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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AsylG 2005 §54Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 2018, Zl. W228 2190419- 1/12E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: S Q, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:
Spruch
Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A. IV. und V. betreffend die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die Erteilung eines Aufenthaltstitels, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 27. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. Februar 2018 wurde der Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten, als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
4 Mit Erkenntnis vom 19. Dezember 2018 wies das BVwG diese Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III. des Bescheides gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 57 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkte A. I. bis III.). Hinsichtlich der Spruchpunkte IV., V. und VI. des Bescheides wurde der Beschwerde stattgegeben. Unter einem wurde die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 52 FPG in Verbindung mit § 9 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt (Spruchpunkt A. IV.) und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten erteilt (Spruchpunkt A. V.). Die ordentliche Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
5 Begründend führte das BVwG zur Person des Mitbeteiligten (unter anderem) aus, er sei ein der Volksgruppe der Tadschiken und dem sunnitischen Glauben zugehöriger Staatsangehöriger Afghanistans, der in der Provinz Kapisa geboren sei. Er habe keine Angehörigen in Afghanistan, seine Eltern, Geschwister, und mehrere Onkel und Tanten lebten im Iran. Der Mitbeteiligte sei im Jahr 2015 nach Österreich gekommen. Seit 7. Februar 2018 sei er als Tischlerlehrling in einem Tischlereibetrieb in Ausbildung, wofür eine Beschäftigungsbewilligung bestehe. Er habe mehrere Deutschkurse besucht, die Prüfung auf dem Niveau A1 abgelegt und verfüge über gute Sprachkenntnisse. Er spiele in einer Fußballmannschaft, sei ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Österreichischen Roten Kreuz, habe soziale Kontakte geknüpft und sei gut in die österreichische Gesellschaft integriert. Er sei strafrechtlich unbescholten.
6 In rechtlicher Hinsicht erwog das BVwG, dass unter Berücksichtigung der nachgenannten Aspekte im Rahmen einer Gesamtbetrachtung im konkreten Einzelfall die privaten Interessen des Mitbeteiligten am Verbleib im österreichischen Bundesgebiet und an der Fortführung seines bestehenden Privatlebens gegenüber den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesens überwiegen würden, weshalb sich eine Rückkehrentscheidung im Entscheidungszeitpunkt als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK erweise.
7 Das BVwG berücksichtigte in seiner Interessenabwägung die etwas mehr als dreijährige Aufenthaltsdauer des Mitbeteiligten, das Bemühen um umfassende Integration sowie den Umstand, dass dem Mitbeteiligten eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Tischler erteilt worden sei und er sich seit 7. Februar 2018 als Tischlerlehrling in Ausbildung befinde, wobei er aus dieser Tätigkeit künftig ein regelmäßiges Einkommen lukrieren werde. Zudem wertete es den vorhandenen Arbeitswillen, den der Mitbeteiligte unter anderem durch seine freiwillige Tätigkeit beim Roten Kreuz unter Beweis stelle, sowie die guten Deutschkenntnisse und die intensive Teilnahme am sozialen Leben in seinem Wohnumfeld zu dessen Gunsten und ging insgesamt von einem "ausreichenden Grad an Integration" aus.
8 Sodann führte das BVwG mit näherer Begründung aus, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen sei.
9 Gegen die Spruchpunkte A. IV. und V. des angefochtenen Erkenntnisses (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision.
10 Zur Zulässigkeit führt die Revision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aus, das BVwG habe dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen nicht die nach der hg. Rechtsprechung zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an einem geordneten Fremdenwesen. Dieses werde nur in Ausnahmefällen vom Interesse des Fremden an seinem Privatleben in Österreich überwogen. Eine derart außergewöhnliche Konstellation, dass trotz des erst etwa dreijährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten das öffentliche Interesse überwogen werde, liege im Revisionsfall jedoch nicht vor. Sämtliche vom BVwG herangezogenen Aspekte seien zudem dadurch gemindert, dass sie während eines unsicheren Aufenthaltsstatus entstanden seien.
11 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er beantragte, die außerordentliche Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise als unbegründet abzuweisen.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet. 14 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes
ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. etwa VwGH 4.3.2019, Ra 2018/14/0055; 28.2.2019, Ra 2019/18/0063; 29.5.2018, Ra 2018/20/0224, jeweils mwN).
15 Die in der vorliegenden Rechtssache durch das BVwG in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).
16 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:
17 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 5.12.2018, Ra 2018/20/0371; 8.11.2018, Ra 2016/22/0120, jeweils mwN).
18 Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 25.4.2018, Ra 2018/18/0187; 6.9.2017, Ra 2017/20/0209; 30.8.2017, Ra 2017/18/0070 bis 0072; 20.6.2017, Ra 2017/22/0037, jeweils mwN).
19 Es kann jedoch auch nicht gesagt werden, dass eine in drei Jahren erlangte Integration keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen "kann" und somit schon allein auf Grund eines Aufenthaltes von weniger als drei Jahren von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen gegenüber den privaten Interessen auszugehen wäre (vgl. etwa VwGH 28.1.2016, Ra 2015/21/0191, mwN).
20 Die vorliegende Amtsrevision zeigt jedoch zutreffend auf, dass im gegenständlichen Fall eine derart "außergewöhnliche Konstellation" - entgegen der Ansicht des BVwG - nicht vorliegt. Der Mitbeteiligte hält sich seit etwa dreieinhalb Jahren im Bundesgebiet auf. Selbst unter Berücksichtigung der umfassenden - der Art. 8 EMRK-Abwägung zugrunde gelegten - Integrationsbemühungen des Mitbeteiligten besteht allein dadurch noch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste.
21 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, mwN).
22 Den festgestellten privaten Interessen des Mitbeteiligten steht aber das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber. Dieses öffentliche Interesse wurde vom BVwG vor dem Hintergrund der geschilderten Leitlinien der Rechtsprechung fallbezogen letztlich nicht ausreichend gewichtet (vgl. auch VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003, wonach auch eine Lehre in einem Mangelberuf nicht bereits ihrerseits als besonderes öffentliches Interesse zu berücksichtigen ist).
23 Insgesamt bewegte sich das BVwG daher bei seiner Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK nicht innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Grundsätze.
24 Das angefochtene Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 10. April 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180049.L00Im RIS seit
25.06.2019Zuletzt aktualisiert am
25.06.2019