Entscheidungsdatum
30.01.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W115 2169845-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX sowie XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau und dem gemeinsamen minderjährigen Sohn unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seine zum damaligen Zeitpunkt noch Ehefrau stellte ebenfalls für sich und ihren Sohn am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Deren Verfahren sind ebenfalls beim Bundesverwaltungsgericht unter den Geschäftszahlen (GZ) XXXX und XXXX anhängig.
1.1. Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehören würde. Seine Muttersprache sei Dari. Neben Dari beherrsche er auch die Sprache Farsi. Seine Familie würde aus Afghanistan stammen, er selbst sei aber noch nie in Afghanistan gewesen, sondern habe im Iran gelebt. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er aufgrund von Familienstreitigkeiten den Iran habe verlassen müssen. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass er traditionell verheiratet sei und einen Sohn habe. Zusammen mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn habe er den Iran verlassen und sie seien gemeinsam schlepperunterstützt bis nach Österreich gereist. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan oder in den Iran befürchte er, getötet zu werden.
1.2. Mit Schreiben vom XXXX wurde unter Vorlage der diesbezüglichen Vertretungsvollmacht bekanntgegeben, dass der Beschwerdeführer nunmehr durch Herrn XXXX vertreten wird.
1.3. Mit Schreiben vom XXXX wurde vom bevollmächtigten Vertreter ergänzend zusammengefasst vorgebracht, dass sich der Beschwerdeführer und seine Ehefrau voneinander getrennt hätten und nicht mehr zusammenleben würden. Sein Sohn würde unter der Woche bei seiner Mutter leben und an den Wochenenden beim Beschwerdeführer. Weiters habe der Beschwerdeführer seinen Glauben gewechselt und sei nunmehr protestantischer Christ. Er habe bei der " XXXX ", einer Freikirche, um Mitgliedschaft angesucht und würde bereits seit Monaten in die Kirche kommen. Im Moment absolviere der Beschwerdeführer den Taufkurs. Da der Beschwerdeführer nunmehr Christ sei, würde in rechtlicher Hinsicht ein Nachfluchtgrund vorliegen und dem Beschwerdeführer daher der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
1.4. Nach Zulassung des Verfahrens durch Ausfolgung einer Aufenthaltsberechtigungskarte wurde der Beschwerdeführer am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters und eines Dolmetschers niederschriftlich einvernommen.
Der Beschwerdeführer gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Befragt zu seinem Gesundheitszustand gab er an, gesund zu sein. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und gehöre der Volkgruppe der Tadschiken an. Früher habe er der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehört. Er sei aber nunmehr zum Christentum konvertiert. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass seine Eltern in Afghanistan in der Provinz Herat gelebt hätten. Sie hätten Afghanistan aber bereits zur Zeit des Krieges verlassen und seine gesamte Familie würde nunmehr im Iran leben. Die genauen Umstände der Flucht kenne er jedoch nicht. In Afghanistan habe er keine Verwandten mehr. Er selbst sei im Iran geboren worden und sei noch niemals in Afghanistan gewesen. Im Iran habe er traditionell geheiratet und auch sein Sohn sei dort geboren worden. In Österreich habe sich seine Ehefrau jedoch von ihm getrennt und sein Sohn würde bei seiner Ex-Frau leben. Sie habe auch das Sorgerecht. Er selbst dürfe seinen Sohn an den Wochenenden sehen. Neben seiner Ex-Frau und seinem Sohn, würden sich noch die Mutter seiner Ex-Frau und deren Bruder in Österreich aufhalten. Befragt zu seien Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er aufgrund von Familienstreitigkeiten gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau und seinem Sohn den Iran habe verlassen müssen. Er sei im Zuge dieser Familienstreitigkeiten mit dem Tod bedroht worden. Bei einer Rückkehr in den Iran oder nach Afghanistan befürchte er aufgrund der familiären Probleme getötet zu werden. Zudem sei er nunmehr Christ und könne auch aus diesem Grund nicht mehr nach Afghanistan zurück. Befragt, in welcher Art und Weise er seinen Glauben in Österreich praktiziere, antwortete der Beschwerdeführer, dass er regelmäßig die Kirche besuche und nach den "Zehn Geboten" leben würde. Er lese auch die Bibel. Weiters wurden dem Beschwerdeführer von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer gab diesbezüglich an, dass er sich dazu nicht äußern wollen würde.
Weiters wurden vom Beschwerdeführer integrationsbescheinigende Unterlagen sowie ein psychiatrischer Befund vom XXXX in Vorlage gebracht.
1.5. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.); der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.); ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).
Nach Darlegung des Verfahrensganges und Wiedergabe der Einvernahmeprotokolle traf die belangte Behörde Feststellungen zur Lage in Afghanistan und führte begründend im Wesentlichen zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen sei, eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) genannten Gründen glaubhaft zu machen. So habe der Beschwerdeführer sein gesamtes Leben außerhalb Afghanistans verbracht und somit könne mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Grund für eine individuelle Bedrohung bzw. Gefährdung in seinem Herkunftsstaat Afghanistan bestehen. Der vom Beschwerdeführer behauptete Nachfluchtgrund der Auseinandersetzung mit dem Christentum würde sich gegenwärtig als gesteigertes Vorbringen darstellen und sei somit ebenfalls nicht glaubhaft.
Hinsichtlich Spruchpunkt II. wurde im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer im Fall einer Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung nach Afghanistan weder eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention noch eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes als Zivilperson drohe. Beim Beschwerdeführer handle es sich um einen arbeitsfähigen Mann, bei dem eine grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Eine Reintegration in Afghanistan, insbesondre in den Städten Kabul, Mazar-e Scharif, Jalalabad und Herat, sei daher für den Beschwerdeführer möglich.
Zu den Spruchpunkten III. und IV. wurde von der belangten Behörde im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass der Beschwerdeführer in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte verfügen würde bzw. dass die gesamte Familie von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen betroffen sei, sodass ein Eingriff in das Familienleben nicht vorliege. Hinsichtlich eines möglichen Eingriffes in das Privatleben des Beschwerdeführers führte die belangte Behörde zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer illegal nach Österreich eingereist sei, auf staatliche Unterstützung angewiesen sei und auch keine relevante Integration vorliegen würde. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet sei alleine aufgrund der Betreibung eines Asylverfahrens und somit lediglich für die Dauer dieses Verfahrens legalisiert. Sonstige private Bindungen in Österreich hätte der Beschwerdeführer nicht. Im Rahmen der vorgenommenen Interessensabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass in der Gesamtbetrachtung nach Abwägung aller Interessen festzustellen sei, dass im vorliegenden Fall den öffentlichen Interessen an einem geordneten Fremdenwesen besondere Bedeutung zukomme, und das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das private Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiege. Eine Rückkehrentscheidung sei daher gerechtfertigt. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 sei mangels Privat- und Familienlebens nicht in Betracht gekommen. Auch würde der Beschwerdeführer nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 erfüllen. Weiters wurde von der belangten Behörde ausgeführt, dass unter den Spruchpunkten I. und II. ausführlich geprüft und schließlich festgestellt worden sei, dass dem Beschwerdeführer eine Gefahr iSd § 50 Abs. 1 und 2 FPG nicht drohe und eine Empfehlung nach Abs. 3 leg.cit. nicht existiere. Eine Abschiebung nach Afghanistan sei daher zulässig. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der Beschwerdeführer bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, nicht gegeben seien.
1.6. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig eine Rechtsberatung zur Seite gestellt.
2. Gegen den im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde erhob der Beschwerdeführer fristgerecht eine Beschwerde, mit der der Bescheid vollinhaltlich angefochten wurde. In der Begründung wurde der Beweisführung sowie der rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.
Weiters wurde vom Beschwerdeführer unter Vorlage der diesbezüglichen Vertretungsvollmacht bekanntgegeben, dass er im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht von der XXXX vertreten wird.
3. Die gegenständliche Beschwerde samt Verwaltungsakt langte der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.
3.1. Am XXXX wurde vom Beschwerdeführer eine Bestätigung vom XXXX in Vorlage gebracht, dass er sich seit XXXX in psychologischer Betreuung befindet.
3.2. Am XXXX wurden vom Beschwerdeführer integrationsbescheinigende Unterlagen sowie Dokumente hinsichtlich seines Glaubenswechsels in Vorlage gebracht.
3.3. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte in der Folge eine mündliche Verhandlung an und übermittelte gleichzeitig aktuelle Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan. Mit Schreiben vom XXXX wurde von der belangten Behörde mitgeteilt, dass die Teilnahme eines Vertreters an der Verhandlung aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei. Es werde aufgrund der gegebenen Aktenlage die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde beantragt und um Übersendung des Verhandlungsprotokolles ersucht. Eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen wurde vorab von den Verfahrensparteien nicht erstattet.
3.4. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX brachte der Beschwerdeführer nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari auf richterliche Befragung im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Auf richterliche Befragung gab der Beschwerdeführer ergänzend an, dass er im Beschwerdeverfahren sowohl vom heute anwesenden Herrn XXXX als auch von der XXXX vertreten werde. Befragt zu seinem Gesundheitszustand gab der Beschwerdeführer an, gesund zu sein. In weiterer Folge führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass er der Volksgruppe der Tadschiken und nunmehr dem christlichen Glauben angehören würde. Früher habe er der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehört. Seine Muttersprache sei Dari. Er würde weiters noch Farsi und ein wenig Türkisch sprechen. Darüber hinaus würde er mittlerweile auch die deutsche Sprache beherrschen. Seine Familie würde aus Afghanistan stammen und seine Eltern hätten in der Provinz Herat gelebt. Sie hätten aber bereits vor ca. 30 Jahren Afghanistan verlassen und würden seither im Iran leben. Er selbst sei im Iran geboren und dort aufgewachsen. Er habe dort ca. acht Jahre die Schule besucht, aber keine Berufsausbildung absolviert. Im Iran habe er auf Baustellen gearbeitet. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, dass er in Afghanistan keine Verwandten mehr habe. Seine Eltern, seine zwei Brüder und seine Schwester würden im Iran leben. Darüber hinaus verfüge er im Iran noch über zwei Onkeln und eine Tante mütterlicherseits. Zu seinen Familienverhältnissen in Österreich befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass er und seine Ehefrau sich getrennt hätten und nicht mehr zusammenleben würden. Sein Sohn lebe bei seiner Ex-Frau. Drei Tage pro Woche dürfe sein Sohn aber bei ihm sein. Zu seiner Situation in Österreich befragt, gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er bemüht sei die deutsche Sprache zu lernen. Er habe bereits den A1-Kurs absolviert und besuche gerade den A2-Kurs. Er habe weiters ehrenamtlich beim Roten-Kreuz und für die Gemeinde gearbeitet. Weiters besuche er regelmäßig die Kirche und helfe auch dort ehrenamtlich bei Festen und Veranstaltungen mit. Darüber hinaus verfüge er bereits über einen großen Freundeskreis, darunter auch österreichische Freunde, hier in Österreich. Befragt zu seinem Glaubenswechsel gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er sich bereits im Iran für das Christentum interessiert hätte. In Österreich habe er dann begonnen sich intensiver mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen und habe sich im XXXX taufen lassen. Er habe Mitglied in einer Kirchengemeinde werden wollen und habe zu diesem Zweck eine Baptistenkirche besucht. Dort habe man ihm gesagt, dass er zur Aufnahme in die Kirchengemeinde bei ihnen einen Tauf- und einen Bibelkurs absolvieren müsse. Dies habe er getan und sei schließlich im XXXX in die Gemeinde aufgenommen worden (Anmerkung:
In diesem Zusammenhang wurde vom bevollmächtigten Vertreter eine Aufnahmebestätigung vom XXXX in Vorlage gebracht, aus der hervorgeht, dass der Beschwerdeführer am XXXX getauft und am XXXX in die " XXXX " aufgenommen worden ist.). Befragt, warum er sich entschlossen habe, sich mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen, gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass ein wesentlicher Grund für seinen Glaubenswechsel der Umgang der Christen untereinander gewesen sei. Zudem handle es sich bei dem Gott im Christentum um einen "liebenden" Gott, der den Menschen ihre Sünden vergeben würde. Befragt, in welcher Form er seinen Glauben ausübe, antwortete der Beschwerdeführer, dass er regelmäßig die Bibelkurse und den Gottesdienst besuchen würde. Wenn er für sich alleine sei, bete er auch öfters das Vater Unser. Es zeige seinen Glauben auch nach außen und sei bemüht auch andere Menschen von seinem Glauben zu überzeugen. In dieser Hinsicht sei es ihm gelungen, zwei weitere Mitglieder für die Kirchengemeinde zu gewinnen. Auf richterliche Befragung gab der Beschwerdeführer an, dass er auch bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht dem christlichen Glauben abschwören werde. Es sei für ihn unmöglich nicht mehr als Christ zu leben.
Weiters wurde ein leitendes Mitglied der " XXXX " als Zeuge unter Wahrheitspflicht befragt. Der Zeuge gab auf richterliche Befragung im Wesentlichen zusammengefasst an, dass der Beschwerdeführer seit dem Jahr XXXX ihre Kirche besuchen würde. Im Jahr XXXX sei er dann Mitglied geworden. Der Beschwerdeführer würde sich bei Glaubensfragen an ihn wenden und auch bei ihm beichten. Der Beschwerdeführer habe in der Vergangenheit Bibelkurse und den Taufunterricht besucht. Auch zum nunmehrigen Zeitpunkt sei er aktives Mitglied in der Gemeinde und würde regelmäßig die Gottesdienste besuchen. Weiters würde er mit Leuten, die Analphabeten seien, die Bibel lesen. Darüber hinaus missioniere der Beschwerdeführer auch und habe es bereits geschafft, Leute zu ihrer Kirche zu bringen.
In weiterer Folge wurden ergänzend zu den mit der Ladung übermittelten Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan durch den verfahrensführenden Richter aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers in der heutigen Verhandlung folgende Unterlagen in das Verfahren eingebracht:
? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, in der Fassung vom 19.10.2018
? UNHCR-eligibility guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from afghanistan, 30.08.2018
? UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016
? Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan XXXX vom Dezember 2016
? ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von
1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa (jeweilige rechtliche Lage, staatliche und gesellschaftliche Behandlung, Diskriminierung, staatlicher bzw. rechtlicher Schutz bzw. Schutz durch internationale Organisationen, regionale Unterschiede, Möglichkeiten zur Ausübung des christlichen Glaubens, Veränderungen hinsichtlich der Lage der christlichen Gemeinschaft) [a-10159], 1. Juni 2017
Nach Erörterung dieser Unterlagen und der mit der Ladung übermittelten Länderfeststellungen, gab der bevollmächtigte Vertreter des Beschwerdeführers dazu an, dass auf eine Stellungnahme verzichtet werde.
3.5. Weiters wurde vom Bundesverwaltungsgericht die Verhandlungsschrift der belangten Behörde übermittelt. Eine Stellungnahme dazu wurde von dieser nicht erstattet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch genannten Namen und ist am XXXX geboren. Dem minderjährigen Sohn des Beschwerdeführers und seiner Ex-Frau, die gemeinsam mit dem Beschwerdeführer in das österreichische Bundesgebiet eingereist sind und ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz gestellt haben, ist mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tage (GZ. XXXX sowie XXXX ) ebenfalls der Status des/der Asylberechtigten zuerkannt worden.
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Die Eltern des Beschwerdeführers haben in Afghanistan in der Provinz Herat gelebt und sind vor ca. 30 Jahren in den Iran gezogen. Der Beschwerdeführer ist im Iran geboren und hat bis zu seiner Ausreise dort gelebt. Im Iran leben noch die Eltern, seine zwei Brüder sowie die Schwester des Beschwerdeführers. Weiters verfügt der Beschwerdeführer im Iran noch über zwei Onkeln und eine Tante mütterlicherseits. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer keine Verwandten mehr.
Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari. Er spricht auch die Sprachen Farsi und ein wenig Türkisch. Weiters verfügt er über gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Der Beschwerdeführer hat im Iran ca. acht Jahre die Schule besucht. Über eine Berufsausbildung verfügt der Beschwerdeführer nicht. Er hat im Iran auf Baustellen gearbeitet.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Situation des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:
Der Beschwerdeführer bekannte sich im Iran zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islams. In Österreich ist der Beschwerdeführer zum christlichen Glauben übergetreten, ist am XXXX getauft worden und ist seit XXXX Mitglied der " XXXX ". Der Beschwerdeführer ist während seines Aufenthalts in Österreich aus freier persönlicher Überzeugung zum Christentum konvertiert und würde seinen neuen Glauben auch im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat praktizieren (wollen).
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Hinwendung zum Christentum eine Verfolgung aus religiösen Gründen. Vom afghanischen Staat kann er keinen effektiven Schutz erwarten.
Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:
Aufgrund der mit der Ladung übermittelten Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan und den in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, in der Fassung vom 19.10.2018:
Politische Lage (Verfassung):
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Sicherheitslage (Allgemein):
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).
Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).
Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).
Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 1.1.2009-31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 1.1.2018 - 31.3.2018 registriert die UNAMA
2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.4.2018).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.4.2018).
Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).
Ein besonderes Anliegen der ANDSF, der afghanischen Regierung und internationaler Kräfte ist das Verhindern ziviler Opfer. Internationale Berater/innen der US-amerikanischen und Koalitionskräfte arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reduzierung der Anzahl von zivilen Opfern zu schaffen. Die afghanische Regierung hält auch weiterhin ihre vierteljährliche Vorstandssitzung zur Vermeidung ziviler Opfer (Civilian Casualty Avoidance and Mitigation Board) ab, um u. a. Präventivmethoden zu besprechen (USDOD 12.2017). Die UNAMA bemerkte den Einsatz und die positiven Schritte der afghanischen Regierung, zivile Opfer im Jahr 2017 zu reduzieren (UNAMA 2.2018).
Im gesamten Jahr 2017 wurden 3.484 zivile Opfer (823 Tote und 2.661 Verletzte) im Rahmen von 1.845 Bodenoffensiven registriert - ein Rückgang von 19% gegenüber dem Vorjahreswert aus 2016 (4.300 zivile Opfer, 1.072 Tote und 3.228 Verletzte in 2.008 Bodenoffensiven). Zivile Opfer, die aufgrund bewaffneter Zusammenstöße zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Kräften zu beklagen waren, sind zum ersten Mal seit 2012 zurückgegangen (UNAMA 2.2018).
Im Jahr 2017 forderten explosive Kampfmittelrückstände (Engl. "explosive remnants of war", Anm.) 639 zivile Opfer (164 Tote und 475 Verletzte) - ein Rückgang von 12% gegenüber dem Jahr 2016. 2017 war überhaupt das erste Jahr seit 2009, in welchem ein Rückgang verzeichnet werden konnte. Der Rückgang ziviler Opfer ist möglicherweise u.a. auf eine Verminderung des indirekten Beschusses durch Mörser, Raketen und Granaten in bevölkerten Gegenden von regierungsfreundlichen Kräfte zurückzuführen (UNAMA 2.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen:
Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:
das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).
Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).
Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).
Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).
Rechtsschutz/Justizwesen:
Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).
Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:
Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).
Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).
Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).
Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).
Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und
-verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o.D.).
Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).
Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).
Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, währed 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).
Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).
Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.4.2017; vgl. FH 11.4.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.4.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.4.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).
Haftbedingungen:
Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.4.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).
Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-Charkhi-Gefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u. a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.4.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).
Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.4.2018).
Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).
Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.4.2018).
Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.4.2018).
Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 2015 und Dezember 2016 zufolge berichteten 39% der Befragten, dass sie während der Verhaftung oder des Gewahrsams in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des NDS oder der ANP gefoltert bzw. misshandelt geworden würden (HRC 21.2.2018). Trotz des rechtlich verankerten Folterverbots wird von Foltervorfällen durch die afghanischen Sicherheitskräfte und andere Akteure bis hin zur Entourage des ersten Vizepräsidenten, des Generals Abdul Rashid Dostum, berichtet (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018).
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem werden beide Praktiken weiterhin betrieben. Diese stellen in den meisten Provinzen ein Problem dar. Beobachtern zufolge werden Personen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert. Teilweise auch deshalb, weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit einen Strafprozess abzuwickeln (USDOS 20.4.2018). Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen Verstößen gegen die Moral, Vertragsbruch, Familiendisputen und zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass oft Frauen für "moralische" Vergehen inhaftiert werden (USDOS 20.4.2018; vgl. BTI 2018). Die angekündigten Reformen u.a. zur Beendigung der unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Jungfräulichkeitsuntersuchungen bei inhaftierten Frauen wurden nicht durchgeführt (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Oft werden Frauen wegen versuchter zina [Anm.: Ehebruch] angeklagt, um Verhaftungen wegen Verstöße gegen die Sitten, wie das Davonlaufen von Zuhause, die Ablehnung designierter Ehemänner, die Flucht vor häuslicher Gewalt usw. rechtlich zu legitimieren. Einige Frauen, die Missbräuche anzeigen, werden verhaftet und anstelle von verurteilten Familienmitgliedern eingesperrt in der Annahme, dass diese sich stellen würden, um die Freilassung der Frau zu bewirken. In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 20.4.2018).
Todesstrafe:
Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 5.2018). Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, sieht die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen usw. vor (MoJ 15.5.2017: Art. 170). Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt (MoJ 15.5.2017: Art. 169). Sie wird durch Erhängen ausgeführt (AA 5.2018).
Die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen wurde durch den neuen Kodex signifikant reduziert (HRC 21.2.2018). So ist bei einigen Straftaten statt der Todesstrafe nunmehr lebenslange Haft vorgesehen (AI 22.2.2018).
Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch). Berichten zufolge wurden im Jahr 2017 elf Menschen zu Tode verurteilt (AA 5.2018). Im November 2017 wurden fünf Männer im Pul-e-Charki-Gefängnis hingerichtet (AI 22.2.2018; vgl. HRC 21.2.2018). Des Weiteren fand am 28.1.2018 die Hinrichtung von drei Menschen statt. Alle wurden aufgrund von Entführungen und Mord zum Tode verurteilt. Zuvor wurden 2016 sechs Terroristen hingerichtet (AA 5.2018). Im Zeitraum 1.1 - 30.11.2017 befanden sich weiterhin 720 Person im Todestrakt (HRC 21.2.2018).
In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können. Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, ist davon auszugehen, dass weiter Todesurteile vollstreckt werden (AA 5.2018).
Allgemeine Menschenrechtslage:
Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (AA 5.2018).
Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen "moralischer Straftaten") und sexueller Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Sicherheitskräfte. Weitere Probleme sind Gewalt gegenüber Journalisten, Verleumdungsklagen, durchdringende Korruption und fehlende Verantwortlichkeit und Untersuchung bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Diskriminierung von Behinderten, ethnischen Minderheiten sowie aufgrund von Rasse, Religion, Geschlecht und sexueller Orientierung, besteht weiterhin mit geringem Zuschreiben von Verantwortlichkeit. Die weit verbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und die Straffreiheit derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sind ernsthafte Probleme. Missbrauchsfälle durch Beamte, einschließlich der Sicherheitskräfte, werden von der Regierung nicht konsequent bzw. wirksam verfolgt. Bewaffnete aufständische Gruppierungen greifen mitunter Zivilisten, Ausländer und Angestellte von medizinischen und nicht-staatlichen Organisationen an und begehen gezielte Tötungen regierungsnaher Personen (USDOS 20.4.2018). Regierungsfreundlichen Kräfte verursachen eine geringere - dennoch erhebliche - Zahl an zivilen Opfern (AI 22.2.2018).
Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage (AA 5.2018). Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Afghanistan hat die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert (AA 5.2018). Nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen operieren in der Regel ohne staatliche Einschränkungen und veröffentlichen ihre Ergebnisse zu Menschenrechtsfällen. Regierungsbedienstete sind in dieser Hinsicht einigermaßen kooperativ und ansprechbar (USDOS 20.4.2018). Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Afghanistan Independent Human Rights Commission AIHRC bekämpft weiterhin Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen