Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Dehn und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfgang Höfle und Peter Schleinbach als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei M***** K*****, vertreten durch Freimüller/Obereder/Pilz RechtsanwältInnen GmbH in Wien gegen die beklagte Partei D***** S*****, vertreten durch Mag. Jakob Hütthaler-Brandauer, Rechtsanwalt in Wien, wegen 1.989,29 EUR brutto sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. Dezember 2018, GZ 7 Ra 88/18i-13, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 15. Juni 2018, GZ 9 Cga 32/18t-9, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war vom 1. 9. 2014 bis 31. 12. 2017 als Elektrotechniker-Lehrling beim Beklagten beschäftigt. Vereinbart war eine Lehrzeit vom 1. 9. 2014 bis 28. 2. 2018. Auf das Lehrverhältnis war der Kollektivvertrag für Arbeiter im eisen- und metallverarbeitenden Gewerbe (kurz: KollV) anwendbar.
Der Kläger schloss die zweite Schulstufe der Berufsschule, deren Block am 13. 5. 2016 endete, zunächst infolge nicht genügender Leistungen nicht positiv ab und musste daher diese Schulstufe wiederholen. Erst am 12. 5. 2017 schloss er dann das zweite Berufsschuljahr positiv ab. Bei Beendigung des Lehrverhältnisses zum Beklagten am 31. 12. 2017 befand sich der Kläger im vierten Lehrjahr bzw in der dritten Schulstufe.
Der Beklagte zahlte dem Kläger für die Zeit von September 2015 (Beginn des zweiten Lehrjahres) bis Mai 2017 die nach dem KollV für das zweite Lehrjahr gebührende und ab 1. 6. 2017 bis zum Ende des Lehrverhältnisses am 31. 12. 2017 die für das dritte Lehrjahr gebührende Lehrlingsentschädigung.
Der Kläger begehrt vom Beklagten 1.989,29 EUR brutto sA an Differenz jener Lehrlingsentschädigung, die daraus resultiert, dass der Beklagte, obwohl der Kläger am 1. 9. 2017 in das vierte Lehrjahr eingetreten sei, weiterhin nur die Lehrlingsentschädigung für das dritte Lehrjahr (und nicht jene für das vierte Lehrjahr) bezahlt habe.
Der Beklagte bestritt das Klagebegehren und wandte ein, dass sich der Kläger bei Ende des Lehrverhältnisses zwar im vierten Lehrjahr, aber noch immer im dritten Berufsschuljahr befunden habe. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem das Berufsschuljahr wieder mit dem Lehrjahr korrespondiere, gebühre die Entlohnung für das entsprechende Lehrjahr.
Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren statt. Dadurch, dass der Kläger im dritten Lehrjahr den Aufstieg in die dritte Schulstufe erfolgreich nachgeholt habe, gebühre ihm ab der auf den erfolgreichen Prüfungsabschluss folgenden Lohnperiode wieder die der Dauer der Lehrzeit entsprechende Lehrlingsentschädigung. Seitdem der Kläger den Aufstieg geschafft habe, habe er sich wieder in den „normalen“ Entlohnungsverlauf „eingeklinkt“.
Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil der Auslegung der hier entscheidenden Kollektivvertragsbestimmung wegen des größeren Personenkreises der hiervon betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erhebliche Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zukommt.
Gegen die Berufungsentscheidung richtet sich die Revision des Beklagten, mit der die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Klageabweisung begehrt wird.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision des Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision des Beklagten ist zulässig (RS0042819; RS0109942); sie ist jedoch nicht berechtigt.
1. Der hier unstrittig anzuwendende Art IX Abs 6 des KollV für Arbeiter im eisen- und metallverarbeitenden Gewerbe lautet:
„Lehrlingsentschädigung
Mindestsätze pro Monat:
1. Lehrjahr € 576,65
2. Lehrjahr € 773,25
3. Lehrjahr € 1.040,38
4. Lehrjahr € 1.397,65
Diese Sätze gelten für Lehrlinge ohne Kost und Quartier. Bei Lehrlingsentschädigungen mit Kost und Quartier sind die derzeit geltenden Sätze im entsprechenden Verhältnis in den Landesinnungen anzupassen.
Lehrlingen, die aufgrund nicht genügender Leistungen (nicht aber wegen Krankheit bzw. Unfall) nicht berechtigt sind, in die nächst höhere Schulstufe aufzusteigen, gebührt im darauf folgenden Lehrjahr nur die Lehrlingsentschädigung in Höhe des abgelaufenen Lehrjahres.
Schafft ein Lehrling in dem auf das vorgesehene Berufsschuljahr folgenden Lehrjahr die Aufstiegsprüfung für das mit dem Lehrjahr korrespondierende Berufsschuljahr, gebührt ihm ab der auf den erfolgreichen Prüfungsabschluss folgenden Lohnperiode wieder die der Dauer der Lehrzeit entsprechende Lehrlingsentschädigung.“
2. Der normative Teil eines Kollektivvertrags ist gemäß den §§ 6 und 7 ABGB nach seinem objektiven Inhalt, also nach der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und der Absicht des Normgebers auszulegen (RS0008782; RS0008896 ua). Maßgeblich ist, welchen Willen des Normgebers der Leser dem Text entnehmen kann (RS0010088; RS0010089). Denn die Normadressaten, denen nur der Text des Kollektivvertrags zur Verfügung steht, können die Vorstellungen, die die Kollektivvertragsparteien beim Abschluss vom Inhalt der Normen besessen haben, weder kennen noch feststellen. Sie müssen sich vielmehr darauf verlassen können, dass die Absicht der Parteien in erkennbarer Weise im Vertragstext ihren Niederschlag gefunden hat (RS0010088 [T18] ua). Eine über die Wortinterpretation nach den §§ 6, 7 ABGB hinausgehende Auslegung ist (nur) dann erforderlich, wenn die Formulierung mehrdeutig, missverständlich oder unvollständig ist, wobei der äußerst mögliche Wortsinn die Grenze jeglicher Auslegung bildet (RS0031382; 9 ObA 120/16m). Da den Kollektivvertragsparteien grundsätzlich unterstellt werden darf, dass sie eine vernünftige, zweckentsprechende und praktisch durchführbare Regelung treffen sowie einen gerechten Ausgleich der sozialen und wirtschaftlichen Interessen herbeiführen wollten, ist bei mehreren an sich in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten, wenn alle anderen Auslegungsgrundsätze versagen, jener der Vorzug zu geben, die diesen Anforderungen am meisten entspricht (RS0008828; RS0008897).
3. Die Parteien sind sich darüber einig, dass dem Kläger nach Art IX Abs 6 KollV für jene Zeit des dritten Lehrjahres, in der er aufgrund nicht genügender Leistungen nicht berechtigt war, in die dritte Schulstufe aufzusteigen (September 2016 bis Mai 2017), nur die für das zweite Lehrjahr gebührende Lehrlingsentschädigung zustand. Einvernehmen besteht auch darüber, dass dem Kläger ab der dem Zeitpunkt des Erwerbs der Berechtigung, in die dritte Schulstufe aufzusteigen, folgenden Lehrperiode (Juni 2017) – jedenfalls bis zur Beendigung des dritten Lehrjahres (August 2017) – nach Art IX Abs 6 KollV die für das dritte Lehrjahr festgesetzte Lehrlingsentschädigung gebührte.
4.1. Strittig ist nun zwischen den Parteien, welche Lehrlingsentschädigung dem Kläger ab Beginn des vierten Lehrjahres (September 2017) bis zur Beendigung des Lehrverhältnisses (Dezember 2017) gebührte, in der sich der Kläger zwar (schon) im vierten Lehrjahr, aber nach erfolgreicher Wiederholung der zweiten Schulstufe (noch) im dritten Berufsschuljahr befand.
4.2. Art IX Abs 6 KollV beruht auf dem Prinzip, dass der Lehrling grundsätzlich die Lehrlingsentschädigung erhält, die seinem jeweiligen Lehrjahr entspricht. Solange der Lehrling die Berufsschuljahre wie vorgesehen erfolgreich absolviert, ist das Berufsschuljahr für die Höhe der Lehrlingsentschädigung ohne Bedeutung. Schließt ein Lehrling jedoch ein Berufsschuljahr nicht wie vorgesehen positiv ab, gebührt ihm zunächst nur die Lehrlingsentschädigung in der bisherigen Höhe weiter. Erst wenn der Lehrling in dem auf das vorgesehene Berufsschuljahr folgenden Lehrjahr die Aufstiegsprüfung für das mit dem Lehrjahr korrespondierende Berufsschuljahr geschafft hat, gebührt ihm (ab der auf den erfolgreichen Prüfungsabschluss folgenden Lohnperiode) wieder die der Dauer der Lehrzeit entsprechende Lehrlingsentschädigung. Unter Aufstiegsprüfung – dieser Begriff findet sich im Schulunterrichtsgesetz (SchUG), das gemäß § 1 Abs 1 SchUG iVm § 1 Schulorganisationsgesetz auch auf Berufsschulen Anwendung findet, nicht – ist erkennbar ganz allgemein der erfolgreiche Abschluss eines Berufsschuljahres mit der Berechtigung, in das nächst höhere Berufsschuljahr aufzusteigen, zu verstehen.
4.3. Im vorliegenden Fall hat der Kläger die Berechtigung, in die dritte Schulstufe aufzusteigen, durch den positiven Abschluss des (wiederholten) zweiten Schuljahres am 12. 5. 2017 erlangt (vgl § 25 Abs 1 SchUG). Ab Juni 2017 gebührte dem Kläger daher wieder die der Dauer der Lehrzeit entsprechende Lehrlingsentschädigung, demnach von Juni 2017 bis August 2017 die für das dritte Lehrjahr vorgesehene und ab September 2017 die für das vierte Lehrjahr vorgesehene Lehrlingsentschädigung.
4.4. Diese Auslegung wird auch dem Ziel der Kollektivvertragsparteien gerecht, für Schüler einen Ansporn zu schaffen, das Lernziel möglichst bald zu erreichen (vgl 9 ObA 41/04a). Die abweichende Auffassung des Revisionswerbers, dem Lehrling, der einmal ein Berufsschuljahr wiederholen musste, für die restliche Dauer der Lehrzeit nur mehr die Lehrlingsentschädigung entsprechend seinem Berufsschuljahr zu zahlen, lässt sich dem Text des Kollektivvertrags nicht entnehmen. Die Befürchtung des Revisionswerbers, ein Lehrling könnte sich mit den Berufsschuljahren „ewig“ Zeit lassen und würde dafür auch noch mit einer hohen Lehrlingsentschädigung „belohnt“ werden, geht am vorliegenden Fall der erfolgreichen Wiederholung einer Schulstufe vorbei.
5. Zusammengefasst ist Art IX Abs 6 des KollV für Arbeiter im eisen- und metallverarbeitenden Gewerbe dahin auszulegen, dass ein Lehrling, der zunächst aufgrund nicht genügender Leistungen (nicht aber wegen Krankheit bzw Unfall) nicht berechtigt war, in die nächst höhere Schulstufe aufzusteigen, im darauf folgenden Lehrjahr nur die Lehrlingsentschädigung in Höhe des abgelaufenen Lehrjahres erhält. Sobald der Lehrling aber die Berechtigung für den Aufstieg in das mit dem Lehrjahr korrespondierende Berufsschuljahr erlangt hat, gebührt ihm ab der auf den erfolgreichen Prüfungsabschluss folgenden Lohnperiode wieder die der Dauer der Lehrzeit entsprechende Lehrlingsentschädigung.
Der unbegründeten Revision des Beklagten ist daher nicht Folge zu geben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.
Textnummer
E125048European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:009OBA00019.19P.0424.000Im RIS seit
22.05.2019Zuletzt aktualisiert am
18.05.2020