. Ihre Mitglieder werden nicht in Übereinstimmung mit den Pariser Grundsätzen ernannt (EC 17.4.2018).

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final],

https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 21.8.2018

* USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430322.html, Zugriff 14.8.2018

Allgemeine Menschenrechtslage

Vor dem Hintergrund des andauernden Ausnahmezustands kam es zu Menschenrechtsverletzungen. Abweichende Meinungen wurden rigoros unterdrückt, davon waren u. a. Journalisten, politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es wurden weiterhin Fälle von Folter bekannt, doch in geringerer Zahl als in den Wochen nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Die weitverbreitete Straflosigkeit verhindert die wirksame Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der Behörden verübt wurden. Es kam auch 2017 zu Menschenrechtsverstößen durch bewaffnete Gruppen; im Januar wurden zwei Anschläge verübt. Doch Bombenanschläge gegen die Bevölkerung, die in den Vorjahren regelmäßig stattfanden, gab es im Jahr 2017 nicht. Für die Lage der im Südosten des Landes vertriebenen Menschen wurde keine Lösung gefunden (AI 22.2.2018).

Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCHR) erhielt weiterhin Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche, die im Berichtszeitraum in der Südosttürkei im Rahmen der Sicherheitsoperationen seitens türkischer Organe begangen wurden. Die NGO "Human Rights Association" veröffentlichte Statistiken über solche Verletzungen, die angeblich im ersten Quartal 2017 in der ost- und südöstlichen Region Anatoliens stattgefunden haben. Demnach belief sich die Gesamtzahl der Verstöße auf 7.907, darunter 263 Vorfälle von Folterungen in Haft, und über 100 Vorfälle von Kriminalisierung von Personen für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung (OHCHR 3.2018).

Die Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte, einschließlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten, insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten. Auch in den Bereichen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Verfahrens- und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. Seit September 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in 163 (von 168) Fällen festgestellt, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit bezogen (EC 17.4.2018).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit im April 2018 dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen (Zeit 25.4.2017). Die Versammlung bes

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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