TE Bvwg Beschluss 2018/12/13 G314 2210818-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.12.2018
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Entscheidungsdatum

13.12.2018

Norm

B-VG Art.133 Abs4
FPG §67 Abs1
FPG §67 Abs2
VwGVG §28 Abs3

Spruch

G314 2210818-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des CXXXX, geboren am XXXX Staatsangehöriger, vertreten durch die XXXX), gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 09.10.2018, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots:

A) Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 8a VwGVG die Verfahrenshilfe im Umfang der Befreiung von der Eingabegebühr bewilligt.

B) Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Bescheid

aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

C) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

Verfahrensgang und Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (BF) war zwischen 04.06.2012 und 04.05.2017 an verschiedenen Adressen in XXXX mit Hauptwohnsitz gemeldet, hielt sich aber ungeachtet dessen nicht kontinuierlich im Bundesgebiet auf. Ein aufgrund seines Antrags vom 04.10.2012 eingeleitetes Verfahren zur Erteilung einer Anmeldebescheinigung wurde am 21.12.2015 eingestellt. Der BF war im Bundesgebiet nie legal erwerbstätig.

Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten; es sind keine Bestrafungen wegen Verwaltungsübertretungen aktenkundig. Ein Strafverfahren gegen ihn aufgrund einer im März 2013 erstatteten Anzeige wegen eines Gewaltdelikts gegen seine ehemalige Lebensgefährtin wurde eingestellt. Es kann nicht festgestellt werden, ob er Vorstrafen in anderen Staaten hat.

Mit Schreiben an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22.02.2018 regte das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen den BF an. Dies wurde damit begründet, dass er in Frankreich XXXX wegen häuslicher Gewalt kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten und den französischen Sicherheitsbehörden seit XXXX bekannt sei, weil er nach XXXX und XXXX gereist und nach dem Studium des Koran zum Islam konvertiert sei. Dem BF sei die Einreise nach Albanien und im XXXX die Einreise in die Türkei jeweils von den dortigen Behörden verweigert worden. Am XXXXsei es in XXXX zu einem Polizeieinsatz bei einer Moschee gekommen, weil der BF dort randaliert, andere angepöbelt und beschimpft habe. Gegenüber den Einsatzkräften habe er einen verwirrten Eindruck gemacht. Nach einem Aufenthalt in XXXXzwischen XXXX und XXXX, wo er wegen illegalen Grenzübertritts festgenommen worden sei, sei der BF zunächst nach XXXX zurückgekehrt und Anfang XXXXüber XXXX wieder nach Österreich eingereist, wo er in XXXX in einer Notschlafstelle für Obdachlose genächtigt habe. Bei polizeilichen Identitätsfeststellungen habe er wiederholt keine ausreichenden Ausweisdokumente vorweisen können. Am XXXX sei gegen ihn in der Österreichischen Nationalbibliothek wegen provokanten Betens ein Hausverbot verhängt worden, was einen Polizeieinsatz und eine Anzeige zur Folge gehabt habe. Am XXXX sei der BF entgegen dem Hausverbot in die Nationalbibliothek zurückgekehrt, was zu einem weiteren Polizeieinsatz geführt habe. Dabei habe er einen sehr religiösen Eindruck gemacht und sich auffallend um ein "heiliges Buch" in seinem Rucksack gesorgt. Im XXXX habe er Grenzkontrollen in XXXX und an derXXXX Grenze passiert. Da der BF den XXXX Behörden "im islamisch extremistischen Bereich" bekannt sei und sich sein Gewaltpotential an den Gewaltdelikten im häuslichen Bereich in XXXX und in Österreich, der Drohung und Beschimpfung in der Moschee und dem provokanten Auftreten in der Öffentlichkeit gezeigt habe, sei aufgrund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit in Österreich gefährdet.

Beim BFA wurde daraufhin ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den BF eingeleitet. Am XXXX informierte das BVT das BFA darüber, dass der BF am XXXX in XXXX festgenommen worden sei und dass gegen ihn ein nationales XXXX Einreiseverbot bestünde. Am XXXX informierte das BVT das BFA darüber, dass sich der BF seit XXXX in einer Jugendherberge in XXXX aufhalte.

Mit dem Schreiben des BFA vom XXXX wurde dem BF mitgeteilt, dass er in XXXX im islamisch extremistischen Bereich bekannt und gegen ihn in XXXX und in Österreich wegen Gewaltdelikten im häuslichen Bereich ermittelt worden sei, dass er am XXXX von Moscheebesuchern beschuldigt worden sei, randaliert und andere beschimpft zu haben, dass am XXXX gegen ihn ein Hausverbot in der Nationalbibliothek erlassen worden sei, weil er die Bibliotheksräume zum Beten "in einer provokanten Form" nutzen habe wollen, und dass die Polizei am XXXX zur Durchsetzung des Hausverbots gerufen worden sei, weil er die Bibliothek neuerlich betreten habe. Sein Verhalten (Drohungen und Beschimpfungen in einer Moschee, provokantes Verhalten in der Nationalbibliothek) gefährde die nationale Sicherheit, die Rechtsstaatlichkeit und die demokratische Ordnung in Österreich. Es sei davon auszugehen, dass er gegenüber wesentlichen Grundsätzen der Verfassung, insbesondere der Gleichstellung von Frauen und Männern, der Trennung von Kirche und Staat sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit, negativ eingestellt sei. Gleichzeitig wurde der BF aufgefordert, zu diesem Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen und konkrete Fragen zu beantworten. Dieses Schreiben wurde dem BF nach einem erfolglosen Zustellversuch in der XXXX durch öffentliche Bekanntmachung gemäß § 25 ZustellG zugestellt; er erstattete keine Stellungnahme.

Mit dem oben angeführten Bescheid wurde gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 3 FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 70 Abs 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub erteilt (Spruchpunkt II) und gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 Abs 3 Z 3 FPG begründet. Der BF sei den XXXX Behörden "im islamisch extremistischen Bereich bekannt". Sein Gewaltpotential zeige sich an sowohl in Österreich als auch in XXXX begangenen Gewaltdelikten, Drohungen und Beschimpfungen in einer Moschee und seinem provokanten Auftreten in der Öffentlichkeit. Sein Verhalten in XXXX habe ein nationales Einreiseverbot zur Folge gehabt. Sein Verhalten in der Nationalbibliothek am XXXX, wo er "in provokanter Weise" zu beten begonnen habe, was zum Einschreiten der Polizei und zu einem Hausverbot geführt habe, zeige, dass er nicht gewillt sei, die bestehenden Rechtsvorschriften einzuhalten. Durch sein Verhalten gefährde er die Ideale einer rechtsstaatlichen und die Menschenrechte achtenden Gesellschaft. Er habe keine Bindungen zu Österreich; es bestünde kein schützenswertes Privat- oder Familienleben. Sein Aufenthalt in Österreich stelle eine massive Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar und verletze Grundinteressen der Gesellschaft an Ruhe, Sicherheit für die Person und sozialem Frieden. Sein erst vor kurzem gesetztes Verhalten beeinträchtige Grundwerte des Staates und dessen Bürger und gefährde somit die nationale Sicherheit; aufgrund seiner persönlichen Situation sei mit einer Fortsetzung zu rechnen. Aufgrund der wiederkehrenden Missachtung der Rechtsordnung und aufgrund der Lebenssituation des BF in Österreich sei das Tatbestandsmerkmal der Nachhaltigkeit erfüllt. Das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit überwiege sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich. Ein unbefristetes Aufenthaltsverbot sei notwendig, um die von ihm ausgehende erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern, zumal von seiner Seite kein Besserungswille glaubhaft gemacht worden sei.

Am XXXX wurde der BF in XXXX im Zuge eines Polizeieinsatzes wegen eines Raufhandels in einer Flüchtlingsunterkunft kontrolliert und festgenommen, weil er nach Durchsetzbarkeit des Aufenthaltsverbots nicht rechtzeitig aus dem Bundesgebiet ausgereist sei. Nach seiner Einvernahme vor dem BFA wurde über ihn die Schubhaft angeordnet. Am XXXX wurde er nach XXXX abgeschoben.

Gegen den oben genannten Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF mit den Anträgen, eine Beschwerdeverhandlung durchzuführen und den Bescheid zur Gänze zu beheben, in eventu, die Dauer des Aufenthaltsverbots herabzusetzen. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass nicht nachvollziehbar sei, auf welche in Österreich begangenen Gewaltdelikte sich das BFA beziehe, zumal der BF hier unbescholten sei und ein Hausverbot wegen "provokanten Auftretens" keine Gewaltbereitschaft belege. Aus dem festgestellten Verhalten des BF sei keine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ableitbar. Weder aus dem Inhalt der Akten des Verwaltungsverfahrens noch aus der Bescheidbegründung sei nachvollziehbar, warum ein unbefristetes Aufenthaltsverbot gegen den BF verhängt worden sei. Dem BF sei überdies kein Parteiengehör gewährt worden.

Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, wo diese am 07.12.2018 einlangten, und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Das BFA führte im Verwaltungsverfahren keine eigenen Ermittlungen zum konkreten, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit bzw. die nationale Sicherheit gefährdenden Verhalten des BF durch, sondern stützte den angefochtenen Bescheid ausschließlich auf die Ausführungen des BVT. Es liegen keine Beweise dafür vor, dass der BF sich öffentlich an Gewalttätigkeiten beteiligte, öffentlich zu Gewalt aufrief oder hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen tätigte.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und der oben wiedergegebene Sachverhalt ergeben sich aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des Gerichtsakts des BVwG. Entscheidungswesentliche Widersprüche liegen nicht vor.

Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Dem BF ist aufgrund seines Vermögensbekenntnisses vom 13.11.2018 antragsgemäß die Verfahrenshilfe im Umfang der Befreiung von der Eingabegebühr zu bewilligen, weil aufgrund seiner völligen Mittellosigkeit davon auszugehen ist, dass selbst die geringe Gebühr von EUR 30 nicht ohne Unterhaltsgefährdung aufgebracht werden kann.

Zu Spruchteil B):

Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen den BF, einen EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG, setzt gemäß § 67 Abs 1 FPG voraus, dass aufgrund seines persönlichen Verhalten die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Ein unbefristetes Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 Z 3 FPG setzt voraus, dass aufgrund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er durch sein Verhalten, insbesondere durch die öffentliche Beteiligung an Gewalttätigkeiten, durch den öffentlichen Aufruf zur Gewalt oder durch hetzerische Aufforderungen oder Aufreizungen, die nationale Sicherheit gefährdet.

Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Es ist auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen; strafgerichtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen (siehe z.B. VwGH 29.06.2017, Ra 2017/21/0068). Andererseits kann aber auch ein festgestelltes Fehlverhalten eines Fremden, das (noch) nicht zu einer gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen Bestrafung geführt hat, zur Beurteilung der Gefährdungsprognose herangezogen werden (siehe z.B. VwGH 03.07.2018, Ra 2018/21/0081).

Aus der (aufgrund der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung nationaler Rechtsnormen heranzuziehenden) EuGH-Rechtsprechung geht hervor, dass der Begriff "Gefahr für die öffentliche Ordnung" jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Der Begriff "öffentliche Sicherheit" umfasst sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaates, sodass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigsten öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl EuGH 15.02.2016, C-601/15, 24.06.2015, C-373/13, 11.06.2015, C-554/13 und 23.11.2010, C-145/09).

Der Begriff "nationale Sicherheit" ist im Licht der Staatsfunktionengarantie des Art 4 Abs 2 Satz 2 EUV ("Die Union ... achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit.") auszulegen und umfasst den Schutz vor Ereignissen, die über die Gefährdung von Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit hinaus die Sicherheit des Staates in Frage stellen (vgl Schwartmann/Jaspers/Thüsing/Kugelmann, DS-GVO/BDSG, Art 23 DS-GVO Rz 24), z.B. den Schutz vor militärischen Bedrohungen oder nichtmilitärischen Risiken wie z.B. internationalem Terrorismus oder organisierter Kriminalität.

Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG (Bescheidbeschwerden) in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z 1) oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z 2). Gemäß § 28 Abs 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des § 28 Abs 2 VwGVG nicht vorliegen, im Verfahren über Bescheidbeschwerden in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist dann an die rechtliche Beurteilung gebunden, von der das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Die Zurückverweisungsmöglichkeit gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG ist eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte. Eine Aufhebung des Bescheids kommt nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht oder seine Feststellung durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Behörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.

Die Verwaltungsgerichte haben nicht nur bei Vorliegen der in den Z 1 und Z 2 des § 28 Abs 2 VwGVG genannten Voraussetzungen in der Sache selbst zu entscheiden, sondern nach Maßgabe des § 28 Abs 3 VwGVG grundsätzlich auch dann, wenn trotz Fehlens dieser Voraussetzungen die Verwaltungsbehörde dem nicht unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063). Wenn die Behörde den entscheidungswesentlichen Sachverhalt unzureichend festgestellt hat, indem sie keine für die Sachentscheidung brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert hat, ist eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG zulässig (VwGH 28.03.2017, Ro 2016/09/0009). Wenn die Verwaltungsbehörde jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, ist das Verwaltungsgericht berechtigt, von der Zurückverweisungsmöglichkeit nach § 28 Abs 3 VwGVG Gebrauch zu machen (VwGH 29.05.2018, Ra 2017/03/0083).

Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen hier die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung durch das BVwG nicht vor. Der maßgebliche Sachverhalt steht - ausgehend von den oben dargestellten Grundsätzen - nicht fest. Auf der Grundlage der bisherigen Ermittlungen ist keine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts möglich; dieser ist vielmehr in ganz wesentlichen Teilen ergänzungsbedürftig

Die gebotene Ergänzung des Ermittlungsverfahrens und die Nachholung der fehlenden Feststellungen durch das BVwG sind aufgrund der besonders gravierenden Ermittlungslücken weder im Interesse der Raschheit gelegen noch mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden.

Weder aus den vorgelegten Akten noch aus der Begründung des angefochtenen Bescheids ergibt sich eine vom BF konkret ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit oder der nationalen Sicherheit, die ein (unbefristetes) Aufenthaltsverbot rechtfertigt. Das BFA stützte seine Entscheidung auf unspezifische und zum Teil nicht durch entsprechende Beweismittel untermauerte Ausführungen des BVT, ohne die faktische Grundlage für die gegen den BF erhobenen Vorwürfe zu klären und durch eigene Ermittlungen zu konkretisieren. Die noch fehlenden Ermittlungsschritte erreichen dabei ein Ausmaß, das die Behebung und Zurückverweisung erlaubt.

Die festgestellten, unspezifischen Vorwürfe gegen den BF erfüllen den Tatbestand des § 67 Abs 3 Z 3 FPG nicht, der "bestimmte Tatsachen" voraussetzt, die die Annahme rechtfertigen, er gefährde durch sein Verhalten die nationale Sicherheit, zumal weder gerichtliche noch verwaltungsstrafrechtliche Bestrafungen des BF aktenkundig sind. Es sind auch keine Informationen über das Vorleben des BF in seinem Herkunftsstaat oder in anderen Staaten (insbesondere über allfällige strafgerichtliche Verurteilungen oder schwerwiegende Verwaltungsübertretungen) aktenkundig. Weder eine Konversion zum Islam noch starke Religiosität begründen für sich genommen eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit bzw. der nationalen Sicherheit.

In den vorgelegten Akten befinden sich keine näheren Informationen zu den dem BF vorgeworfenen Gewaltdelikten, insbesondere nicht zu seinem zugrundeliegenden Verhalten. Da es sich um Gewaltdelikte im häuslichen Bereich handeln soll, die bereits mehrere Jahre zurückliegen und (zumindest in Österreich) nicht zu einer strafgerichtlichen Verurteilung geführt haben, ist nicht davon auszugehen, dass sich der BF dadurch iSd § 67 Abs 3 Z 3 FPG öffentlich an Gewalttätigkeiten beteiligte.

Es wurden keine Erhebungen darüber durchgeführt, auf welchen konkreten Tatsachen die Feststellung beruht, dass der BF dem "islamisch extremistischen Bereich" zuzuordnen sei. Es ist auch nicht ersichtlich, welcher radikalislamischen Strömung er angehören soll. Das BFA bezieht sich dazu lediglich auf vom BVT übermittelte, nicht näher konkretisierte Informationen XXXX Behörden, ohne die faktische Grundlage dafür zu verifizieren oder zu konkretisieren. Eine Antwort auf das im Schreiben des BVT vom 22.02.2018 angeführte Erhebungsersuchen zur Gefährdungseinschätzung an die XXXX Sicherheitsbehörde vom 24.11.2017 ist nicht aktenkundig. Auch Ermittlungen zu den Gründen, aus denen dem BF die Einreise nach XXXX und in die XXXX verwehrt wurde sowie warum und für welchen Zeitraum gegen ihn in XXXX ein nationales Einreiseverbot verhängt wurde, fehlen gänzlich.

Die Erhebungen des BFA zu den Vorfällen am XXXX, am XXXX und am XXXX in XXXX sind unzureichend. Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere nicht bekannt, welches spezifische Verhalten der BF setzte, sodass ihm Beschimpfungen und Drohungen gegen Moscheebesucher angelastet werden, zumal dies bislang offenbar nicht zu einem (gerichtlichen oder verwaltungsbehördlichen) Strafverfahren gegen ihn geführt hat. Auch das konkrete Verhalten den BF in der Nationalbibliothek, aus dem sich die Einschätzung, er habe dort "provokant" gebetet, ableiten lässt und das zu zwei Polizeieinsätzen führte, wurde nicht erhoben, sodass die Annahme des BFA, der BF habe dadurch gezeigt, dass er nicht gewillt sei, sich an die Rechtsordnung zu halten, nicht nachvollzogen werden kann, zumal nicht einmal beurteilt werden kann, gegen welche Normen er (abgesehen von der Hausordnung der Nationalbibliothek) verstieß.

Obwohl sich in den Akten Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung des BF finden (so machte er bei dem Polizeieinsatz am 20.11.2016 einen verwirrten Eindruck und soll laut dem Schreiben des BVT vom 22.02.2018 an paranoider Schizophrenie leiden), nahm das BFA keine Erhebungen zu seinem psychischen Gesundheitszustand vor, die erforderlich gewesen wären, um dessen Einfluss auf die von ihm ausgehende Gefährlichkeit in die vorzunehmende Gefährdungsprognose einbeziehen zu können.

Das BFA wird im fortgesetzten Verfahren daher erheben müssen, welches Verhalten des BF den ihm angelasteten Gewaltdelikten zugrunde lag, und jedenfalls auch einen ECRIS-Auszug des BF beischaffen müssen. Es wird konkrete Informationen über die Polizeieinsätze gegen den BF in Österreich, sein jeweils zugrundeliegendes Verhalten und den Ausgang allfälliger Strafverfahren gegen ihn sowie über seinen psychischen Gesundheitszustand einzuholen haben. Außerdem wird es die Fakten ermitteln müssen, die die Basis für die Annahme der XXXX Behörden bilden, der BF sei dem extremistisch islamischen Bereich zuzuordnen, ebenso das konkrete Verhalten des BF, das zur Einreiseverweigerung in XXXX und in der XXXX sowie zu dem nationalen XXXX Einreiseverbot führte. Allenfalls werden auch ergänzende Erhebungen zu den Reisebewegungen des BF in den letzten Jahren und den Gründen dafür sowie zu einem allfälligen Fehlverhalten des BF im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz am XXXX durchzuführen sein.

Nach diesen (und allenfalls weiteren noch notwendigen) Ermittlungsschritten wird das BFA auf der solcherart erweiterten Sachverhaltsgrundlage die Annahme, das Verhalten des BF stelle eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar, die ein (befristetes oder unbefristetes) Aufenthaltsverbot erforderlich mache, anhand bestimmter Tatsachen und einer einzelfallbezogenen Gefährdungsprognose nachvollziehbar begründen müssen.

Da das BFA die dargestellten, aufgrund der Anregung des BVT gebotenen Ermittlungsschritte unterließ und sich ohne eigene Erhebungstätigkeiten nur auf dessen (für die zu erstellende Gefährdungsprognose zu vagen) Ausführungen stützte, ist davon auszugehen, dass es schwierige Ermittlungen, die über Registerabfragen, die Beischaffung von Strafurteilen und die Einholung einer Stellungnahme des BF hinausgehen und die Kontaktaufnahme mit mehreren in- und ausländischen Behörden notwendig machen, unterließ, damit diese dann durch das BVwG vorgenommen werden. Aufgrund der Unterlassung jeglicher eigener Ermittlungstätigkeit führt es weder zu einer Kostenersparnis noch zu einer Verfahrensbeschleunigung, wenn das BVwG die Erhebungen selbst durchführt, zumal Weiterungen des Verfahrens nach der Durchführung der nach dem derzeitigen Stand gebotenen Erhebungsschritte nicht ausgeschlossen werden können und zu den tragenden Sachverhaltselementen noch überhaupt keine Beweisergebnisse vorliegen.

Im Ergebnis ist der angefochtene Bescheid daher gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das BFA zurückzuverweisen.

Eine mündliche Verhandlung entfällt gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG, weil schon aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

Zu Spruchteil C):

Die Revision war wegen der Einzelfallbezogenheit der Entscheidung über die Anwendung des § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG, die keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG begründet, nicht zuzulassen (siehe z.B. VwGH 30.03.2017, Ra 2014/08/0050).

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, individuelle
Verhältnisse, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung,
Verfahrenshilfe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:G314.2210818.1.00

Zuletzt aktualisiert am

20.05.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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