TE Bvwg Erkenntnis 2018/12/14 W172 2135862-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.12.2018
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Entscheidungsdatum

14.12.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W172 2135862-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX .1988, StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.09.2016, Zl. 1092111510-151609987 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.12.2017 und 07.03.2018 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: "Beschwerdeführer") stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX .2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 I.d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").

Am XXXX .2015 erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Wien.

2. Der Beschwerdeführer wurde am 27.07.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.

3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 09.09.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 I.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 I.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 I.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 23.09.2016 erhoben.

5. Am 04.12.2017 und 07.03.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden auch: "BVwG") eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

In der Verhandlung vom 07.03.2018 wurde ein mündliches Gutachten des in diesem Verfahren bestellten Sachverständigen zur Frage der politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in dessen Herkunftsstaat erstattet (s. weiter unten Pkt. II.1.2.).

Weiters wurden in diese Verhandlung Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan eingeführt (s. weiter unten Pkt. II.1.3.).

6. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte mit Schreiben vom 01.08.2018 dem Beschwerdeführer eine Verständigung vom Ergebnis seiner aktualisierten Beweisaufnahme zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan (s. weiter unter Pkt. II.1.3.).

7. Der Beschwerdeführer erstattete keine Stellungnahme.

8. In das Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich, zu:

-

Identität (Tazkira afghanische Dokumente wie Führerschein, Wahlkarte, Schulzeugnisse, Englischkursbestätigung, Mitgliedsausweis bei einer Fußballmannschaft);

-

Vorbringen zu den Flucht- bzw. Verfolgungsgründen (afghanisches Schreiben);

-

Deutschsprachkursen (Teilnahme und Zeugnis für Level A1);

-

gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten (Rotes Kreuz, Wohngemeinde);

-

Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten (Mitgliedschaft bei Fußballverein, Teilnahme an einem Fußballturnier) sowie

-

sonstigen Integrationsmaßnahmen und -bemühungen (s. Unterstützungsschreiben etc.);

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am XXXX .1988 in Ghazni in Afghanistan geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken sowie dem sunnitischen Glaubensbekenntnis an. Sein Familienstand ist verheiratet und er hat keine Kinder. Seine Muttersprache ist Dari. An Schulausbildung weist er den 12-jährigen Besuch einer Grundschule auf. Er hat keine Berufsausbildung. Er war beruflich zuletzt als Hilfsarbeiterin in einer Schneiderei tätig. In seinem Herkunftsstaat lebte er zuletzt in Ghazni bis zu seiner Ausreise im September 2015. An Familienangehörigen leben in Afghanistan noch seine Ehefrau, seine Eltern, ein volljähriger Bruder und zwei volljährige Schwestern. Ein weiterer volljähriger Bruder hält sich im Iran auf.

Der Beschwerdeführer weist keine (relevanten) gesundheitlichen Beschwerden auf. Er hält sich seit Oktober 2015 in Österreich auf und ist hier sowohl verwaltungsstrafrechtlich als auch strafgerichtlich unbescholten.

Das folgende Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinem Aufenthalt in Österreich im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 07.03.2018 wird nachfolgend in die Feststellungen aufgenommen (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG), wonach er seit 2 Jahren und 5 Monaten in Österreich lebe und in XXXX zusammen mit anderen Personen in einem Asylheim lebe. Eine Lebensgefährtin bzw. Freundin in Österreich habe er nicht. Auch würcen keine Verwandten von ihm in Österreich leben. An Kursen habe er den Deutschkurs A1 abgeschlossen. Derzeit besuche er den Deutschkurs A2 sowie einen weiteren Kurs über das Leben in Österreich. Er weise aber keine Teilnahme an Kursen für eine etwaige Berufsausbildung auf. An Beschäftigungen habe er für ca. einen Monat beim Roten Kreuz in XXXX , der Ort seiner früheren Unterkunft, gearbeitet gearbeitet. Außerdem habe ich für eine Firma in XXXX bei einem Flohmarkt für ein paar Tage gearbeitet. An Kontakten mit Österreichern würden solche bestehen, dass diese ihn anrufen würdeh, wenn er in einer Fußballmannschaft namens " XXXX " mitspiele. Er sei darüber hinaus nicht Mitglied von weiteren Vereinen.

Das darüber hinausgehende Vorbringen des Beschwerdeführers zu den Gründen, weshalb er Verfolgungshandlungen gegen ihn in Afghanistan im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat befürchte, wurde nicht in die Feststellungen aufgenommen.

1.2.1. Gutachten des Sachverständigen zur Frage der politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in dessen Herkunftsstaat im Rahmen der oben genannten mündlichen Verhandlung (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG; BF: Beschwerdeführer):

"Forschungsmethodik:

Forschung in XXXX , Gespräch meines Mitarbeiters mit der Mutter des BF und mit den Nachbarn der Familie des BF, Literaturstudium und telefonische Informationen aus Afghanistan. Zusätzlich habe ich auch mit der Mutter des BF gesprochen, nachdem mein Mitarbeiter ihre Telefonnummer mir übermittelt hat.

Das Vorbringen des BF im Wesentlichen:

Der BF gibt an, XXXX zu heißen. Er sei ein Tajdschike und Sunnit, er sei im Jahre 1988 in Ghazni geboren und habe 12 Klassen Schule besucht. Sein Vater heiße XXXX ) und er sei ein Oberlehrer gewesen und habe Mathematik und Dari unterrichtet. Er sei vor 6 Monaten verstorben.

Seine Brüder, Schwerstern, Mutter würden weiterhin in XXXX , im Zentrum der XXXX , im XXXX wohnen. Seine Brüder mit den Namen XXXX

(33) und XXXX (34) würden im XXXX bzw. in einem Hotel arbeiten. Beruflich habe er selber mit einem Geschäftspartner Motorräder verkauft. Er sei vor 1 1/2 Monaten (10/2015, Erstbefragung) aus Afghanistan ausgereist. Seine Schwestern würden sich in Ausbildung befinden und seine Wirtschaftslage sei in Afghanistan sehr gut gewesen sei. Der Großvater des BF habe (väterlicherseits) XXXX geheißen und sein Großvater mütterlicherseits XXXX .

Das Fluchtvorbringen des BF:

Der BF gibt an, beim Sicherheitsdienst bzw. bei der Armee sich beworben zu haben und aus diesem Grunde sei er von den Taliban verfolgt worden. Sein Interesse für Sicherheitsdienst habe sich daraus ergeben, weil sein Schwager für den Sicherheitsdienst gearbeitet hätte. Daraufhin hätten die Taliban von seiner Bewerbung gehört und ihn mit dem Tod gedroht. Aus diesem Grunde sei er in den Iran geflüchtet und anschließend nach Österreich. Im "Drohbrief der Taliban" ist von einer langjährigen Mitarbeit des BF mit den Feinden der Taliban die Rede, während der BF bei keiner seiner Befragungen von einer langjährigen Zusammenarbeit mit den Feinden bzw. mit der Regierung gesprochen hat.

Zum Vorbringen des BF:

Meine Mitarbeiter haben in Kabul, in XXXX und im XXXX ", Nachforschungen angestellt. Schließlich hat ein Mitarbeiter von mir das Haus der Familie der Person XXXX aufgesucht und mit seiner Mutter auch ein Gespräch zu den Angaben des BF geführt. Nachdem mein Mitarbeiter die Telefonnummer der Mutter von XXXX mir übermittelt hatte, habe ich auch mit der Mutter des BF persönlich gesprochen. Ausgehend von diesen Informationen möchte ich das Gutachten zu den Angaben des BF erstatten:

Zur Herkunfts- und Familienidentität von Herrn XXXX :

In XXXX war der Name des Herrn XXXX (Oberlehrer) XXXX bekannt und er war in einer Schule in XXXX Oberlehrer. Nach den Angaben seiner Frau hatte XXXX das zweijährige Lehrerausbildungsinstitut besucht, nachdem er seine Schule beendet hatte.

Mein Mitarbeiter hat von der Schulbehörde in Ghazni und von den Einwohnern des Viertels XXXX seinen Namen erfahren und auch in Erfahrung gebracht, dass Herr XXXX bis zu seinem Tode ein Oberlehrer gewesen war. Er ist vor ca. 8 Monaten eines natürlichen Todes verstorben, wie seine Frau am Telefon mir gesagt hat. XXXX hat mein Mitarbeiter von Personen, die die Familie des BF kannten, die Adresse der Frau und Söhne von XXXX bekommen und dorthin gefahren. Sie haben im Hause von XXXX nur seine Frau angetroffen und mit ihr ein Gespräch geführt. Das Viertel XXXX ist, nach der Mutter des BF, ca. 10-15 Minuten vom XXXX entfernt.

Sie hat meinem Mitarbeiter gegenüber und auch am Telefon mir gegenüber angeben, dass sie drei Söhne habe und ihr Mann, XXXX , vor 8 Monaten verstorben sei. Die Namen ihrer Söhne wären XXXX , XXXX und XXXX .

Ich habe am 03.02. 2018 von 11:20 bis 11:30 Uhr mit ihr telefonisch gesprochen und sie nach dem Verbleib ihrer Söhne gefragt. Sie hat angegeben, dass XXXX sich in Österreich (Utrish) befinden würde, XXXX sei vor 3 Monate in den Iran ausgewandert und er sei beruflich ein Schweißer und er sei als Freiberufler tätig gewesen. Ihr Sohn XXXX sei zu Hause in Ghazni und er sei ein Taugenichts. Sie hat nicht bestätigt, dass irgendein Sohn von ihr beim XXXX in XXXX tätig wäre.

Meine Mitarbeiter haben bei ihren Nachforschungen die Information erhalten, dass XXXX drogenabhängig und arbeitslos sei. Aber mein Mitarbeiter konnte ihn bei seiner Mutter nicht antreffen und seine Mutter wollte auch nicht angeben, wo er genau anzutreffen wäre.

Die Mutter des BF hat am Telefon mir erzählt, dass ihr Mann unter dem kommunistischen Regime den Militärdienst verweigert hätte und deshalb in den Iran geflüchtet sei. Nach sieben Jahren sei sie mit ihren Söhnen XXXX und XXXX ihrem Mann in den Iran nachgefolgt. Sie sei mit ihrem Mann und Kinder 12 Jahre im Iran gewesen, bis sie mit ihrem Mann wieder nach Afghanistan zurückgekehrt.

XXXX sei der jüngste Sohn von ihr und er sei im Iran geboren. Er habe aber die Schule in Ghazni beendet. Die Mutter des BF hat meinem Mitarbeiter gegenüber und auch mir am Telefon erzählt, dass ihre letzte Hoffnung XXXX sei und möchte das Gericht in Österreich bitten, dass ihr Sohn in Österreich Aufnahme findet damit er nicht wieder in Ghazni mit Schwierigkeiten konfrontiert werde und er sie finanzieren könne. Er sei ihre letzte Hoffnung, seitdem ihr Mann verstorben sei.

Zum Fluchtgrund:

Die Mutter des BF hat angegeben, dass sich ihr Sohn für den Staatssicherheitsdienst beworben habe. Nach der Aufnahme sei er schon am ersten Tag, bevor er seinen Dienst angetreten habe, von den Taliban bedroht worden, indem die Taliban ein Drohbrief vor der Tür ihres Hauses geworfen habe. Aus diesem Grunde sei er ins Ausland geflüchtet. Ihr Schwiegersohn sei auch beim Staatssicherheitsdienst gewesen und dieser sei aufgrund einer Verletzung zum Invaliden geworden und sei zu Hause. Ihre Tochter arbeite als Hebamme in XXXX . Die Nachbarn und die Sicherheitsbehörde wüssten nicht, dass XXXX , der Sohn von XXXX , sich jemals für die Sicherheitsdienste beworben und für diesen (Staatssicherheitsdienst oder Militär oder für die Polizei) gearbeitet hätte.

Schlussfolgerung:

Die Angaben des BF, dass er in Ghazni geboren sei, stehen im Widerspruch zu den Angaben seiner Mutter. Der BF gibt an, in Ghazni geboren und dort aufgewachsen zu sein, und seine Mutter gibt an, dass ihr Sohn XXXX im Iran geboren sei, nachdem sie ihrem Mann in den Iran gefolgt sei. Aber ihre Söhne XXXX und XXXX seien schon auf der Welt gewesen, als ihr Mann Afghanistan wegen Militärdienstverweigerung während der kommunistischen Herrschaft verlassen hätte.

Bezüglich Verfolgung des BF seitens der Taliban als er sich für den Sicherheitsdienst beworben habe:

Die Angestellten der afghanischen Sicherheitsdienste in den Provinzhauptstädten, z.B. in der XXXX , sind dann gefährdet, wenn die Taliban ein Amt oder ein Konvoi oder ein Politiker-Haus angreifen. Auch können sie bei einem Angriff der Taliban in dem Amt, in dem sie Dienst leisten, von den Taliban erschossen werden, wenn diese dieses Amt angreifen und wenn die Sicherheitskräfte ihnen im Weg stehen würden.

Wenn jemand ein Angestellter eines Sicherheitsamtes ist, ist er nicht zwangsläufig ein Angriffsziel der Taliban in einer von der Regierung kontrollierten Großstadt, sofern er bisher an keinem Angriff auf die Taliban beteiligt war und kein Mitglied der Taliban geschädigt hat.

Der BF hat seinen Angaben nach sich für den Sicherheitsdienst bzw. Militärdienst beworben und ist, gemäß seiner Mutter, gleich nach seinem Dienstantritt von den Taliban verfolgt worden und ist bald ins Ausland geflüchtet."

1.2.2. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):

"Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/1434081.html, Zugriff 4.6.2018

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018

-

AAN - Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan's Paradoxical Political Party System: A new AAN report, https://www.afghanistan-analysts.org/publication/aan-papers/outside-inside-afghanistans-paradoxical-political-party-system-2001-16/, Zugriff 28.5.2018

-

AAN - Afghanistan Analysts Network (12.4.2018): Afghanistan Election Conundrum (6): Another new date for elections, https://www.afghanistan-analysts.org/afghanistan-election-conundrum-6-another-new-date-for-elections/, Zugriff 16.4.2018

-

AAN - Afghanistan Analysts Network (25.11.2017): A Matter of Regisration: Factional tensions in Hezb-e Islami, https://www.afghanistan-analysts.org/a-matter-of-registration-factional-tensions-in-hezb-e-islami/, Zugriff 16.4.2018

-

AAN - Afghanistan Analysts Network (11.10.2017): Mehwar-e Mardom-e Afghanistan: New opposition group with an ambiguous link to Karzai, https://www.afghanistan-analysts.org/mehwar-e-mardom-e-afghanistan-new-opposition-group-with-an-ambiguous-link-to-karzai/, Zugriff 28.5.2018

-

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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