Entscheidungsdatum
08.04.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W250 2147916-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.01.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 09.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 10.11.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass sein Leben durch die Taliban in Gefahr gewesen sei und er die Schule nicht habe besuchen dürfen. Aus Angst um sein Leben habe er Afghanistan verlassen.
3. Am 28.10.2016 fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge: Bundesamt) statt, bei der der Beschwerdeführer im Wesentlichen angab, zweimal von den Taliban aufgefordert worden zu sein, sich ihnen anzuschließen. Der Beschwerdeführer habe seinem Vater davon berichtet, woraufhin dieser nach der zweiten Aufforderung durch die Taliban die Ausreise des Beschwerdeführers organisiert habe. Nach der Ausreise des Beschwerdeführers hätten die Taliban zuhause nach dem Beschwerdeführer gesucht und dem Vater des Beschwerdeführers einen Drohbrief übergeben. Der Beschwerdeführer legte den Drohbrief in Kopie vor.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 12.01.2017 wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm jedoch gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt II.) und erteilte dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung bis zum 13.01.2018 (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen bezüglich der Taliban zwar glaubhaft gemacht habe, er jedoch keine konkret gegen seine Person gerichtete staatliche bzw. quasi-staatliche Verfolgung aus asylrelevanten Gründen geltend gemacht habe. Aus seinen glaubhaften Angaben und der Vorortrechere durch das Bundesamt, sei davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer unmenschlichen Behandlung durch die Taliban ausgesetzt sei, weshalb ihm subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen sei.
5. Der Beschwerdeführer erhob gegen Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass das Bundesamt das Fluchtvorbringen und die Angst des Beschwerdeführers von den Taliban zwangsrekrutiert zu werden im Zusammenschau mit den Länderberichten als glaubhaft erachte. Aufgrund der falschen Rechtsmeinung, dass die Drohung einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban nicht asylrelevant sei, sondern lediglich eine Verletzung seines Grundrechts gem. Art. 3 EMRK darstelle, sei ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt worden. Entgegen der Ansicht des Bundesamtes liege für die Asylgewährung eine erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund vor, da der Grund für die Verfolgung des Beschwerdeführers - der sich weigere sich den Taliban anzuschließen - in der ihm von den Taliban zugeschriebenen oppositionellen politischen bzw. religiösen Gesinnung beruhe.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.03.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und im Beisein der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem Bundesamt übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben (AS 1, 72; Protokoll vom 13.03.2019 - OZ 9, S. 5 f).
Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Nangarhar, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und ist dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern (zwei jüngere Brüder, zwei Schwestern) aufgewachsen. Er hat acht Jahre lang die Schule in seinem Heimatdorf besucht (AS 1, 70, 73; OZ 9, S. 6).
Im Heimatdorf des Beschwerdeführers sind die Taliban aktiv.
Der Beschwerdeführer ist im Alter von 16 Jahren gemeinsam mit zwei Freunden ca. im April 2015 das erste Mal auf seinem Heimweg von der Schule von fünf Anhängern der Taliban aufgefordert worden sich ihnen anzuschließen. Die Taliban haben auch gesagt, dass die Burschen zunächst eine zweiwöchige Ausbildung erhalten werden und danach kämpfen können. Der Beschwerdeführer hat den Taliban mitgeteilt, dass er dies mit seinem Vater besprechen müsse. Eine Woche später ist der Beschwerdeführer auf seinem Schulweg wieder von fünf Angehörigen der Taliban aufgefordert worden, sich ihnen anzuschließen. Sie haben ihm diesmal damit gedroht, dass dies die letzte Aufforderung sei und für den Fall, dass er sich ihnen nicht anschließt, es für ihn gefährlich werden wird. Der Beschwerdeführer hat daraufhin seinem Vater von den Aufforderungen erzählt, woraufhin dieser die Ausreise des Beschwerdeführers über einen Schlepper organisiert hat. Vier Tage nach der zweiten Aufforderung durch die Taliban hat der Beschwerdeführer Afghanistan mittels Schlepper verlassen.
Nach der Ausreise des Beschwerdeführers haben die Taliban den Vater des Beschwerdeführers zuhause aufgesucht und nach dem Beschwerdeführer gefragt. Der Vater des Beschwerdeführers gab an nicht zu wissen wo sich sein Sohn aufhalte. Die Taliban sind nochmal zum Vater des Beschwerdeführers gegangen und haben diesem einen Drohbrief betreffend den Beschwerdeführer übergeben. Zudem wurde der Beschwerdeführer nach seiner Ausreise aus Afghanistan über seinen Facebook-Account bedroht.
Der Beschwerdeführer weiß nicht, wo sich sein 16-jähriger Bruder derzeit aufhält.
Da der Beschwerdeführer sich geweigert hat für die Taliban zu kämpfen und sich ihnen anzuschließen, droht dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in sein Heimatdorf Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage insbesondere im Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers (Provinz Nangarhar) ist weiters nicht damit zu rechnen, dass der afghanische Staat seine Bürger vor Bedrohungen und Übergriffen seitens der Taliban oder anderer bewaffneter Milizen ausreichend schützen kann. Der Beschwerdeführer wäre daher allfälligen Bedrohungs- und Verfolgungshandlungen seitens der Taliban schutzlos ausgeliefert.
Der Beschwerdeführer stellte am 09.11.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.2.1. Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundes-verwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 01.03.2019, wiedergegeben:
Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).
Zivilist/innen
Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 1.1.2009-31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 1.1.2018 - 31.3.2018 registriert die UNAMA
2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.4.2018).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.4.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:
das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).
Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).
Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).
Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).
Taliban
Die Taliban führten auch ihre Offensive "Mansouri" weiter; diese Offensive konzentrierte sich auf den Aufbau einer "Regierungsführung" der Taliban (Engl. "governance") bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Gewalt gegen die afghanische Regierung, die ANDSF und ausländische Streitkräfte. Nichtsdestotrotz erreichten die Taliban, die Hauptziele dieser "Kampfsaison" laut US-Verteidigungsministerium nicht (USDOD 12.2017). Operation Mansouri sollte eine Mischung aus konventioneller Kriegsführung, Guerilla-Angriffen und Selbstmordattentaten auf afghanische und ausländische Streitkräfte werden (Reuters 28.4.2017). Auch wollten sich die Taliban auf jene Gegenden konzentrieren, die vom Feind befreit worden waren (LWJ 28.4.2017). Laut NATO Mission Resolute Support kann das Scheitern der Taliban-Pläne für 2017 auf aggressive ANDSF-Operationen zurückgeführt, aber auch auf den Umstand, dass die Taliban den IS und die ANDSF gleichzeitig bekämpfen müssen (USDOD 12.2017).
Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans (SIGAR 30.4.2018). Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten (ODI 6.2018). Die Taliban halten auch weiterhin großes Territorium in den nördlichen und südlichen Gegenden der Provinz Helmand (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Die ANDSF haben, unterstützt durch US-amerikanische Truppen, in den ersten Monaten des Jahres 2018 an Boden gewonnen, wenngleich die Taliban nach wie vor die Hälfte der Provinz Helmand unter Kontrolle halten (JD News 12.3.2018; vgl. LWJ 20.4.2018). Helmand war lange Zeit ein Hauptschlachtfeld - insbesondere in der Gegend rund um den Distrikt Sangin, der als Kernstück des Taliban-Aufstands erachtet wird (JD News 12.3.2018; vgl. Reuters 30.3.2018). Die Taliban haben unerwarteten Druck aus ihrer eigenen Hochburg in Helmand erhalten: Parallel zu der Ende März 2018 abgehaltenen Friendens-Konferenz in Uzbekistan sind hunderte Menschen auf die Straße gegangen, haben eine Sitzblockade abgehalten und geschworen, einen langen Marsch in der von den Taliban kontrollierten Stadt Musa Qala abzuhalten, um die Friedensgespräche einzufordern. Unter den protestierenden Menschen befanden sich auch Frauen, die in dieser konservativen Region Afghanistans selten außer Hauses gesehen werden (NYT 27.3.2018).
KI vom 1.3.2019, Aktualisierung: Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2018 (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil. Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.8.2018 - 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63%) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37% zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. In der Provinz Kandahar entstand die Befürchtung, die Sicherheitsbedingungen könnten sich verschlechtern, nachdem der Polizeichef der Provinz und der Leiter des National Directorate for Security (NDS) im Oktober 2018 ermordet worden waren (UNGASC 7.12.2018). Gemäß dem Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) fanden bis Oktober 2018 die meisten Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen in den Provinzen Badghis, Farah, Faryab, Ghazni, Helmand, Kandahar, Uruzgan und Herat statt. Von Oktober bis Dezember 2018 verzeichneten Farah, Helmand und Faryab die höchste Anzahl regierungsfeindlicher Angriffe (SIGAR 30.1.2019).
Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).
Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independet Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).
Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).
Zivile Opfer
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer;
1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).
Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und
Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).
Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).
Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen
Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).
Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).
Nangarhar
Die Provinz Nangarhar liegt im Osten von Afghanistan. Im Norden grenzt sie an die Provinzen Kunar und Laghman, im Westen an die Hauptstadt Kabul und die Provinz Logar und an den Gebirgszug Spinghar im Süden (Pajhwok o.D.g). Die Provinzhauptstadt Jalalabad ist 120 Kilometer von Kabul entfernt (Xinhua 10.2.2017). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.573.973 geschätzt (CSO 4.2017).
Die Provinz Nangarhar besteht, neben der Hauptstadt Jalalabad aus folgenden Distrikten: Ghani Khil/Shinwar, Sherzad, Rodat, Kama, Surkhrod, Khogyani, Hisarak/Hesarak, Pachiragam/Pachir Wa Agam, DehBala/Deh Balah/Haska Mina, Acheen/Achin, Nazyan, Mohmand Dara/Muhmand Dara, Batikot, Kot, Goshta, Behsood/Behsud, Kuz Kunar/Kuzkunar, Dara-e Noor/Dara-e-Nur, Lalpora/Lalpur, Dur Baba/Durbaba und Chaparhar (UN OCHA 4.2014; vgl. EASO 12.2017).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
In den letzten Jahren hat sich die Sicherheitslage in der Provinz Nangarhar verschlechtert (Khaama Press 2.1.2018; vgl Reuters 14.5.2018); Nangahar war seit dem Sturz des Taliban-Regimes eine der relativ ruhigen Provinzen im Osten Afghanistans, jedoch versuchen bewaffnete Aufständische in den letzten Jahren ihre Aktivitäten in der Provinz auszuweiten (Khaama Press 11.3.2018; vgl. Khaama Press 4.3.2018, GT 22.1.2018). Begründet wird das damit, dass seit dem Fall des Talibanregimes von weniger Vorfällen berichtet worden war (Khaama Press 28.1.2018). In den letzten Jahren versuchen Aufständische der Taliban und des IS in abgelegenen Distrikten Fuß zu fassen (Khaama Press 11.3.2018; vgl. Khaama Press 4.3.2018, Khaama Press 3.2.2018, Khaama Press 5.10.2017, GT 22.1.2018, SD 22.2.2018). Befreiungsoperationen, in denen auch Luftangriffe gegen den IS getätigt werden, werden in den unruhigen Distrikten der Provinz durchgeführt (Pajhwok 16.3.2018; vgl. Khaama Press 14.1.2018a). Angriffe auch auf lokale Beamte und Sicherheitskräfte in der Provinz werden regelmäßig von Aufständischen der Taliban und dem IS durchgeführt (RFERL 12.3.2018).
Nangarhar war die Provinz mit den meisten im Jahr 2017 registrierten Anschlägen (Pajhwok 14.1.2018).
Im gesamten Jahr 2017 wurden in Nangarhar 862 zivile Opfer (344 getötete Zivilisten und 518 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 1% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen in Nangarhar
In der Provinz werden regelmäßig militärische Operationen ausgeführt (VoA 11.1.2018), um gewisse Distrikte von Aufständischen zu befreien (Khaama Press 4.3.2018; vgl. Khaama Press 3.2.2018, Khaama Press 14.1.2018, Khaama 7.1.2018, Khaama Press 13.5.2017). Ebenso werden Luftangriffe durchgeführt (ABNA 16.3.2018; vgl. Khaama Press 11.3.2018, GT 22.1.2018, Khaama Press 1.3.2018, Khaama Press 14.1.2018a, Khaama Press 2.1.2018); in manchen Fällen wurden Aufständische getötet (Tolonews 26.5.2018; vgl. Khaama Press 11.3.2018, SD 22.2.2018, Khaama Press 1.3.2018, Khaama Press 2.3.2018, Khaama Press 7.1.2018, Khaama Press 13.5.2017); darunter auch IS-Kämpfer (Tolonews 31.5.2018; vgl. ABNA 16.3.2018, GT 22.1.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in Nangarhar
Anhänger der Taliban, als auch des IS haben eine Präsenz in gewissen Distrikten der Provinz (Pajhwok 16.3.2018; vgl. Khaama Press 4.3.2018); zu diesen werden mehrere südliche Distrikte gezählt (VoA 11.1.2018). Nachdem die Grausamkeit des IS ihren Höhepunkt erreicht hat, sind die Taliban in Nangarhar beliebter geworden und haben an Einfluss gewonnen. Auch ist es dem IS nicht mehr so einfach möglich, Menschen zu rekrutieren (AN 6.3.2018).
Obwohl militärische Operationen durchgeführt werden, um Aktivitäten der Aufständischen zu unterbinden, sind die Taliban in einigen Distrikten der Provinz aktiv (Khaama Press 12.1.2018). In Nangarhar kämpfen die Taliban gegen den IS, um die Kontrolle über natürliche Minen und Territorium zu gewinnen; insbesondere in der Tora Bora Region, die dazu dient, Waren von und nach Pakistan zu schmuggeln (AN 6.3.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen Taliban und IS fanden statt, dabei ging es um Kontrolle von Territorium (UNGASC 27.2.2018). In einem Falle haben aufständische Taliban ihren ehemaligen Kommandanten getötet, da ihm Verbindungen zum IS nachgesagt wurden (Khaama Press 20.1.2018).
Seit dem Jahr 2014 tauchen immer mehr Berichte zu einem Anstieg von Aktivitäten des IS in manchen abgelegenen Teilen der Provinz - dazu zählt auch der Distrikt Achin (Pajhwok 16.3.2018; vgl. Khaama Press 14.1.2018, Khaama Press 20.1.2018). Der IS zeigte weiterhin große Widerstandsfähigkeit, wenngleich die afghanischen und internationalen Kräfte gemeinsame Operationen durchführten. Die Gruppierung führte mehrere Angriffe gegen die zivile Bevölkerung und militärische Ziele aus - insbesondere in Kabul und Nangarhar (UNGASC 27.2.2018).
Eine Anzahl Aufständischer der Taliban und des IS haben sich in der Provinz Nangarhar dem Friedensprozess angeschlossen (Khaama Press 5.10.2017; vgl. Khaama Press10.1.2018).
Im Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden in der Provinz Nangharhar IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen Zivilisten, Auseinandersetzungen mit den Streitkräften und Gewalt) gemeldet (ACLED 23.2.2018).
1.2.2. Auszug aus dem EASO (European Asylum Support Office) Informationsbericht über das Herkunftsland Afganistan - Rekrutierungstrategien der Taliban von Juli 2012 (Fußnoten seitens des Bundesverwaltungsgerichtes entfernt bzw. Rechtschreibfehler korrigiert):
"[...] 3. Die Rekrutierung von Kämpfern
3.1 Allgemeines
Bereits kurz nach dem Fall des Taliban-Regimes im Jahr 2001 begannen die Taliban mit ihrer Neuorganisation und der Rekrutierung neuer Truppen. Im Jahr 2002 konnten sie zahlreiche Freiwillige in afghanischen Flüchtlingscamps, Moscheen und Deobandi-Madrassas in der pakistanischen Provinz Belutschistan in der Umgebung der Stadt Quetta rekrutieren. In der Folgezeit kamen verschiedene Mechanismen der Rekrutierung zum Einsatz: Rekrutierung von Madrassa-Schülern in Pakistan und Afghanistan, lokale Rekrutierung durch Mullahs oder religiöse Netzwerke, Rekrutierung durch religiöse politische Parteien oder Gruppierungen, Rekrutierung in der Verwandtschaft oder in Gemeinschaften, Schulen und Universitäten. [...]
In der Regel erfolgen die Rekrutierungen innerhalb der lokalen Einsatzzellen. Die Taliban messen der familien-und klaninternen Loyalität, Stammesbindungen, persönlichen Freundschaften, sozialen und religiösen Netzen, Madrassas und Gemeinschaftsinteressen große Bedeutung bei. Mit einigen Ausnahmen rekrutieren Taliban-Kommandeure Kämpfer normalerweise aus ihrem eigenen Stamm. Zwar wurde die Stammesordnung durch den jahrelangen Konflikt geschwächt, sie ist jedoch nach wie vor tief in den paschtunischen Gemeinschaften verwurzelt, aus denen unverändert die meisten Taliban stammen.
Für Angriffe oder Attentate haben die Taliban junge Kämpfer engagiert, die in der Mehrzahl der Fälle außerhalb ihrer Heimatregionen zum Einsatz kamen, damit sie nicht von Einheimischen erkannt werden und sich ihre Angriffe nicht gegen Freunde und Familienangehörige richten konnten. Nach ihrem Einsatz kehrten sie wieder an den Heimatort zurück. Die Taliban griffen gerne auf diese Kämpfer zurück, um erfahrene Kämpfer nicht den Gefahren aussetzen zu müssen, die mit diesen Angriffen verbunden sind. Nach Angaben afghanischer Quellen vom April 2012 ändert sich diese Strategie. So setzen die Taliban die Mehrzahl der Kommandeure und Kämpfer jetzt in ihren Heimatregionen ("Lokalisierung") ein, da dies die Anhängerschaft aus den lokalen Gemeinschaften erhöht. Außerdem hat es den Vorteil des besseren Schutzes und der größeren Unterstützung, weil sie innerhalb des eigenen Stammes oder ihres Heimatdorfes agieren. Derselben Quelle zufolge werden ausländische Kämpfer pakistanischer, arabischer, tschetschenischer oder usbekischer Herkunft in der Regel lokalen Kommandeuren als Berater unterstellt oder - wenn es sich um eine größere Zahl handelt - sind ausschließlich in der pakistanischen Grenzregion aktiv, damit sie sich schnell in sichere Gebiete in Pakistan zurückziehen können.
Einige Verfasser, darunter Rashid und Giustozzi, unterteilen die Taliban-Kämpfer nach ihrer Motivation oder ihrem Bildungsstand. Zur ersten Gruppe gehört der ideologisch motivierte harte Kern von Kämpfern. Dazu zählen häufig Madrassa-Schüler oder Jugendliche, die vor Ort von Geistlichen rekrutiert wurden. In der zweiten Gruppe finden sich die Kämpfer, die nicht zu diesem harten Kern gehören. Sie stammen häufig aus der Region oder waren in einigen Fällen Angehörige von Milizen, die sich den Aufständischen aus unterschiedlichen Gründen angeschlossen haben, und sind nicht ausschließlich von ideologischen Motiven getrieben. Dieser zweiten Gruppe gehören auch Söldner und Teilzeitkämpfer an.
In "Thirty Years of Conflict: Drivers of Anti-Government Mobilisation in Afghanistan 1978-2011" unterscheiden Giustozzi und Ibrahimi zwischen der Mobilisierung von Gemeinschaften und von Einzelpersonen. Bei beiden Formen der Mobilisierung können verschiedene Motivationsgründe eine Rolle spielen. Nach Angaben einer Kontaktperson in Afghanistan bemühen sich die Taliban in der Hauptsache darum, Gemeinschaften für sich zu gewinnen, und weniger um die Rekrutierung von Einzelpersonen, obgleich auch deren Beteiligung immer willkommen ist. Die kollektive Rekrutierung erfolgt zudem über Führungspersönlichkeiten (Strongmen) oder Kommandeure, die sich von der Organisationsstärke der Taliban persönliche Vorteile erhoffen.
Im Verlauf der Sondierungsmission der dänischen Einwanderungsbehörde in Afghanistan vom 25. Februar bis 4. März 2012 haben die Zivilgesellschafts-und Menschenrechtsorganisation CSHRO sowie ein unabhängiges Forschungsinstitut darauf hingewiesen, dass sich die Taliban vermehrt um die Rekrutierung gut ausgebildeter Personen an den Universitäten und Schulen der großen Städte bemühen. Zur Ausweitung ihrer Kommunikations-und Propagandabemühungen benötigen sie mehr Personen, die lesen und schreiben können. Ferner erfordern neue und fortgeschrittenere Waffensysteme ein besseres Fachwissen, und es herrscht Bedarf an medizinischem Personal. Demzufolge sind die Taliban insbesondere an angehenden Ingenieuren und Medizinern interessiert. [...]
Zusammenfassung - Wirtschaftliche Faktoren
Geld ist ein entscheidender Faktor für die Rekrutierung. In einem Land, in dem viele junge Männer keine Arbeit finden und Armut weit verbreitet ist, übt das Angebot einer bezahlten Tätigkeit eine große Anziehungskraft aus. Ein Taliban-Kämpfer kann in einem Monat oder sogar in nur einer Woche mehrere Hundert Dollar verdienen.
Nach Angaben von Giustozzi und Ibrahimi stellt dies keinen langfristigen Anreiz dar. Sozialisierung und Indoktrinierung sind für die Taliban von entscheidender Bedeutung, um in ihren Reihen für Beständigkeit zu sorgen.
Neben direkten Zahlungen gibt es weitere wirtschaftliche Faktoren. Die Angst vor der Ausrottung des Opiumanbaus durch die Regierung oder die ausländischen Truppen ist ein Beispiel für einen wirtschaftlichen Beweggrund, die Aufständischen zu unterstützen. Ein weiteres Beispiel ist die Steuerbefreiung, die die Taliban Familien gewähren, die ihnen Kämpfer zur Verfügung stellen.
[...]
3.2.3 Persönliche Bedrohung, Einsatz von Gewalt und Zwang durch die Taliban
Nach Angaben von Sippi Azarbaijani-Moghaddam haben die Nordallianz und die Taliban im Jahr 2001 angesichts des Widerwillens in den kriegsmüden Gemeinschaften Zwangsrekrutierungen durchführen müssen.
Laut der oben genannten ICOS-Studie vom März 2010 gaben 34 % der in der Provinz Helmand Befragten an, dass die Taliban bei der Rekrutierung zu Zwangsmaßnahmen gegriffen hätten. Ein Informant von Landinfo hat darauf hingewiesen, dass die Taliban in Marjah in Helmand bei der Rekrutierung von Kämpfern unmittelbar Zwang ausgeübt hätten. Von einer lokalen Quelle in Helmand wurde der Einsatz von diktatorischen Mitteln und Zwangsmaßnahmen durch die Taliban bestätigt: "Wer sich widersetzt, wird der Spionage bezichtigt und als ‚Sklave der Ausländer' bezeichnet und bestraft oder getötet. Diesem Schicksal fielen Hunderte Stammesführer, Älteste und Häuptlinge im Südwesten des Landes zum Opfer. Außerdem zwingen sie die Menschen dazu, ihnen Verpflegung und Unterschlupf zu gewähren". Aus den Lagern für Binnenvertriebene in Helmand werden Zwangsrekrutierungen gemeldet.
Einem Bericht von RFE/RL vom Juni 2012 zufolge, der sich auf Aussagen von Murad, einem Angehörigen der Anti- Taliban-Miliz, stützt, schließen sich Familien in Kunduz den Taliban an, weil sie Angst um ihr Leben haben.
Nach Angaben einer Kontaktperson in Ostafghanistan zwingen die Taliban der Quetta Shura die Menschen in den Regionen unter ihrer Kontrolle, nach den Waffen zu greifen und sie in ihrem Kampf zu unterstützen. Sie suchen die Menschen in ihren Häusern auf und bezichtigen sie der Spionage. Außerdem verlangen sie hohe Geldstrafen, die sich die armen Dorfbewohner nie leisten könnten. Sie fordern die Bereitstellung von Waffen. Können die Menschen nicht zahlen oder keine Waffen bereitstellen, müssen sie sich den Kämpfern anschließen. Wer sich weigert, wird entweder aus der Region vertrieben oder als Spion bezeichnet und getötet. Bisweilen kommen die Taliban in Gruppen in die Moschee und fordern zehn bis 20 junge Männer, die sie in ihrem Dschihad unterstützen sollen. Es kommt auch vor, dass Jugendliche für Selbstmordanschläge rekrutiert werden. Nach Angaben der Kontaktperson erfolgt diese Form der Rekrutierung auf persönlicher Ebene. Die Taliban-Kommandeure vor Ort zeichnen für die Rekrutierung in ihrem Zuständigkeitsgebiet verantwortlich, werden dabei jedoch vom pakistanischen Geheimdienstnetz unterstützt. Nach Angaben von David Kilcullen ist es möglich, dass sich Taliban der zweiten Ebene den Aufständischen aus Angst vor Vergeltung anschließen.
Eine Kontaktperson in Chost hat darauf hingewiesen, dass sich aufständische Gruppen aus Afghanistan in Nordwasiristan und Kurram Agency in Pakistan aufhalten, wo sie problemlos aus den Reihen ihrer eigenen Stämme, darunter den Wasir und den Dawar, rekrutieren können. Ferner würden die Aufständischen in den von ihnen kontrollierten Gebieten Zwangsrekrutierungen vornehmen. Die Einheimischen wagen es nicht sich zu widersetzen, weil sie Angst um ihr Leben haben.
Aus Urusgan wird berichtet, dass die lokalen Kommandeure durch Taliban aus Pakistan ersetzt wurden. Dies hat sich 2008 in Gisab ereignet. Zwangsrekrutierungen, an denen ausländische Taliban aus Pakistan beteiligt waren, soll es in Urusgan gegeben haben. Junge Männer wurden unter Zwang eingezogen, und viele von ihnen sind später in Kämpfen gegen ausländische und Regierungstruppen ums Leben gekommen. Vor diesem Hintergrund ist die Unterstützung für die Taliban in den Provinzen geschrumpft. Nach Angaben von Martine Van Bijlert ist dies jedoch eher selten vorgekommen, und in der Regel war die Rekrutierung durch lokale Kommandeure, die sich dabei auf die Stammesloyalität gestützt haben, die wichtigste Unterstützungsquelle für die Taliban.
Reuter und Younus weisen darauf hin, dass Zwangsrekrutierungen für die Aufständischen in Andar in Ghazni keine Lösung gewesen seien, weil aufgrund von Rivalitäten zwischen den Gruppen zwangsläufig eine starke Loyalität innerhalb der Gruppen bestanden habe. Im April 2012 wurde von einer Kontaktperson vor Ort ausdrücklich bestätigt, dass die Taliban in Ghazni niemals Zwangsrekrutierungen von Kämpfern durchführen.
Im April 2012 machte ein Korrespondent in Logar folgende Angaben zu den Rekrutierungen durch die Taliban: "Sie haben vorrangig religiöse und weniger politische Argumente dafür vorgebracht. In Logar schließen sich die Menschen den Taliban-Truppen freiwillig an. Zwang oder andere Mittel kommen nicht zum Einsatz".
Nach Angaben von Ahmad Quraishi, Direktor des Afghan Journalists Center und Korrespondent bei den Pajhwok Afghan News, liegen keinerlei Berichte über Zwangsrekrutierungen in der Provinz Herat vor.
Eine Kontaktperson in Afghanistan hat im April 2012 darauf hingewiesen, dass hauptsächlich an die eigene Überzeugung und an die patriotischen oder religiösen Pflichten im Kampf gegen die "ausländischen Invasoren und die Marionettenregierung" appelliert und deutlich weniger Zwang ausgeübt wurde, gegenwärtig sogar noch weniger. Dieselbe Person gibt auch an, dass nur wenige Fälle bekannt geworden sind, in denen gegen Einzelpersonen, die der Rekrutierung hätten entgehen wollten, Gewalt ausgeübt wurde, und dass dies dem erklärten Eintreten der Taliban für Gerechtigkeit und verantwortungsvolles Verwalten widersprechen und die Unterstützung durch die Bevölkerung gefährden würde.
Giustozzi und Ibrahimi zufolge haben Taliban-Funktionäre angegeben, dass es ihnen lediglich in Flüchtlingscamps gelungen sei, Kämpfer unter Zwang zu rekrutieren. Die Familien seien gezwungen worden, ein männliches Mitglied zur Verfügung zu stellen. Giustozzi weist ausdrücklich darauf hin, dass Zwangsrekrutierung in diesem Konflikt bisher keine übergeordnete Bedeutung hatte. Die Aufständischen haben nur in geringem Maße darauf zurückgegriffen. Direkte Nötigung habe im Einflussbereich der Taliban lediglich stattgefunden, um Männer als Träger einzusetzen, so Giustozzi weiter. Seit 2006 hat es zudem in einigen Regionen Berichte über die Zwangsrekrutierung von medizinischem Personal zur Behandlung verwundeter Kämpfer der Taliban gegeben.
Landinfo hat im Rahmen einer Erkundungsmission in Kabul im Oktober 2011 Befragungen durchgeführt, aus denen ebenfalls hervorgeht, dass es bei den Rekrutierungen nur selten zu Zwang gekommen ist. Die Taliban würden über eine ausreichende Zahl freiwilliger Anhänger verfügen, so dass sie auf eine solche Strategie nicht zurückgreifen müssten. Allerdings könnte es Ausnahmen in Regionen geben, die sich unter vollständiger Kontrolle der Taliban befinden.
Im Verlauf der Sondierungsmission der dänischen Einwanderungsbehörde in Afghanistan vom 25. Februar bis 4. März 2012 ist die Unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission AIHRC zu dem Ergebnis gekommen, dass "keine Berichte über Zwangsrekrutierungen durch die Taliban vorliegen und dass sich die meisten Rekruten freiwillig angeschlossen haben". Die Organisation weist darauf hin, dass die Taliban zum Zwecke der Rekrutierung zu Einschüchterungen innerhalb der Volksgruppe der Hazara gegriffen hätten. Dabei habe es sich allerdings um Ausnahmefälle gehandelt. Im Bericht über die Sondierungsmission der dänischen Einwanderungsbehörde wird auf die Anmerkungen des UNHCR zur Rekrutierung durch die Taliban verwiesen:
"Der UNHCR bezog sich auf einen durchgesickerten Bericht der ISAF über den Zustand der Taliban vor dem Hintergrund eines Strategiewechsels der Taliban. Daraus geht hervor, dass die Taliban keine Schwierigkeiten haben, neue Kämpfer für ihre Truppen zu gewinnen. Es gebe zahlreiche Freiwillige, die bereit seien, sich ihrer Bewegung anzuschließen. In Dörfern könne es zur Anwerbung von Gruppen durch die Taliban mit Hilfe von Bildungsangeboten für die Söhne armer Familien und durch Gehirnwäsche kommen. Angesichts der Akzeptanz der Taliban in der lokalen Bevölkerung sei allerdings davon auszugehen, dass es nur selten zu Zwangsrekrutierungen kommt. Allerdings räumte der UNHCR ein, dass gegenwärtig keine ausreichenden Erkenntnisse zu dieser Frage vorliegen." Die Organisation "Cooperation for Peace and Unity" (CPAU) hat bestätigt, dass die Taliban keinen Anlass zur Zwangsrekrutierung hätten. Sie gibt an, dass sie ausschließlich in Notsituationen auf Zwangsrekrutierungen zurückgreifen würden. Weiter wird erklärt, die Taliban hätten Dörfer im Süden besucht, um Kämpfer zu rekrutieren, dabei hätten sie allerdings in der Regel keinen Zwang ausüben müssen, weil es genügend Freiwillige gegeben habe. Von der Zivilgesellschafts-und Menschenrechtsorganisation CSHRO wird ausgeführt, "die Taliban verfügen nicht über die Möglichkeit, Menschen in ihrem Zuhause anzusprechen und sie zu zwingen, sich ihnen anzuschließen." Im Verlauf der dänischen Sondierungsmission in Kabul wies ein unabhängiges Forschungsinstitut darauf hin, dass die Taliban in der Regel nicht durch Anwendung von Zwangsmaßnahmen rekrutieren. Allerdings könne es dazu kommen, dass die Taliban aus einem bestimmten Dorf eine gewisse Zahl von Kämpfern anfordern würden; sie würden allerdings niemals eine Familie direkt ansprechen.
Persönliche Bedrohung, Einsatz von Gewalt und Zwang durch die Taliban
In der Vergangenheit ist es in Afghanistan zu Zwangsrekrutierungen gekommen. Aus aktuellen Quellen (2010-2012) geht hervor, dass in Helmand Rekrutierungen unter untermittelbarem Druck durchgeführt worden sind, und zwar in Marjah und in Lagern für Binnenvertriebene. Ferner liegen aus Kunduz, Kunar und Gebieten in Pakistan, die sich unter der Kontrolle afghanischer Aufständischer befinden, Berichte vor, wonach die Menschen Furcht vor Vergeltung haben, wenn sie sich der Rekrutierung widersetzen.
In zwei Quellen wird auf den Einsatz von Zwang oder Einschüchterung zu Rekrutierungszwecken in Urusgan verwiesen. 2008 hätten ausländische Taliban-Kommandeure Gewalt eingesetzt. In einer weiteren Quelle wird darauf verwiesen, dass die Taliban für Rekrutierungen innerhalb einiger Hazara-Gruppen zum Mittel der Einschüchterung gegriffen haben. Aus beiden Quellen geht jedoch hervor, dass dies selten oder lediglich in Ausnahmefällen vorgekommen ist.
In anderen Quellen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in den Provinzen Ghazni, Herat und Logar bei der Rekrutierung weder Gewalt noch Zwang ausgeübt worden sind.
Aus Quellen zur allgemeinen Lage in Afghanistan geht in vielen Fällen hervor, dass Zwangsrekrutierungen selten vorkommen. Bisweilen wird auf Bereiche verwiesen, in denen dies anders ist:
Flüchtlingscamps und Regionen, in denen der Einfluss der Taliban sehr ausgeprägt ist. In einem Fall wird berichtet, dass die Taliban in von ihnen kontrollierten Regionen Träger und medizinisches Personal unter Zwang rekrutiert haben.
In einigen Quellen werden Argumente aufgeführt, die gegen eine Zwangsrekrutierung sprechen: Die Taliban wollen die Bevölkerung nicht gegen sich aufbringen und verfügen über eine ausreichende Zahl von Freiwilligen, so dass Zwang nicht notwendig ist.
3.2.4 Verwandtschaft, Stammesloyalität und -tradition
Bei der Rekrutierung durch die Taliban spielen familiäre Bindungen und Stammeszugehörigkeiten ebenfalls eine entscheidende Rolle. Eine Kontaktperson in Nordostafghanistan hat darauf hingewiesen, dass sich die Taliban- Führung den Einfluss von Personen in einflussreicher Position und von Stammesältesten, die in Pakistan leben, aber aus Baghlan stammen, zunutze macht. Die Taliban-Führer schicken diese Personen zurück nach Baghlan, damit sie unter ihren Stammesangehörigen um Unterstützung für die Taliban werben.
Das Haqqani-Netzwerk im Südosten Afghanistans ist ein Beispiel für eine Gruppe von Aufständischen, die sich stark auf Stammesbeziehungen stützt. Innerhalb des Stammes der Zadran werden unter den Mezi Qawm die meisten Kämpfer des harten Kerns rekrutiert. Die Stammesführer der Zadran sind häufig dazu verpflichtet, Quoten für die Bereitstellung von Kämpfern einzuhalten. Außerhalb der Zadran-Gebiete erfolgt die Rekrutierung in der Mehrzahl der Fälle über Bezahlung.
Es ist nicht unüblich, dass sich Stammesführer dazu entschließen, die Seiten zu wechseln, um die Aufständischen zu unterstützen. Aus Gründen der Stammesloyalität entsteht dann das Gefühl, sich als Kämpfer melden zu müssen. Diese Mobilisierung innerhalb einer Gemeinschaft kann eine Unterstützung in unterschiedlichen Ausprägungen zur Folge haben, darunter die Gewährleistung von Bewegungsfreiheit, die Gewährung von Unterschlupf und Verpflegung, die Bereitstellung von Informationen und Erkenntnissen bis hin zu der tatsächlichen Beteiligung an Kampfhandlungen. Zu den frühen Formen der Unterstützung durch Gemeinschaften gehörten häufig Bestrebungen, die Aufmerksamkeit der Regierung für ihr Anliegen zu gewinnen, nachdem diplomatische Bemühungen und Lobbyarbeit fehlgeschlagen waren. Bei der Mobilisierung von Gemeinschaften spielten darüber hinaus in Fällen, in denen die Behörden versagten, die Erlangung von Schutz vor Rivalen sowie die Schaffung eines Rechtsprechungssystems durch die Schattenregierung der Taliban eine entscheidende Rolle. Als weitere Gründe für die Mobilisierung in der Bevölkerung können Loyalität gegenüber dem alten Taliban-Regime, wirtschaftliche Anreize, Machtkämpfe mit Staatsbediensteten (häufig bedingt durch Korruption und diskriminierende Praktiken) oder Fehden mit anderen Gemeinschaften sowie Rachegefühle aufgrund willkürlicher Tötungen durch ausländische Truppen genannt werden.
In einigen Fällen kann es bei der Mobilisierung vorgekommen sein, dass Stammesführer sich weigernde Familien gezwungen haben, den Traditionen der paschtunischen Stämme folgend einen Mann im kampffähigen Alter für die Stammesarmee zu stellen (Laschkar). Bei Tod oder Verletzung müssen diese Kämpfer durch andere Familienmitglieder, beispielsweise einen Bruder, Sohn oder Neffen, ersetzt werden. Dieses System der "Einberufungen" wurde von den Taliban häufig genutzt, beispielsweise in der Provinz Kandahar. David Kilcullen nennt als Beispiel den Mahsud-Stamm im pakistanischen Wasiristan: Dort haben die Stammesführer beschlossen, dass aus jeder Familie zwei junge Männer zur Unterstützung der Taliban bei ihren Kampfhandlungen abgestellt werden.
Zusammenfassung - Verwandtschaft und Stammeszugehörigkeit
Stammeszugehörigkeiten oder verwandtschaftliche Beziehungen stellen einen Mechanismus für R