TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/2 W107 2192650-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.04.2019
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Entscheidungsdatum

02.04.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W107 2192650-1/13E

Schriftliche Ausfertigung des am 13.03.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX alias XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Mag. Julian A. Motamedi, Rechtsanwalt, Baumannstraße 9/12a, 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.03.2019 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann XXXX (Beschwerdeführer zu W107 2192657-1), ihrer mj. Tochter XXXX (Beschwerdeführerin zu W107 2192653-1) und ihrem mj. Sohn XXXX (Beschwerdeführer zu W107 2192652-1) unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 24.12.2015 - ebenso wie ihr Ehemann und ihre beiden mj. Kinder - einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 25.12.2015 wurde die Beschwerdeführerin von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zu ihrer Identität, ihrer Reiseroute und ihrem Fluchtgrund befragt.

3. Am 20.12.2017 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson niederschriftlich zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Die Beschwerdeführerin legte zahlreiche Integrationsunterlagen und Befunde vor.

4. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Es wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Auch die Anträge des Ehemannes und der beiden mj. Kinder der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz wurden mit Bescheiden des BFA vom jeweils XXXX abgewiesen.

5. Mit Schreiben vom 13.04.2018 erhoben die Beschwerdeführerin, ihr Ehemann und ihre beiden mj. Kinder, alle vertreten durch den amtswegig beigegebenen Rechtsberater, gemeinsam vollinhaltliche Beschwerde gegen die Bescheide des BFA. Unter einem wurden weitere Integrationsunterlagen vorgelegt.

6. Am 17.04.2018 legte das BFA die (gemeinsam erhobene) Beschwerde und die dazugehörigen Akten des Verwaltungsverfahrens betreffend die vier Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

7. Am 17.07.2018 erfolgte eine Beschwerdeergänzung samt Urkundenvorlage.

8. Am 11.09.2018 erfolgte eine Vollmachtsbekanntgabe des ausgewiesenen Rechtsvertreters.

9. Mit Schreiben vom 11.02.2019 wurden die Beschwerdeführerin, ihr Ehemann und die beiden mj. Kinder sowie Vertreter der belangten Behörde zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht geladen. Mit der Ladung wurde den Parteien das aktuelle Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 29.06.2018, Stand:

22.01.2019, zur Kenntnis gebracht.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.03.2019 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari, des ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Vertrauensperson eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer die Beschwerdeführerin, ihr Ehemann und die beiden mj. Kinder im Familienverfahren zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz einvernommen wurden. Die belangte Behörde verzichtete schriftlich auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Die Beschwerdeführervertretung legte im Rahmen der mündlichen Verhandlung weitere diverse Integrationsunterlagen sowie ärztliche Bestätigungsschreiben zu ihrem Gesundheitszustand vor.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurden die am Tag der mündlichen Verhandlung aktuellsten und den Parteien elektronisch zugänglichen Länderinformationen, insbesondere das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan und die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, in das Verfahren eingeführt. Der Rechtsvertreter nahm diese zur Kenntnis und verzichtete ausdrücklich auf eine Stellungnahme.

Nach Schluss der mündlichen Verhandlung verkündete die Richterin das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen. Die Beschwerdeführerin verzichtete nach Belehrung über die Folgen des Verzichts ausdrücklich auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof.

Eine Ausfertigung der Niederschrift vom 13.03.2019 samt Belehrung wurde der Beschwerdeführerin und ihrer Rechtsvertretung am Tag der mündlichen Verhandlung persönlich ausgefolgt und dem BFA mit Schreiben vom selben Tag übermittelt.

11. Am 18.03.2019 beantragte das BFA die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte sowie Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin und ihrem Leben in Österreich:

Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX ist volljährig, Staatsangehörige von Afghanistan und der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Die Muttersprache der Beschwerdeführerin ist Dari. Die Identität der Beschwerdeführerin steht nicht fest; die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführerin gelten ausschließlich für die Identifizierung ihrer Person im Asylverfahren.

Die Beschwerdeführerin ist im Iran geboren und lebte dort bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr gemeinsam mit ihrer Familie - den Eltern, fünf Brüdern, einer leiblichen Schwester und einer Stiefschwester. Der Vater der Beschwerdeführerin verstarb als die Beschwerdeführerin im Kleinkindalter war; sie besuchte im Iran drei Jahre die Grundschule, sie kann schreiben und lesen; ein weiterer Schulbesuch wurde ihr von ihrem ältesten Bruder verboten. Eine Berufsausbildung oder Berufserfahrung erhielt sie nicht (VP. S. 7, 8).

Im Alter von ungefähr 21 Jahren ehelichte die Beschwerdeführerin ihren nunmehrigen Ehemann XXXX (W107 2192657-1), lebte mit diesem und seiner Familie im Iran, in XXXX , und zog nach etwa einem Jahr mit diesem nach Afghanistan, in die Provinz XXXX , Stadt XXXX , XXXX , wo sie gemeinsam acht Jahre bis zu ihrer Ausreise via Iran lebten. Die Ehe wurde nach traditionellem Ritus geschlossen. Dieser Ehe entstammen die in Afghanistan geborene mj. Tochter XXXX (W107 2192653-1) und der in Afghanistan geborene mj. Sohn XXXX (W107 2192652-1).

Die Beschwerdeführerin reiste im Jahr 2015 gemeinsam mit ihrem Ehemann und den beiden Kindern illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo sie am 24.12.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Die Beschwerdeführerin lebt seit ihrer Einreise durchgehend in Österreich zusammen mit ihrem Ehemann und den beiden mj. Kindern im gemeinsamen Haushalt; seit März 2019 wohnt die Familie in einer selbstfinanzierten drei-Zimmer Mietwohnung in einer Gemeinde in XXXX

.

Die Beschwerdeführerin absolvierte erfolgreich Deutschprüfungen bis zum Niveau B1 und möchte auch den B2-Sprachkurs besuchen. Sie spricht bereits sehr gut Deutsch und konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung problemlos in deutscher Sprache und fließend über ihren Tagesablauf in Österreich und die Aktivitäten mit ihren Kindern berichten.

Die Beschwerdeführerin ist eine selbstbewusste, aufgeschlossene Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie hat spätestens seit ihrer Einreise nach Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist. Sie hat sich vom traditionalistischen Rollenbild ihres Herkunftsstaats abgewendet und lebt in Österreich ein freies und selbstbestimmtes Leben nach westlichen Werten.

In Österreich kleidet, frisiert und schminkt sich die Beschwerdeführerin aus starker innerer Überzeugung nach westlicher Mode. Sie hat das Kopftuch bereits vor drei Jahren abgelegt und steht vollends hinter dieser Entscheidung. Die Beschwerdeführerin organisiert ihren Alltag in Österreich selbstständig und ist nicht auf die Unterstützung ihres Ehemannes angewiesen. Sie fährt alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, geht alleine Einkaufen und erledigt Arztbesuch selbständig. Sie kommuniziert offen und ohne Scheu mit ihren Mitmenschen. Sie hat aufgrund ihrer aufgeschlossenen Persönlichkeit in Österreich bereits zahlreiche soziale Kontakte geknüpft (VP. S. 9).

Die Tochter der Beschwerdeführerin besucht derzeit die vierte Klasse Volksschule, ihr Sohn geht derzeit noch in eine Vorschule und wird im Herbst 2019 eingeschult. Ihre Kinder erzieht die Beschwerdeführerin bewusst nach westlichen Werten und wird hierbei von ihrem Ehemann in jeder Hinsicht unterstützt.

Die Beschwerdeführerin strebt nach beruflicher und finanzieller Eigenständigkeit. Sie arbeitet seit Juni 2018 täglich halbtags als ehrenamtliche Mitarbeiterin in einem Volkshilfeshop und ist dort zuständig für das Einsortieren der Waren. Sie stellt sich auch regelmäßig als Dolmetscherin im Kundengespräch zur Verfügung. Zudem leistet sie auf Basis von Dienstleistungsschecks mehrmals im Monat Reinigungsarbeiten in privaten Haushalten. Zukünftig möchte die Beschwerdeführerin als Frisörin tätig sein und finanzielle Selbsterhaltungsfähigkeit erlangen; sie hat sich bereits selbst aktiv über die dafür erforderlichen Voraussetzungen informiert (VP. S. 11).

Die Beschwerdeführerin befindet sich aufgrund depressiver Episoden in psychotherapeutischer Behandlung und nimmt hierfür Medikamente. Ansonsten ist sie gesund.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderberichte zur aktuellen Beurteilung der entscheidungswesentlichen Situation in Afghanistan wurden in das Verfahren eingeführt und der Beschwerdeführerin zur Kenntnis gebracht. Bezogen auf die Situation der Beschwerdeführerin sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018:

Frauen in Afghanistan:

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft (BFA Staatendokumentation 4.2018). Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 23.3.2016). Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Trotzdem gilt Afghanistan weiterhin als eines der gefährlichsten Länder für Frauen weltweit (AF 13.12.2017). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. AF 13.12.2017). Viel hat sich dennoch seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017). Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.49 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon

77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.).

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. LobeLog 15.11.2017). Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MENA FN 19.12.2017).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent (BFA Staatendokumentation 4.2018) und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht (BFA Staatendokumentation; vgl. IWPR 18.4.2017). Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WB 28.8.2017).

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WD 21.12.2017). Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind (BFA Staatendokumentation 4.2018). In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. YM 11.12.2017). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden (BFA Staatendokumentation; vgl. USAID 26.9.2017). In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019 (BFA Staatendokumentation; vgl. AKDN 26.7.2017). In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist und in deren Filiale sogar ein eigener Spielbereich für Kinder eingerichtet wurde (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. GABV 26.7.2017).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. NZZ 23.4.2017). Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. WD 21.12.2017). Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. NZZ 23.4.2017).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per

Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016).

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5.2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017).

EVAW-Gesetz

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5.2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).

Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen:

Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5.2018).

Frauenhäuser

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5.2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5.2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in

den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5.2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5.2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW- Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017).

Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5.2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5.2018; vgl. USDOS 3.3.2017).

Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).

Ehrenmorde

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 3.3.2017). Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Eherenmorde (AIHRC 11.3.2018; vgl. Tolonews 11.3.2018).

Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System (KP 23.3.2016).

Reisefreiheit

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen: Manchmal ist es der Vater, der seiner Tochter nicht erlaubt alleine zu reisen und manchmal ist es die Frau selbst, die nicht alleine reisen will. In vielen Firmen, öffentlichen Institutionen sowie NGOs ist die Meinung verbreitet, dass Frauen nicht alleine in die Distrikte reisen sollten und es daher besser sei einen Mann anzustellen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. So kann nach eigener Aussage eine NGO-Vertreterin selbst in unsichere Gegenden reisen, solange sie sich dabei an die örtlichen Gegebenheiten hält, also lokale Kleidungsvorschriften einhält (z. B. Tragen einer Burqa) und sie die lokale Sprache kennt (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen. In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab heute nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden. Andere Provinzen sind bei diesem Thema viel strenger. In Mazar-e Sharif könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, ganz auf den Hijab zu verzichten, ohne behelligt zu werden. Garantie besteht darauf natürlich keine (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Frauen in Afghanistan ist es zwar nicht verboten Auto zu fahren, dennoch tun dies nur wenige. In unzähligen afghanischen Städten und Dörfern, werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Viele Eltern unterstützen zwar grundsätzlich die Idee ihren Töchtern das Autofahren zu erlauben, haben jedoch Angst vor öffentlichen Repressalien. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind. In Kabul sowie in den Städten Mazar-e Sharif, Herat und Jalalabad gibt es einige Fahrschulen; in Kabul sogar mehr als 20 Stück. An ihnen sind sowohl Frauen als auch Männer eingeschrieben. In Kandahar zum Beispiel sind Frauen generell nur selten alleine außer Haus zu sehen - noch seltener als Lenkerin eines Fahrzeugs. Jene, die dennoch fahren, haben verschiedene Strategien um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Manche tragen dabei einen Niqab, um unerkannt zu bleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. HP 31.8.2017).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 5.2018).

1.2.2. Auszug aus den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Stand:

30.08.2018 (in deutscher Übersetzung):

Frauen mit bestimmten Profilen oder Frauen, die unter bestimmten Bedingungen leben:

Die Regierung hat seit 2001 eine Reihe von Schritten zur Verbesserung der Situation der Frauen im Land unternommen, darunter die Verabschiedung von Maßnahmen zur Stärkung der politischen Teilhabe der Frauen und die Schaffung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten. Allerdings stieß die Aufnahme internationaler Standards zum Schutz der Rechte der Frauen in die nationale Gesetzgebung immer wieder auf Widerstände. Das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen wurde 2009 durch Präsidialerlass verabschiedet, doch lehnten es konservative Parlamentsabgeordnete und andere konservative Aktivisten weiterhin ab. Das überarbeitete Strafgesetzbuch Afghanistans, das am 4. März 2017 mit Präsidialerlass verabschiedet wurde, enthielt ursprünglich alle Bestimmungen des Gesetzes über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen und stärkte die Definition des Begriffs Vergewaltigung. Jedoch wies Präsident Ghani das Justizministerium im August 2017 angesichts der Ablehnung durch die Konservativen an, das diesem Gesetz gewidmete Kapitel aus dem neuen Strafgesetzbuch zu entfernen. Das neue Strafgesetzbuch trat im Februar 2018 in Kraft, während in einem Präsidialerlass klargestellt wurde, dass das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen von 2009 als eigenes Gesetz weiterhin Geltung hat. Laut Berichten, halten sich die Verbesserungen in der Lage der Frauen und Mädchen insgesamt sehr in Grenzen. Laut der Asia Foundation erschweren "der begrenzte Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ungerechte Bestrafungen für ,Verbrechen gegen die Sittlichkeit', ungleiche Teilhabe an der Regierung, Zwangsverheiratung und Gewalt" nach wie vor das Leben der Frauen und Mädchen in Afghanistan. Depressionsraten aufgrund von häuslicher Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen nehmen Berichten zufolge unter afghanischen Frauen zu. Es wird berichtet, dass 80 Prozent der Selbstmorde in Afghanistan von Frauen begangen werden und sich manche von ihnen durch Selbstverbrennung das Leben nehmen.

Die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan (AIHRC) stellte fest, dass Gewalt gegen Frauen noch immer eine "weit verbreitete, allgemein übliche und unleugbare Realität" ist und dass Frauen in unsicheren Provinzen und im ländlichen Raum besonders gefährdet durch Gewalt und Missbrauch sind. Es wird berichtet, dass derartige Gewaltakte sehr oft straflos bleiben. Sexuelle Belästigung und die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleiben, so die Berichte, endemisch.

Für Frauen ist die vollständige Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Trotz einiger Fortschritte sind Frauen Berichten zufolge überproportional von Armut, Analphabetismus und schlechter Gesundheitsversorgung betroffen.

Beobachter berichten, dass Gesetze zum Schutz der Frauenrechte weiterhin nur langsam umgesetzt werden, vor allem was das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen betrifft. Das Gesetz stellt 22 gegen Frauen gerichtete gewalttätige Handlungen und schädliche traditionelle Bräuche, einschließlich Kinderheirat, Zwangsheirat sowie Vergewaltigung und häusliche Gewalt, unter Strafe und legt die Bestrafung der Täter fest. Den Behörden fehlt Berichten zufolge jedoch der Wille, das Gesetz umzusetzen. Dementsprechend werde es nicht vollständig angewendet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Frauen hätten nur in sehr geringem Maße Zugang zur Justiz. Die überwiegende Mehrheit der Fälle von gegen Frauen gerichteten Gewaltakten, einschließlich schwerer Verbrechen gegen Frauen, würden noch immer nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen geschlichtet, anstatt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. Berichten zufolge leiten sowohl die afghanische nationale Polizei (ANP) als auch die Staatsanwaltschaften sowie Einrichtungen gemäß dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen zahlreiche Fälle, auch schwere Verbrechen, an jirgas und shuras zum Zweck der Beratung oder Entscheidung weiter und unterminieren dadurch die Umsetzung dieses Gesetzes und fördern die Beibehaltung schädlicher traditioneller Bräuche. Durch Entscheidungen dieser Mechanismen sind Frauen und Mädchen der Gefahr weiterer Schikanen und Ausgrenzung ausgesetzt.

Das schiitische Personenstandsgesetz, das Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung und Erbrecht für Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft regelt, enthält mehrere für Frauen diskriminierende Bestimmungen, insbesondere in Bezug auf Vormundschaft, Erbschaft, Ehen von Minderjährigen und Beschränkungen der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses.

Während die in diesem Abschnitt beschriebenen Menschenrechtsprobleme Frauen und Mädchen im gesamten Land betreffen, gibt die Situation in Gebieten, die effektiv von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden, Anlass zu besonderer Sorge.

Regierungsfeindliche Kräfte schränken Berichten zufolge die Grundrechte von Frauen in diesen Gebieten weiterhin massiv ein, darunter ihr Recht auf Bewegungsfreiheit, politische Teilhabe, Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Bildung. Außerdem besteht in von regierungsfeindlichen Kräften kontrollierten Gebieten eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich den Frauen beim Zugang zur Justiz besondere Hindernisse entgegenstellen und dass ihnen keine wirksamen Rechtsmittel gegen die Verletzung ihrer Rechte zur Verfügung stehen. Die von regierungsfeindlichen Kräften in den von ihnen kontrollierten Gebieten betriebene Paralleljustiz verletzt Berichten zufolge regelmäßig die Rechte von Frauen.

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Afghanistan ist nach wie vor weit verbreitet: Die Zahl der angezeigten Fälle nimmt zu, doch die Dunkelziffer dürfte weit höher sein als die angezeigten Fälle. Im März 2018 bezeichnete die Unabhängige Menschenrechtskommission für Afghanistan Gewalt gegen Frauen als "eine der größten Herausforderungen im Bereich der Menschenrechte in Afghanistan". Dazu gehören "Ehrenmorde", Entführungen, Vergewaltigungen, sexuelle Belästigung, erzwungene Schwangerschaftsabbrüche und häusliche Gewalt.

Da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familie betrachtet werden, besteht für Opfer von Vergewaltigungen außerhalb der Ehe die Gefahr, geächtet, zur Abtreibung gezwungen, inhaftiert oder sogar getötet zu werden. Es wurde festgestellt, dass gesellschaftliche Tabus und die Angst vor Stigmatisierung und Vergeltungsmaßnahmen, einschließlich durch die eigene Gemeinschaft oder Familie, ausschlaggebend dafür sind, dass Überlebende von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt keine Anzeige erstatten.

Das neue Strafgesetzbuch Afghanistans, das im Februar 2018 in Kraft trat, stellt ohne die Zustimmung der Frau durchgeführte "Jungfräulichkeitstests" unter Strafe. Obwohl diese Praxis einen Straftatbestand darstellt, ist das "Jungfräulichkeitstesten" von Frauen, die des Ehebruchs beschuldigt werden oder Opfer sexueller Straftaten sind, einschließlich Vergewaltigung oder sexueller Nötigung, in Afghanistan Berichten zufolge nach wie vor weit verbreitet. Diese Praxis wurde als "sexuelle Nötigung und Folter" beschrieben. Das neue Strafgesetzbuch stellt auch Zina (Geschlechtsverkehr zwischen einem nicht verheirateten Paar) unter Strafe. Artikel 636 des neuen Strafgesetzbuches enthält auch eine "klarere und umfassendere Definition von Vergewaltigung, die nicht von Zina ausgeht".

Berichten zufolge bleiben für häusliche Gewalt oder Zwangsheirat verantwortliche Männer nahezu grundsätzlich ungestraft. Da Frauen außerdem in der Regel wirtschaftlich von den Gewalttätern abhängig sind, werden viele von ihnen faktisch davon abgehalten, Anklage zu erheben, und sie haben wenig andere Möglichkeiten, als weiterhin in von Missbrauch geprägten Situationen zu leben.

Der Zugang zur Justiz wird für Frauen, die Gewalttaten anzeigen möchten, zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass der Anteil der Frauen unter den Polizeikräften im Land nur bei etwas unter zwei Prozent liegt, da Polizistinnen weitgehend stigmatisiert werden. Berichten zufolge sind Polizistinnen selbst der Gefahr von sexueller Belästigung und von Übergriffen am Arbeitsplatz, unter anderem der Vergewaltigung durch männliche Kollegen, ausgesetzt. Sie seien außerdem durch gewalttätige Angriffe seitens regierungsfeindlicher Kräfte gefährdet.

Berichten zufolge besteht Straflosigkeit bei Handlungen von sexueller Gewalt auch deswegen weiter fort, weil es sich bei den mutmaßlichen Vergewaltigern in einigen Gebieten um mächtige Befehlshaber oder Mitglieder bewaffneter Truppen oder krimineller Banden handelt oder um Personen, die zu solchen Gruppen oder einflussreichen Personen Kontakt haben und von ihnen vor Inhaftierung und Strafverfolgung geschützt werden.

Schädliche traditionelle Bräuche

Schädliche traditionelle Bräuche sind in Afghanistan weiterhin weitverbreitet und kommen in unterschiedlichem Ausmaß landesweit sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gemeinschaften und in allen ethnischen Gruppen vor. Die schädlichen traditionellen Bräuche, die in diskriminierenden Ansichten zur Rolle und Position der Frauen in der afghanischen Gesellschaft wurzeln, betreffen in unverhältnismäßig hohem Maße Frauen und Mädchen. Zu diesen Bräuchen gehören unterschiedliche Formen der Zwangsheirat, einschließlich Kinderheirat, Hausarrest und Ehrenmorde. Zu den Formen der Zwangsheirat in Afghanistan gehören:

(i) "Verkaufsheirat", bei der Frauen und Mädchen gegen eine bestimmte Summe an Geld oder Waren oder zur Begleichung von Schulden der Familie verkauft werden,

(ii) (baad, eine Methode der Streitbeilegung gemäß Stammestraditionen, bei der die Familie der "Angreifer" der Familie, der Unrecht getan wurde, ein Mädchen anbietet, zum Beispiel zur Begleichung einer Blutschuld,

(iii) baadal, eine Vereinbarung zwischen zwei Familien, ihre Töchter durch Heirat "auszutauschen", oft um Hochzeitskosten zu sparen,

(iv) Zwangsverheiratung von Witwen mit einem Mann aus der Familie des verstorbenen Ehemanns.

Wirtschaftliche Unsicherheit und der andauernde Konflikt sowie damit verbundene Vertreibung, Verlust von Eigentum und Verarmung der Familien sind Gründe, warum das Problem der Kinder- und Zwangsheirat fortbesteht, da diese oftmals als die einzige Überlebensmöglichkeit für das Mädchen und seine Familie angesehen wird.

Nach dem Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen stellen einige schädliche traditionelle Bräuche einschließlich des Kaufs und Verkaufs von Frauen zu Heiratszwecken, die Benutzung von Frauen als Mittel zur Streitbeilegung nach dem "baad"-Brauch sowie Kinder- und Zwangsheirat Straftatbestände dar.

Frauen und Männer, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen:

Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören strenge Kleidungsvorschriften sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer, wie etwa Witwen und geschiedene Frauen, sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Lebensgrundlagen, sind sie kaum in der Lage zu überleben.

Bestrafungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia treffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, etwa Inhaftierung aufgrund von "Verstößen gegen die Sittlichkeit" wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, und "Weglaufen von zu Hause" (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Einem beträchtlichen Teil der in Afghanistan inhaftierten Mädchen und Frauen wurden "Verstöße gegen die Sittlichkeit" zur Last gelegt. Es wird berichtet, dass weibliche Inhaftierte oft Tätlichkeiten sowie sexueller Belästigung und Missbrauch ausgesetzt sind. Da Anklagen aufgrund von Ehebruch und anderen "Verstößen gegen die Sittlichkeit" Anlass zu Gewalt oder Ehrenmorden geben können, versuchen die Behörden Berichten zufolge in einigen Fällen, die Inhaftierung von Frauen als Schutzmaßnahmen zu rechtfertigen.

Männer, die vermeintlich gegen vorherrschende Gebräuche verstoßen, können ebenfalls einem Misshandlungsrisiko ausgesetzt sein, insbesondere in Fällen von mutmaßlichem Ehebruch und außerehelichen sexuellen Beziehungen.

In Gebieten, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle der Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, besteht für Frauen und Männer, die unmoralischer Verhaltensweisen bezichtigt werden, das Risiko, über die parallelen Justizstrukturen dieser regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) zu harten Strafen, einschließlich zu Auspeitschung und zum Tod, verurteilt zu werden.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführerin gründen auf deren Angaben im Verfahren und gelten mangels Vorlage unbedenklicher Identitätsnachweise ausschließlich für die Identifizierung ihrer Person im Asylverfahren. Diese Angaben wurden zudem bereits dem angefochtenen Bescheid zu Grunde gelegt und blieben unbeanstandet.

Die übrigen Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin, insbesondere zu ihrer Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie zu ihrer Muttersprache, ihrem Leben im Iran, ihrer Schulbildung und ihrer (mangelnden) Berufsausbildung sowie Berufserfahrung, ergeben sich aus den glaubwürdigen und konsistenten Aussagen der Beschwerdeführerin vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung. Es ergaben sich im gesamten Verfahren keinerlei Gründe, die Richtigkeit dieser Angaben in Zweifel zu ziehen. Selbiges gilt für die Feststellungen zur traditionell geschlossenen Ehe sowie zu ihrer Ausreise aus Afghanistan gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren beiden minderjährigen Kindern.

Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin in Österreich ergibt sich aus der eingeholten Strafregisterauskunft.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin gründen auf deren eigenen Angaben in Zusammenschau mit den im Verfahren vorgelegten ärztlichen Bestätigungsschreiben (Beilagen ./1 und ./2 zum VP).

Dass die Beschwerdeführerin in Österreich seit ihrer Einreise zusammen mit ihrem Ehemann und ihren zwei minderjährigen Kindern lebt und mit diesen seit März 2019 eine gemeinsame selbstfinanzierte Wohnung in XXXX bewohnt, ergibt sich aus den übereinstimmenden Aussagen der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes in der mündlichen Verhandlung, die durch den vorgelegten Mietvertrag (Beilage ./7 zum VP) zweifelsfrei bestätigt wurden.

Die Feststellungen zu den positiv absolvierten Deutschprüfungen der Beschwerdeführerin (bis zum Niveau B1) basieren auf den im Akt einliegenden ÖSD-Sprachzertifikaten (AS 123, 149). Die erkennende Richterin konnte sich im Zuge der mündlichen Verhandlung zudem selbst davon überzeugen, dass die Beschwerdeführerin die deutsche Sprache bereits sehr gut versteht und spricht. So war die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung stets versucht, die ihr in Deutsch gestellten Fragen ebenfalls in Deutsch zu beantworten und machte hierbei problemlos Ausführungen zu ihrem Leben in Österreich. Auch erklärte sie in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar, deshalb so gut Deutsch zu sprechen, weil sie sehr viel Kontakt mit österreichischen Leuten habe und sehr fleißig in den Kursen gelernt habe (VP, S. 10). Zudem bestätigten auch die vorgelegten Empfehlungsschreiben die bereits weit fortgeschrittenen Sprachfähigkeiten der Beschwerdeführerin.

Die Feststellungen zu den Tätigkeiten der Beschwerdeführerin in Österreich als ehrenamtliche Mitarbeiterin in einem Sozialmarkt und als private Reinigungskraft gründen auf den Aussagen der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung mit den vorgelegten Bestätigungsschreiben (Beilagenkonvolut ./5 zum VP).

Die Feststellungen zur Beschwerdeführerin als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frau, die eine Lebensweise angenommen und verinnerlicht hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt, ergeben sich aus den absolu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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