TE Bvwg Beschluss 2019/4/2 W208 2198888-1

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Veröffentlicht am 02.04.2019
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Entscheidungsdatum

02.04.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art.133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W208 2198888-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ewald SCHWARZINGER über die Beschwerde von XXXX , geboren: XXXX , Staatsangehörigkeit AFGHANISTAN, vertreten durch die CARITAS der Erzdiazöse WIEN, Mag. XXXX , gegen den Bescheid des BUNDESAMTES FÜR FREMDENWESEN UND ASYL, Regionaldirektion Wiener Neustadt vom 09.05.2018, Zahl: 1093917207/151717801 beschlossen:

A) In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid

behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverwiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) hat nach schlepperunterstützter und unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 07.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG) gestellt.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Befragung statt, bei der er in der Sprache Dari zum Fluchtweg und Fluchtgrund (Angabe des BF:

Verfolgung der Familie durch die Taliban, weil der Vater Polizist gewesen und vor ca. 7-8 Jahre getötet worden sei) befragt wurde. Verständigungsprobleme lagen nicht vor.

Bei dieser Einvernahme war ein Rechtsberater anwesend, weil der BF angegeben hatte erst 15 Jahre alt zu sein. Seine drei älteren Brüder ( Hu XXXX XXXX , R XXXX , und A XXXX ) befänden sich schon in Österreich.

In der Folge übernahm ein Onkel - der schon seit 2001 zuerst als Asylberechtigter und mittlerweile österr. Staatsbürger (C XXXX ]) in Österreich lebt - nach Beschluss des zuständigen Bezirksgerichtes die Obsorge des minderjährigen BF und bevollmächtigte die im Spruch genannte Rechtsberatungsorganisation mit der Vertretung (AS 39).

Im Zuge der Vorlage der Vollmacht (24.07.2017) wurde eine Stellungnahme des BF vorgelegt, der zusammengefasst zu entnehmen ist, dass der Vater des BF mit seinem Bruder C XXXX ( XXXX ) gegen die Taliban gekämpft und nach PAKISTAN habe flüchten müssen, weil beide direkt für den Tod eines Talibanführers (D XXXX ) verantwortlich gemacht worden seien. 2001 sei der Vater des BF wieder nach Afghanistan zurückgekehrt und habe bis etwa 2007 für die Geheimpolizei gearbeitet bis er von den Taliban identifiziert und getötet worden sei. Ein Bruder des BF (Hu XXXX ), sei von den Taliban verschleppt und bei einem Angriff der Polizei auf den Stützpunkt der Taliban frei gekommen, er sei zu einer Tante (der Schwester des Vaters) nach N XXXX geflüchtet. Der Sohn der Tante, der Cousin des BF (Y XXXX ), habe die Mutter des BF und seine Brüder in deren Heimatdorf zuerst bei Nachbarn versteckt und dann nach PAKISTAN gebracht. Alle Brüder des BF seien in Österreich und asylberechtigt bzw bereits österr. Staatsbürger, der Onkel C XXXX habe in den Verfahren der Brüder als Zeuge ausgesagt, ebenso wie im Verfahren des Cousins Y XXXX .

Vorgelegt wurden: Deutschkursbestätigungen, A2-Zertifikat und Anmeldebestätigungen für einen B1 und Pflichtschulabschluss-Lehrgang.

3. Bei der Einvernahme am 20.04.2018 gab der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und seiner Rechtsberaterin an, dass die bisherigen Angaben im Verfahren der Wahrheit entsprächen und machte nähere Ausführungen zu Herkunft und zu den Gründen seiner Flucht. Im Wesentlichen, dass er Hazara und Schiit, in GHAZNI, XXXX geboren und mit 7 oder 8 Jahren mit seiner Mutter, zwei Brüdern und einer Schwester nach QUETTA/PAKISTAN gegangen sei, weil sein Vater von den Taliban getötet worden sei und der Schwiegervater seines Bruders, der in PAKISTAN lebe, ihnen geholfen habe.

Die Taliban seien damals bei ihnen Zuhause gewesen, hätten nach dem Vater gesucht, die Mutter geschlagen, alle mit dem Umbringen bedroht sowie ua. Fotos und den Bruder mitgenommen. Er bestätigte und detaillierte die Angaben in der oa. Stellungnahme und gab abschließend sinngemäß an, trotz der Tatsache, dass er damals erst 5 Jahre alt gewesen sei, würden die Taliban ihn finden, weil sie auch in der Regierung ihre Spione hätten und ihre Feinde auch über Jahre hinweg verfolgen würden.

Verständigungsprobleme lagen laut Niederschrift auch bei dieser Befragung nicht vor.

An Unterlagen wurden Einvernahmeprotokolle der Brüder, des Onkels und des Cousins vorgelegt.

4. Das BFA hat mit dem im Spruch angeführten Bescheid den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status Asylberechtigter gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen. (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

Festgestellt wurde im Wesentlichen, dass der BF keine individuelle Gefährdungslage in Afghanistan glaubhaft machen habe können. Eine allgemeine Gefährdungslage liege zwar in der Heimatprovinz vor, der BF können aber seinen Lebensunterhalt in KABUL (innerstaatliche Fluchtalternative) bestreiten und habe noch verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte (eine Tante mütterlicherseits und einen Onkel väterlicherseits) in Afghanistan.

Beweiswürdigend wurde zum Fluchtgrund angeführt, dass die freie Erzählung keinen Hinweis auf eine direkt gegen den BF gerichtet Bedrohung erbracht habe, die damaligen Gründe für das Verlassen der Familie (Blutrache der Taliban) seien nicht mehr aktuell, weil bereits über 13 Jahre her bzw sei die Blutrache mit der Tötung des Vaters (dieser könne aber auch bei normalen Kampfhandlungen gestorben sein) beendet. Dass der BF nach der Tötung noch 3 Jahre unbehelligt in N XXXX bei der Tante väterlicherseits gelebt habe, zeige deutlich, dass die Taliban keinerlei Interesse mehr an ihm gehabt hätten. Das Vorbringen hinsichtlich der Fotos anhand derer die Taliban den BF identifizieren hätten können, sei nicht glaubhaft, weil dazu der Bruder (Vater hatte die Fotos eingesteckt), der Cousin (sprach ebenfalls von Fotos von ihm selbst) und der BF (Fotos aus dem Haus mitgenommen) bei ihren Einvernahmen unterschiedliche Angaben gemacht hätten. Der BF sei damals erst 5 Jahre alt gewesen und sei nicht plausibel, dass er sich nur mehr daran erinnern könne, dass die Taliban die Fotos mitgenommen hätten.

5. Gegen den am 14.05.2018 zugestellten Bescheid wurde von der gemäß § 52 Abs 1 BFA-VG dem BF zur Seite gestellten und im Spruch genannte Rechtsberatungsorganisation am 11.06.2018 beim BFA Beschwerde eingebracht.

6. Die gegenständliche Beschwerde und die bezughabenden Verwaltungsakten wurden dem BVwG am 21.06.2018 vom BFA vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

1. Feststellungen und Beweiswürdigung

1.1. Der Sachverhalt stellt sich bei einer Zusammenschau der im Akt schriftlich vorliegenden Aussagen der in Österreich aufhältigen Verwandten (3 Brüder, 1 Cousin, 1 Onkel) wie folgt dar:

Der BF ist ein aus Afghanistan, Provinz GHAZNI, Distrikt XXXX , stammender Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Schiit. Er ist 19 Jahre alt und der jüngste Sohn des XXXX XXXX (alias: XXXX ; im Folgenden: H), der 1997/1998 gemeinsam mit seinem Bruder dem Onkel des BF XXXX XXXX , geb. XXXX (alias: XXXX , alias: XXXX , im Folgenden C), der damals Vizekommandant der Hezb-e Wahdat unter der Führung von XXXX M XXXX war (der bereits 1992/93 von den Taliban getötet worden war) in seiner Heimatprovinz mit dem Großvater des BF gegen die Taliban gekämpft hat.

Im Laufe der Kampfhandlungen sollte ein verwundeter Talibankommandant namens D XXXX vom Vater des BF (H) und seinem Onkel (C) ins Krankenhaus gebracht werden, verstarb aber auf dem Weg. In der Folge wurde der Tod dem Vater des BF (der die Leiche zu bewachen hat) und dessen Onkel angelastet.

Nach einer Niederlage gegen die Taliban etwa ein Jahr später (1998) wurde der Vater des BF (H) und der Großvater von den Taliban festgenommen. Der Onkel C konnte nach PAKISTAN flüchten. Der Großvater wurde zwei Tage später getötet (Stellungnahme des XXXX [im Folgenden: A] vom 28.02.2008,) ein Umstand den nicht alle Familienmitglieder bei ihren Befragungen erwähnt haben. Der Vater des BF blieb vorerst verschollen, konnte aber entkommen (die genaueren Umstände bleiben im Dunkeln) und flüchtete danach in den IRAN, von wo er etwa drei Jahre später, also 2001 nach Afghanistan zurückkehrte, während der Onkel 2001 nach Österreich kam. (Aussage Zeuge C, 22.12.2014).

Der Vater des BF arbeitete in der Folge für die Geheimpolizei der Regierung KARZAI bis er nach rund "einem Jahr" (Aussage: XXXX vom 13.12.2011 [im Folgenden: HS], der vom C auch Zekrullah [!] genannt wurde [Zeugenaussage des C vom 29.03.2012]), enttarnt und von den Taliban getötet wurde (das wäre 2002!). Dazu widersprüchlich der C, der angab, der H habe von 2001 bis 2007 für die Geheimpolizei gearbeitet.

"Eine Woche nach der Ermordung des Onkels" der Bilder von seinen Söhnen bei sich gehabt habe (Aussage Cousin XXXX [im Folgenden: Y] vom 02.12.2014) - bzw (nach der dazu widersprüchliche Aussage des HS vom 13.12.2011) "eines Nachts als der Vater [gemeint: H] kurz für 2 Stunden in der Nacht Nachhause kam und mit seinem Sohn A einen Onkel mütterlicherseits besuchte", kamen die Taliban ins Elternhaus und wurde die Familie bedroht, der Bruder des BF (HS) von den Taliban entführt (und ein an der Wand hängendes Familienfoto des BF mitgenommen; Aussage BF beim BFA, 20.04.2018), aber schon am Tag danach von der Polizei bei einem Angriff auf die Taliban befreit und von der Polizei zur Familie des Y nach N XXXX (N) gebracht, die HS als Verwandte angab. Y verständigte dann im Auftrag seiner Eltern nach ca 2 Wochen die Familie des BF und holte sie nach N, wo sie bei Nachbarn untergebracht bzw versteckt wurden. Der Grund für diese zweiwöchige Wartezeit steht nicht fest und fällt auf, dass der Zeuge C (Aussage vom 29.04.2008) angab im August 2007 vom Tod des H erfahren zu haben.

Ein Bauer, der von Y ein Motorrad kaufen aber nicht zahlen wollte, verriet jedoch ca 5 Monate später den Taliban den Aufenthalt und wurde sodann der Vater des Y (C XXXX ) bei einem Überfall der Taliban auf dessen LKW verletzt und nach KABUL ins Krankenhaus gebracht. Während der Y seinen Vater im Krankenhaus besuchte, überfielen die Taliban die Mutter des Y und dessen Frau in N, erlangten so ein Bild des Y. Dies wurde dem Y telefonisch mitgeteilt (während sich dieser noch in KABUL befand) und veranlasste der Vater des Y, dass der Y nach PAKISTAN gebracht wurde, von wo er 2011 (Aussage des C vom 22.12.2014) nach Österreich ausreiste.

Danach brachte der Vater des Y den HS (der in der Zwischenzeit die Tochter des Nachbarn bei dem die Familie des BF in N untergekommen war, geheiratet hatte), dann seine restliche Familie und die des BF nach PAKISTAN (Aussage Y vom 02.12.2014, der seinen Asylantrag in Österreich am 29.10.2011 gestellt hat). In PAKISTAN/QUETTA arbeitete der HS ca 3 Jahre in einem Restaurant bis er auch dort von den Taliban gefunden wurde, 2 Tage bei einem Nachbarn des Restaurantbesitzers untergetaucht und dann nach Österreich flüchtete (Aussage des HS am 13.12.2011).

1.2. Entgegen der Angabe im Bescheid, wonach sämtliche relevante Aktenteile (speziell der Einvernahmen) der Asylakten der Familienmitglieder herangezogen worden seien, finden sich im Akt nur vier Zeugenaussagen des Onkels C vom vom 22.12.2014, vom 10.09.2013 (diese nur als Resümeeprotokoll), vom 29.03.2012 und vom 29.04.2008 von schlechter inhaltlicher Qualität. Diese enthalten in weiten Teilen Informationen aus zweiter Hand und keine eigenen Wahrnehmungen des Zeugen, der sich bereits seit 2001 in Österreich befindet. Seine eigene Aussage in seinem damaligen Asylverfahren ist nicht vorhanden und enthalten die Zeugenaussagen nur sehr oberflächliche Aussagen zu den eigenen Wahrnehmungen zur Festnahme und dem Tod des Vaters des BF durch die Taliban. Unklar ist auch, warum niemals kritisch hinterfragt wurde, wieso der Zeuge am 29.04.2008 seinen Neffen HS "Zekrullah" genannt hat bzw keiner der anderen Familienmitglieder die Ermordung des Großvaters des BF erwähnte.

Weiters findet sich eine "Stellungnahme" des Bruders des BF (A) vom 28.02.2008 und keine Niederschrift, obwohl seine authentische Aussage - da er es war, der mit seinem Vater einen Onkel (Welchen?) mütterlicherseits besuchte, während die Taliban die Familie des BF auf der Suche nach dem Vater diese Zuhause überfielen und den Bruder HS entführten - höchst relevant für die Glaubhaftigkeit der Aussage des BF ist, der damals erst 5 bzw 8 Jahre alt war.

Weiters findet sich die Niederschrift des Bruders des BF (HS) vom 13.12.2011 in dessen Asylverfahren, aus der sich die oben angeführten Widersprüche ergeben, auf deren Aufklärung durch die belangte Behörde jedoch durch zeugenschaftliche Einvernahme des HS nicht hingewirkt wurde.

Zuletzt findet sich die Niederschrift des Cousins des BF (Y) vom 02.12.2014 in dessen Asylverfahren, aus der sich ebenso Widersprüche zu den Aussagen des HS ergeben, dessen Einvernahme vom BF sogar beantragt wurde, der aber ebenso dazu nicht einvernommen wurde.

Die Niederschrift des dritten in Österreich aufhältigen Bruders R XXXX , aus der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls der Sachaufklärung dienliche Angaben ergeben, befindet sich nicht im Akt.

1.3. Es fehlt in der Begründung des Bescheides eine nachvollziehbare Übersicht über die jeweils von den Brüdern und des Cousins, angeführten Fluchtgründe, die - so lassen es die Datumsangaben der Einvernahmen vermuten - im Jahresabstand die Flucht aus PAKISTAN nach Österreich angetreten haben und warum diesen damals geglaubt wurde und nunmehr dem jüngsten Familienangehörigen nicht, obwohl dieser aufgrund seines damals geringen Alters, wohl am wenigsten von den relevanten Geschehnissen mitbekommen hat. Die belangte Behörde geht nur hinsichtlich der Fotos auf die teilweise unterschiedlichen Aussagen ein, ohne sich nachvollziehbar mit dem weiteren Vorhandensein oder Fehlen von Anhaltspunkten für die Glaubhaftigkeit einer Verfolgung über einen derart langen Zeitraum hinweg zu beschäftigen. Wie die Behörde angesichts der vorliegenden Aussagen darauf kommt, dass der BF nach der Tötung des Vaters noch über 3 Jahre in N unbehelligt gelebt habe, ist nicht nachvollziehbar, ist den oa Aussagen der Verwandten doch zu entnehmen, dass deren Aufenthalt bereits nach 5 Monaten verraten worden ist und sie sodann nach PAKISTAN gegangen sind.

1.4. Den (Länder-)Feststellungen der belangten Behörde ist auch nicht zu entnehmen, woher die belangte Behörde ihre Schlussfolgerung ableitet, dass eine Blutrache bzw wieder aktuelle Gefahr für - aufgrund der unterstellten Ermordung des Talibankommandanten durch den Vater des BF und dessen Onkel C - bei einer Rückkehr gerade für den BF nicht mehr bestünde, für die anderen aber - so lassen deren positive Asylbescheide vermuten - sehr wohl bestanden habe.

1.5. Soweit die belangte Behörde - im Falle der Wahrunterstellung der Fluchtgeschichte - auf das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative verweist, ignoriert sie die Tatsache, dass die Taliban aufgrund des korrupten Staatswesens in Afghanistan, dem Vorhandensein von Informanten (auch in Regierungsdienststellen) sowie der Notwendigkeit des BF seine Netzwerke bei einer Rückkehr zu aktivieren und dazu seine Identität preiszugeben, in der Lage sind, jeden über kurz oder lang zu finden, wenn sie das wollen.

Vgl etwa: "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne"; LANDINFO - 23.August 2017). Lt. diesen Informationen sind Kollaborateure und Auftragnehmer der afghanischen Regierung und sie unterstützende Ausländer auf der Abschussliste (schwarze Listen) der Taliban. Sie über auch Druck auf die Familienmitglieder aus, haben in einigen Fällen auch Verwandte hingerichtet und können ihre Ziele auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten heimsuchen bzw. besteht die Gefahr bei Straßensperren von den Taliban aufgegriffen zu werden. Die Taliban behaupten, über Personal am Flughafen in Kabul und viele andere Stellen zu verfügen und zu wissen, wer in das Land einreist. (Punkt 4.). Die Taliban würden alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen, genau beobachten, genauso wie Personen die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen (Punkt 5.).

1.6. Die belangte Behörde wird sich durch Befragung der bereits in Österreich befindlichen Verwandten des BF (die direkte Wahrnehmungen zu den relevanten Vorfällen hatten) und Einholung von einschlägigen und aktuellen Länderinformationen zuerst ein Bild davon zu machen haben, ob die Ermordung des Vaters des BF 2002 oder 2007 stattgefunden hat, ob es nach dessen Ermordung eine Entführung des Bruders des BF (HS) und Drohungen gegen die übrigen Familienmitglieder gab? Ob diese Drohungen der Grund für die Flucht von N nach PAKISTAN waren? Wie lange sich der BF und seine Familienmitglieder in N tatsächlich aufgehalten haben und ob es auch in PAKISTAN Drohungen gab, die nach und nach zur Ausreise der Brüder und des Cousins nach Österreich geführt haben? Ob aufgrund nachvollziehbarer Informationen zur Vorgangsweise der Taliban (in QUETTA/PAKISTAN und in Afghanistan) auch noch nach Jahren eine Gefahr bei einer Rückkehr des BF in eine sicher erreichbare Stadt in Afghanisten mit ausreichender Wahrscheinlichkeit besteht? Dies unter Berücksichtigung, dass die Taliban nunmehr zunehmend in den Friedensprozess eingebunden werden und eine Informationsweitergabe zwischen den verschiedenen Talibangruppen in PAKISTAN und Afghanistan erfolgt.

Um Absprachen zwischen den einzuvernehmenden Zeugen zu verhindern, wird zuerst eine parallele Befragung nach Analyse der Aussagen in den jeweiligen Asylverfahren erforderlich sein und sodann nach Zusammenführen der Ergebnisse allenfalls weitere Befragungen zu aufgetretenen Widersprüchen. Zum festgestellten Sachverhalt ist dem BF danach Parteiengehör zu gewähren, dieser zu vernehmen und seine Aussage vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen zu analysieren. Schließlich sind in der Begründung des neuen Bescheides für das BVwG nachvollziehbar die Überlegungen zur Glaubhaftigkeit der Angaben darzulegen.

2. Rechtliche Beurteilung:

2.1. Zulässigkeit und Verfahren

Die Beschwerde wurde gemäß § 7 Abs 4 VwGVG (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz) innerhalb der Frist von vier Wochen bei der belangten Behörde eingebracht (die in § 16 Abs 1 BFA-VG vorgesehene Frist von nur zwei Wochen wurde vom VfGH mit Erkenntnis vom 26.09.2017, G 134/2017 rückwirkend aufgehoben). Es liegen auch sonst keine Anhaltspunkte für eine Unzulässigkeit der Beschwerde vor. Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG entscheidet das BVwG in der Sache selbst. Gemäß § 6 BVwGG liegt Einzelrichterzuständigkeit vor.

Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, liegen die Voraussetzungen des Abs 2 nicht vor, in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Gemäß § 31 Abs 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Gemäß § 24 Abs 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG kann eine Verhandlung entfallen, wenn der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist. Letzteres ist hier der Fall.

Zu Spruchteil A)

2.2. Zur Zurückverweisung

2.2.1. § 28 Abs 3 2. Satz VwGVG bildet die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenen des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung der mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG (vgl VwGH 19.11.2009, 2008/07/0167: Tatsachenbereich; vgl, weiters VwGH 17.02.2015, Ra 2014/09/0037 ["dürftige" Bescheidbegründung allein rechtfertigt keine Zurückverweisung der Sache]; 26.04.2016, Ro 2015/03/0038; Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Auflage, Anm 11 zu § 28).

Der VwGH hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet, welche er seitdem in ständiger Rechtsprechung bestätigt hat (vgl. VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0019; 06.07.2016, Ra 2015/01/0123):

Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht komme nach dem Wortlaut des § 28 Abs 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststehe. Dies werde jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergebe.

Der Verfassungsgesetzgeber habe sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden hätten, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen sei.

Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stelle die nach § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis stehe diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlange das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck finde, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht würde. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen komme daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen habe, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt habe. Gleiches gelte, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen ließen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen habe, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen würden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht (vgl. VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063).

Ebenso hat der VfGH, zuletzt in seinem Erkenntnis vom 07.11.2008, U 67/08-9, ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhalts (vgl VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl VfSlg 13.302/1992 mwN, 14.421/1996, 15.743/2000).

2.2.2. Im vorliegenden Fall sind die seitens der Höchstgerichte gestellten Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren in qualifizierter Weise unterlassen worden, dies aus folgenden Erwägungen:

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde das Vorbringen des BF für unglaubwürdig befunden und eine in allen Spruchpunkten negative Entscheidung getroffen. Sie hat dabei verkannt, dass die Brüder des BF und ein Cousin mit der identen Fluchtgeschichte einen Asylstatus erhalten haben, obwohl diese auch erst Jahre nach dem Vorfall mit dem Vater des BF und der unterstellten Ermordung des Talibankommandanten ausgereist sind und zum Teil widersprüchliche Aussagen in deren Einvernahmen vorliegen.

Sie hat die Verwandten im Verfahren des BF nicht zu diesen Widersprüchen befragt und lediglich die Aussage des damals erst fünf bzw achtjährigen BF zugrunde gelegt.

Sie hat keine Länderfeststellungen zur Wahrscheinlichkeit/Unwahrscheinlichkeit einer über Jahre hinweg andauernden Verfolgung von Familienmitgliedern durch die Taliban bei einer Tötung eines ihrer Kommandanten durch ein Familienmitglied in Afghanistan und PAKISTAN getroffen.

Sie hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob es den Taliban möglich ist, bei entsprechendem Interesse an einer von ihnen gejagten Person, diese in den Städten die als innerstaatliche Fluchtalternative in Frage kommen, zu finden.

Zusammenfassend hat sie nur ansatzweise und unzureichend ermittelt.

2.3.3. Zur Zurückverweisung an die Behörde wird festgestellt, dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das BVwG nicht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, weil mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren ein erhöhter Aufwand verbunden ist und die Personalsituation des BVwG - im Gegensatz zum BFA, wo die Verfahren rückläufig sind - eine rasche Bearbeitung nicht zulässt. Aufgrund des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und der Vielzahl der einzuvernehmenden Personen - die alle ein massives Interesse am für den BF positiven Ausgang des Verfahrens haben - ist davon auszugehen, dass die Einvernahmen länger als einen Tag dauern würden, weil die Zeugin hintereinander einvernommen werden müssen und damit Absprachen möglich wären. Nur durch eine parallele Ersteinvernahme kann dies unterbunden werden, was das BVwG nicht leisten kann und sind auch die höheren Kosten (vgl § 26 VwGVG) in einem Verfahren vor dem BVwG im Vergleich zu einer Befragung bei der Behörde zu berücksichtigen. Weiters kann die Verwaltungsbehörde durch die bei ihr aufliegenden Asylakten der übrigen Familienmitglieder und den direkten Zugang zur Staatendokumentation wesentlich rascher und effizienter die notwendigen Ermittlungen nachholen.

Da der maßgebliche Sachverhalt aufgrund der Unterlassung notwendiger Ermittlungen seitens der belangten Behörde im gegenständlichen Fall noch nicht feststeht, hat das BVwG in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen und auch vor dem Hintergrund verwaltungsökonomischer Überlegungen und den Effizienzkriterien des § 39 Abs 2 AVG von dem ihm in § 28 Abs 3 2. Satz VwGVG eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurückverwiesen.

Im fortgesetzten Verfahren wird das BFA unter Wahrung des Grundsatzes des Parteiengehörs die dargestellten Ermittlungsmängel zu verbessern haben.

Zu Spruchteil B):

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Auf die oa Judikatur des VwGH wird hingewiesen.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde
Sachverhaltsfeststellung, Parteiengehör

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W208.2198888.1.00

Zuletzt aktualisiert am

23.05.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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