Entscheidungsdatum
15.05.2019Norm
MSG Vlbg 2010 §8 Abs3Text
Im Namen der Republik!
Erkenntnis
Das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg hat durch sein Mitglied Mag. Pathy über die Beschwerde der A S, R, vertreten durch RA Dr. Ingrid Neyer, Feldkirch, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft F vom 22.02.2019, Zl IV-, betreffend Mindestsicherung, zu Recht erkannt:
Gemäß § 28 Abs 1 und 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) wird der Beschwerde Folge gegeben und der angefochtene Bescheid so abgeändert, dass im Spruch die lit. c („100 % der erzielbaren und angemessenen Miete für das Wohnhaus“) ersatzlos entfällt.
Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG) eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof zulässig.
Begründung
Verfahrensgegenstand und angefochtener Bescheid
1. In diesem Verfahren geht es in erster Linie um die Frage, ob die Mindestsicherungsbehörde von einer Hilfsbedürftigen, die sich in einem Pflegeheim befindet, verlangen kann, ihr nunmehr leerstehendes Wohnhaus zu vermieten und die Mieteinnahmen dazu zu verwenden, um die Pflegeheimkosten (teilweise) abzudecken.
2. Die Beschwerdeführerin hat Mindestsicherung zur Übernahme der Unterkunfts- und Verpflegskosten in einem Pflegeheim beantragt.
Im angefochtenen Bescheid hat die Behörde Mindestsicherung gewährt. Der Spruch lautet (auszugsweise) wie folgt:
„Für Frau A S[…] werden die Unterkunfts- und Verpflegskosten im Sozialzentrum R[…] GmbH ab dem 04.02.2019 übernommen.
Frau A S[…] muss von den eigenen Einkünften einsetzen
a) 80 % der monatlichen Pension,
b) das Pflegegeld, soweit es 10 % der Stufe 3 übersteigt, sowie
c) 100% der erzielbaren und angemessenen Miete für das Wohnhaus
Rechtsgrundlage: […]“.
3. Die Behörde hat den Bescheid ua wie folgt begründet:
„Da Sie Besitzer der Liegenschaft mit der Einlagezahl […] sind, haben wir […] festgestellt, dass das Wohnhaus in seinem aktuellen Zustand vermietungsfähig ist. Die Erzielung eines Mieterlöses wäre ein vermögenrechtlicher Anspruch. Es wird vorerst noch eine Frist bis 30.09.2019, zur Umsetzung der Vermietung, gesetzt. Ab 01.10.2019 wird jedoch eine fiktive Miete als Eigenerlag eingefordert. Sollte das Wohnhaus vorher vermietet sein, ist der Mietvertrag umgehend vorzulegen, dann wird die tatsächliche Miete als Eigenerlag berücksichtigt. Sollte die Wohnung bis zu diesem Zeitpunkt nicht vermietet sein, wird von einer fiktiven Miete in Höhe von € 760,00 ausgegangen. Dabei handelt es sich jedenfalls um einen ortüblichen Preis für ein Wohnhaus mit 75 m² […].“
Beschwerde
4. Gegen diesen Bescheid hat die Beschwerdeführerin rechtzeitig Beschwerde erhoben. Darin bringt sie im Wesentlichen vor:
? Gemäß § 8 Abs 3 letzter Satz MSG sei bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht seien, das Vermögen nicht zu berücksichtigen. Die Liegenschaft der Beschwerdeführerin stelle einen Vermögenswert dar. Wenn die Behörde nunmehr eine Vermietung anordne, dann werde das Haus der Beschwerdeführerin und damit ein Vermögen berücksichtigt, was jedoch gerade von § 8 Abs 3 letzter Satz MSG untersagt werde. Der § 330a ASVG verbiete jeden Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommen Personen. Auch eine Vermietung sei als Vermögenszugriff anzusehen.
? Um das Haus vermieten zu können, müssten hohe Instandsetzungskosten aufgewendet werden, die jedoch weder von der Beschwerdeführerin noch von Verwandten finanziert werden könnten. Es sei unzutreffend, dass das Haus im aktuellen Zustand vermietungsfähig sei.
? Für die gegenständliche Wohnhauskategorie sei nur ein ortsüblicher Preis von EUR 7,00 angemessen.
? Die von der Behörde geforderte Vermietung würde jede andere Form der Nutzung verhindern. Dadurch würde die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Schutz vor einem gesetzwidrigen Eingriff in ihre Privatsphäre und in ihrem Recht auf Schutz ihres Eigentumsrechtes verletzt.
Die Beschwerdeführerin hat beantragt, den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass die Auflage, 100 % der erzielbaren und angemessenen Miete für das Wohnhaus einzusetzen, entfällt.
Sachverhalt
5. Die Beschwerdeführerin ist pflegebedürftig. Sie lebt seit Februar 2019 in einem Pflegeheim (einer stationären Pflegeeinrichtung). Die Unterkunfts- und Verpflegskosten betragen ca. 4.000 Euro im Monat.
Sie hat Mindestsicherung für die Übernahme dieser Kosten beantragt. Die Behörde hat diesen Antrag mit dem angefochtenen Bescheid erledigt.
6. Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin einer Liegenschaft (eines Wohnhauses). Sie hat bis zur Unterbringung im Pflegeheim in ihrem Haus gewohnt und wurde dort betreut.
Eine Vermietung des Hauses ist bislang nie erfolgt. Es steht derzeit leer.
7. Die Beschwerdeführerin bezieht eine Pension. Außerdem erhält sie Pflegegeld der Stufe 4 und bezieht 20 Euro jährlich aus der Verpachtung einer landwirtschaftlichen Fläche.
Erwägungen zur Feststellung des Sachverhalts
8. Dieser Sachverhalt wird auf Grund des Akteninhaltes als erwiesen angenommen. Er ist unstrittig.
Nähere Feststellungen zum Zustand des Wohnhauses, insbesondere ob es sanierungsbedürftig oder vermietbar ist, waren nicht erforderlich. Bei der hier vertretenen Rechtsmeinung, wonach die Behörde keine Vermietung verlangen darf, kommt es nicht darauf an, ob die Liegenschaft überhaupt vermietbar ist.
9. Von einer mündlichen Verhandlung konnte – obwohl von der Beschwerdeführerin beantragt – abgesehen werden. Bereits die Akten lassen erkennen, dass eine mündliche Erörterung keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten lässt. Weder Art 6 Abs 1 EMRK noch Art 47 GRC stehen dem Entfall entgegen, zumal lediglich eine Rechtsfrage zu klären war und der Beschwerde vollinhaltlich stattgegeben werden konnte (vgl. § 24 Abs 4 VwGVG). Die Behörde hat auf eine mündliche Verhandlung ausdrücklich verzichtet.
Maßgebliche Rechtsvorschriften
10. Das Gesetz über die Mindestsicherung (MSG), LGBl.Nr. 64/2010, in der Fassung LGBl.Nr. 39/2018, lautet auszugsweise:
„§ 5
Kernleistungen (Lebensunterhalt, Wohnbedarf, Schutz bei Krankheit, Schwangerschaft und Entbindung sowie Bestattungskosten)
[…]
(3) Bei Hilfsbedürftigen, die in einer stationären Einrichtung untergebracht sind, weil sie nur dort ihre Bedürfnisse nach Abs. 1 und 2 stillen können, umfassen der Lebensunterhalt und der Wohnbedarf jedenfalls auch den Aufwand für die dort anfallenden Unterkunfts- und Verpflegskosten.
[…]
[…]
§ 8
Form und Ausmaß der Mindestsicherung
(1) Mindestsicherung wird grundsätzlich in Form von Geldleistungen gewährt. […]; weiters kann eine Geldleistung an einen Hilfsbedürftigen, der nach § 5 Abs. 3 in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, durch Zahlung an den Rechtsträger der stationären Einrichtung erbracht werden. […] Das Ausmaß der Mindestsicherungsleistung ist im Einzelfall unter Berücksichtigung eines zumutbaren Einsatzes der eigenen Kräfte, insbesondere der eigenen Arbeitskraft, und Mittel zu bestimmen.
(2) Beim Einsatz der eigenen Kräfte ist auf die persönliche und familiäre Situation des Hilfsbedürftigen, insbesondere auf den Gesundheitszustand, das Lebensalter, die Arbeitsfähigkeit, die Zumutbarkeit einer Beschäftigung, die geordnete Erziehung der Kinder, die Führung eines Haushaltes und die Pflege von Angehörigen Bedacht zu nehmen.
(3) Die eigenen Mittel, wozu das gesamte Vermögen und Einkommen gehört, dürfen bei der Bemessung der Mindestsicherung insoweit nicht berücksichtigt werden, als dies mit der Aufgabe der Mindestsicherung unvereinbar wäre oder für den Hilfsbedürftigen oder dessen Angehörige eine besondere Härte bedeuten würde. Kleinere Einkommen und Vermögen, insbesondere solche, die der Berufsausübung dienen, sind nicht zu berücksichtigen. Bei der Gewährung von Sonderleistungen (Hilfe in besonderen Lebenslagen) ist überdies darauf Bedacht zu nehmen, dass eine angemessene Lebensführung und die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung nicht wesentlich erschwert werden. Bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, ist das Vermögen überhaupt nicht zu berücksichtigen.
[…]
(7) Die Landesregierung hat durch Verordnung nähere Vorschriften über die Arten, die Form und das Ausmaß der Mindestsicherung zu erlassen; weiters darüber, inwieweit das Vermögen und das Einkommen nicht zu berücksichtigen sind. Schließlich sind nähere Vorschriften über die Arten der in Betracht kommenden integrationsfördernden Maßnahmen sowie über die Inhalte der Integrationsvereinbarung zu treffen.
[…].“
11. Die Verordnung der Landesregierung über die Gewährung von Mindestsicherung (Mindestsicherungsverordnung - MSV), LGBl.Nr. 71/2010, in der Fassung LGBl.Nr. 22/2019, lautet auszugsweise:
„§ 9
Berücksichtigung von eigenen Mitteln sowie Leistungen Dritter
(1) Nach Maßgabe der Abs. 2 bis 6 sind bei der Ermittlung des Anspruchs auf Leistungen der Mindestsicherung
[…]
c) in einer stationären Pflegeeinrichtung die Einkünfte der hilfsbedürftigen Person sowie die ihr zur Verfügung stehenden Leistungen Dritter
zu berücksichtigen.
[…]
(4) Bei der Ermittlung des Anspruchs gemäß Abs. 1 dürfen Vermögen nicht berücksichtigt werden, wenn durch deren Verwertung eine Notlage erst ausgelöst, verlängert oder deren Überwindung gefährdet werden könnte. Dies gilt für
[…]
d) Ersparnisse bis zum Betrag von Euro 4.200 […],
[…]
h) einen Betrag bis Euro 10.000 im Rahmen der stationären Mindestsicherung; […],
i) Vermögen von Personen, die in einer stationären Pflegeeinrichtung untergebracht sind.
[…].“
12. Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) lautet auszugsweise:
„ABSCHNITT IIa
Verbot des Pflegeregresses
[BGBl. Nr. 189/1955 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 125/2017]
§ 330a. (Verfassungsbestimmung) Ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflege-einrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten ist unzulässig.
[…]
Weitere Schlussbestimmungen zu Art. 1 des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017
[BGBl. Nr. 189/1955 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 125/2017]
§ 707a. (1) […]
(2) (Verfassungsbestimmung) § 330a samt Überschrift in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017 tritt mit 1. Jänner 2018 in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt dürfen Ersatzansprüche nicht mehr geltend gemacht werden, laufende Verfahren sind einzustellen. Insoweit Landesgesetze dem entgegenstehen, treten die betreffenden Bestimmungen zu diesem Zeit-punkt außer Kraft. Nähere Bestimmungen über den Übergang zur neuen Rechtslage können bundesgesetzlich getroffen werden. Die Durchführungsverordnungen zu einem auf Grund die-ser Bestimmung ergehenden Bundesgesetz sind vom Bund zu erlassen.“
Rechtliche Beurteilung
13. Die Beschwerdeführerin erhält im angefochtenen Bescheid ab dem 04.02.2019 Mindestsicherung. Sie lebt seit diesem Zeitpunkt in einer stationären Pflegeeinrichtung.
Bei der Berechnung der Mindestsicherung hat die Behörde eine für die Vermietung eines Wohnhauses erzielbare Miete berücksichtigt (vgl. die lit c im Spruch des angefochtenen Bescheides). Die Behörde geht erkennbar davon aus, dass die Beschwerdeführerin derzeit keine Mieteinnahmen hat, dass sie aber verpflichtet ist, ihr Wohnhaus zu vermieten und die dabei erzielte Miete zur Abdeckung der Mindestsicherungskosten einzusetzen. Sollte sich die Beschwerdeführerin weigern, ihr Wohnhaus zu vermieten, dann wird die Behörde eine „erzielbare“, d.h. fiktive, Miete in angemessener Höhe bei der Berechnung der Mindestsicherung ansetzen.
14. Die Littera c des angefochtenen Bescheides ist daher nur dann rechtmäßig, wenn die Mindestsicherungsbehörde von einer hilfsbedürftigen Person verlangen darf, eine Liegenschaft zu vermieten.
Das Landesverwaltungsgericht ist der Meinung, dass ein solches Verlangen nicht zulässig ist und dem Verbot des Pflegeregresses widerspricht. Das begründet sich wie folgt:
15. Nach § 8 Abs 3 letzter Satz MSG ist bei Personen, die in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht sind, das Vermögen „überhaupt nicht zu berücksichtigen“.
Mit dieser Regelung wird „in Übereinstimmung mit den Änderungen des SV-ZG, BGBl. I Nr. 125/2017, [wird] klargestellt, dass das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen untergebrachten Personen, die Mindestsicherung beziehen, bei der Beurteilung der Hilfsbedürftigkeit bzw. bei der Bemessung der Mindestsicherung nicht berücksichtigt werden darf“ (vgl. Erläuterungen zur RV 119/2017).
16. Das MSG enthält keine Definition des Wortes „berücksichtigen“. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bedeutet „berücksichtigen“: etwas „beachten“, „nicht übergehen“, „in Betracht ziehen“, „in Rechnung stellen“ oder „in seine Überlegungen miteinbeziehen“ (vgl. Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1. Band 1980, Seite 621).
Die Behörde muss daher eine Liegenschaft „übergehen“, wenn sie die Hilfsbedürftigkeit beurteilt oder die Mindestsicherung bemisst. Sie darf die Liegenschaft nicht „in ihre Überlegungen miteinbeziehen“.
17. Wenn die Behörde fiktive Mieteinnahmen bei der Berechnung der Mindestsicherung ansetzt, dann wird die Liegenschaft – und damit ein Vermögen – berücksichtigt und in die Über-legungen der Behörde miteinbezogen. Gerade das verbietet der § 8 Abs 3 letzter Satz MSG.
18. Dieses Ergebnis wird auch durch den § 9 Abs 4 MSV bestätigt. Im § 9 Abs 4 lit a bis i MSV hat der Verordnungsgeber jenes Vermögen aufgezählt, das die Behörde nicht berück-sichtigen darf.
Im Einleitungssatz des § 9 Abs 4 MSV ist davon die Rede, dass Vermögen nicht berücksichtigt werden darf, wenn durch deren „Verwertung“ eine Notlage erst ausgelöst, verlängert oder deren Überwindung gefährdet werden könnte.
Der Zusammenhang mit den Einleitungssatz zeigt, dass der Verordnungsgeber im § 9 Abs 4 lit a bis i MSV jene Vermögenswerte aufgezählt hat, durch deren Verwertung eine Notlage erst ausgelöst etc. würde. Somit ist davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber diese aufgezählten Vermögenswerte für nicht verwertbar hält.
19. Etwas „verwerten“ bedeutet, etwas (noch für etwas) „verwenden“, „ausnützen“, „gebrauchen“, oder „einen Nutzen daraus ziehen“ (vgl Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörter-buch, 6. Band 1984, Seite 561).
Durch die Vermietung einer Liegenschaft wird sie gebraucht und es wird aus ihr ein Nutzen gezogen. Sie ist eine Form der Verwertung einer Liegenschaft und damit nicht zulässig.
20. Die Richtigkeit dieser Überlegung zeigt auch ein Vergleich mit § 9 Abs 4 lit d und h MSV. In diesen Bestimmungen werden „Freibeträge“ von 4.200 Euro (für die „offene“ Mindestsicherung) und von 20.000 Euro (für die stationäre Mindestsicherung) vorgesehen.
Die Behörde darf vom Mindestsicherungsempfänger nicht verlangen, dass er diese Geldbeträge in einer bestimmten Form veranlagt, um möglichst hohe Zinsen (d.h. Einkünfte) zu erzielen. Diese Geldbeträge sollen vielmehr der hilfsbedürftigen Person zur freien Verfügung stehen.
Dasselbe muss aber auch für das im § 9 Abs 4 lit i MSV „freigelassene“ Vermögen gelten. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Littera i im § 9 Abs 4 MSV in dieser Hinsicht anders auszulegen wäre als die Litterae d oder h des § 9 Abs 4 MSV.
21. Die Verpflichtung zur Vermietung ist ein weniger starker Eingriff als die Verpflichtung zur Veräußerung.
Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber oder der Verordnungsgeber bestimmte Formen der „Verwertung“ oder der „Berücksichtigung“ von Vermögen erlauben wollte.
Durch die Formulierung „überhaupt nicht“ im § 8 Abs 3 letzter Satz MSG bringt der Gesetz-geber zum Ausdruck, dass das Vermögen „ganz und gar nicht“ berücksichtigt werden darf. Jede Form der Berücksichtigung oder Verwertung ist unzulässig, also auch die Vermietung.
22. Dieses Auslegungsergebnis entspricht auch dem § 330a ASVG, der den „Zugriff auf das Vermögen“ von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen verbietet.
Die Vermietung setzt einen Zugriff auf die Wohnung voraus, weil durch die Vermietung andere Formen der Nutzung oder Verwertung der Wohnung verhindert werden. Eine Vermietung beinhaltet daher einen Zugriff auf die Wohnung.
Dieser Zugriff mag nicht so gravierend sein wie bei einer Veräußerung der Wohnung. Dem § 330a ASVG lässt sich aber nicht entnehmen, dass nur bestimmte Formen des Zugriffs verboten sind.
23. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es dem Landesgesetzgeber frei stünde, über das verfassungsgesetzlich Gebotene hinauszugehen. Der Landesgesetzgeber könnte bestimmte Formen des Zugriffs auf ein Vermögen (z.B die Vermietung) auch dann verbieten, wenn dieses Verbot nicht von der Verfassungsbestimmung des § 330a ASVG erfasst wäre.
24. Eine hilfsbedürftige Person ist verpflichtet, die eigenen Mittel in einem zumutbaren Ausmaß einzusetzen (vgl. § 8 Abs 1 letzter Satz MSG).
Dazu ist zunächst anzumerken, dass die Beschwerdeführerin keine Einkünfte aus der Vermietung des Wohnhauses bezieht.
Im Übrigen wird in der Mindestsicherungsverordnung näher konkretisiert, welches Vermögen eingesetzt werden muss und inwieweit es eingesetzt werden muss. Und im § 9 Abs 4 lit i MSV wird das Wohnhaus der Beschwerdeführerin zum „freigelassenen“ Vermögen erklärt, dessen Einsatz (Verwertung) nicht verlangt werden darf.
25. Im Übrigen ist folgendes anzumerken: In der Begründung des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerdeführerin eine Frist bis September 2019 eingeräumt, um das Wohnhaus zu vermieten. Erst danach wird die Behörde eine fiktive Miete als Eigenerlag einsetzen. Dies geht aber aus dem Spruch des angefochtenen Bescheides nicht hervor.
26. Die Littera c des angefochtenen Bescheides, wonach die Beschwerdeführerin 100 % der erzielbaren und angemessenen Miete für das Wohnhaus einzusetzen hat, muss daher ersatzlos aufgehoben werden.
Im Interesse der Rechtssicherheit wird die gesamte Littera c aufgehoben, und nicht nur die Wortfolge „erzielbar und angemessen“. Würde die Littera c lauten: „100 % der Miete für das Wohnhaus“, dann könnte aufgrund der Begründung des Bescheides immer noch zweifelhaft sein, ob eine tatsächlich erzielte Miete – die allenfalls als Einkommen zu berücksichtigen wäre – oder auch eine fiktive Miete gemeint ist.
Zulässigkeit der Revision
27. Die Revision ist zulässig, da im gegenständlichen Verfahren eine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art 133 Abs 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im konkreten Fall fehlt.
Soweit ersichtlich gibt es keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung des § 8 Abs 3 letzter Satz MSG und des § 9 Abs 4 lit i MSV und damit zur Frage, ob die Berücksichtigung von fiktiven Mieteinnahmen bei der Berechnung der Mindestsicherung zulässig ist. Dasselbe gilt für den damit zusammenhängenden § 330a ASVG, der den Zugriff auf das Vermögen verbietet.
Schlagworte
Pflegeregressverbot, fiktive MieteinnahmenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGVO:2019:LVwG.340.13.2019.R11Zuletzt aktualisiert am
23.05.2019