Entscheidungsdatum
05.04.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W220 2181783-1/14E
W220 2181184-1/8E
W220 2181779-1/6E
W220 2181787-1/6E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Daniela UNTERER als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , und 4.) XXXX , geb. XXXX , alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, 1.), 3.) und 4.) vertreten durch XXXX , Rechtsanwalt in Ried, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1.) 17.11.2017, Zl. 1051571502-150151770, 2.) 16.11.2017, Zl. 1102718202-160096253, 3.) 16.11.2017, Zl. 1051571905-150152962 und 4.) 16.11.2017, Zl. 1128268309-161198470, beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerden werden die angefochtenen Bescheide behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1.1. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer, alle sind Staatsangehörige Afghanistans.
Die Erstbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer stellten am 09.02.2015 im österreichischen Bundesgebiet jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Zweitbeschwerdeführer stellte am 18.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den in Österreich geborenen Viertbeschwerdeführer stellte die Erstbeschwerdeführerin als seine gesetzliche Vertreterin am 31.08.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
1.2. Am 09.02.2015 fand die Erstbefragung der Erstbeschwerdeführerin, am 19.01.2016 die Erstbefragung des Zweitbeschwerdeführers vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.
1.3. Am 25.01.2017 und am 31.10.2017 fand jeweils eine niederschriftliche Befragung der Erstbeschwerdeführerin, am 17.08.2017 jene des Zweitbeschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt.
1.4. Mit den im Spruch genannten Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status der/des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status der/des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gem. § 57 AsylG jeweils nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und jeweils gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gem. § 52 Abs. 9 FPG wurde jeweils festgestellt, dass die Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
1.5. Gegen die an die Erstbeschwerdeführerin und den Dritt- und Viertbeschwerdeführer am 22.11.2017 sowie an den Zweitbeschwerdeführer am 23.11.2017 zugestellten Bescheide wurde jeweils fristgerecht Beschwerde erhoben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die belangte Behörde hat keine Ermittlungen zur Situation geschiedener, alleinstehender und alleinerziehender Frauen in Afghanistan angestellt. Zur konkreten Rückkehrsituation der Erstbeschwerdeführerin hat die belangte Behörde unter diesen Gesichtspunkten nichts ermittelt.
1.2. Zur Frage, ob bei der Erstbeschwerdeführerin eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte, anzunehmen ist, hat die belangte Behörde nur ansatzweise ermittelt.
1.3. Die belangte Behörde hat es unterlassen, den Aufenthaltsort der Eltern und Geschwister der Erstbeschwerdeführerin zu ermitteln, insbesondere, ob diese in Österreich oder im Iran leben. Hierzu setzte sie nur völlig ungeeignete Ermittlungsschritte.
1.4. Die Frage, ob die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer Verwandte in Afghanistan oder sonstwo haben, die sie bei einer Rückkehr tatsächlich unterstützen könnten, wurde nur ansatzweise ermittelt.
Die belangte Behörde ermittelte nicht, inwiefern ihre Verwandten tatsächlich willens und in der Lage sind, sie bei einer Rückkehr zu unterstützen. Die belangte Behörde verabsäumte es insbesondere, die Erstbeschwerdeführerin und den Zweitbeschwerdeführer zur konkreten Lebenssituation jener Personen zu befragen, die sich bei einer Rückkehr unterstützen könnten. Die belangte Behörde ermittelte insbesondere nicht, inwieweit die Beschwerdeführer am Ort der angenommenen innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul das aufgrund der Familienkonstellation notwendig erscheinende tragfähige (familiäre) Solidarnetzwerk vorfinden würden.
1.5. Die belangte Behörde verabsäumte es, zu klären, inwieweit die von der Erstbeschwerdeführerin ins Treffen geführten körperlichen Misshandlungen durch den Zweitbeschwerdeführer zutreffen und inwieweit (allenfalls: dennoch) bei einer Rückkehr eine (finanzielle) Unterstützung durch den Zweitbeschwerdeführer im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan angenommen werden kann.
1.6. Ungeklärt blieb seitens der belangten Behörde auch, wer die Obsorge für den minderjährigen Drittbeschwerdeführer hat und bei einer Rückkehr für die beiden minderjährigen Beschwerdeführer haben würde, was ebenso bei der Beurteilung der Rückkehrsituation wesentlich ist.
1.7. Die belangte Behörde ermittelte die konkrete Rückkehrsituation in der Stadt Kabul für die minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer, insbesondere die dort herrschende Sicherheitslage und Bewegungsfreiheit für Minderjährige, nicht. Die belangte Behörde unterließ Ermittlungen zu der Frage, ob den (vulnerablen) minderjährigen Beschwerdeführern bei einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in Kabul, eine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte droht.
1.8. Die belangte Behörde unterließ schließlich angezeigte Ermittlungen zur Identität der Erstbeschwerdeführerin.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Die belangte Behörde hat zur Situation geschiedener und alleinerziehender Frauen in Afghanistan keinerlei konkrete Ermittlungen getätigt, sodass dies entsprechend festzustellen war. Die belangte Behörde hat dabei weder allgemeine Länderberichte zur Situation von geschiedenen und alleinerziehenden Frauen eruiert noch sich mit der konkreten diesbezüglichen Lebenssituation der Erstbeschwerdeführerin bei einer Rückkehr auseinandergesetzt.
2.2. Dass die belangte Behörde in der Frage der Lebensführung (vgl. dazu grundlegend VwGH 22.3.2017, Ra 2017/18/0301 bis 0306-6 und 23.01.2018, Ra 2016/18/0388) der Erstbeschwerdeführerin bloß ansatzweise ermittelt hat, ergibt sich bereits aus der unsubstantiierten Beweiswürdigung dazu, nämlich, dass die Erstbeschwerdeführerin weder "besonders westlich gekleidet" gewesen sei noch eine "besondere westliche Lebensweise" vorgebracht habe (vgl. AS 238 im Akt zu W220 2181783-1). Diese Würdigung lässt auf ein gänzliches Fehlen verwertbarer Beweisergebnisse und damit auf fehlende Ermittlungen schließen. Es ist zudem weder ein Ermittlungsergebnis dazu ersichtlich, was die belangte Behörde als "besonders westliche" Kleidung annimmt und inwiefern die Erstbeschwerdeführerin dem (nicht) entspricht.
2.3. Der Zweitbeschwerdeführer brachte am 17.08.2017 vor, dass die Eltern der Erstbeschwerdeführerin sich ebenfalls in Österreich aufhalten würden (AS 157 und 164 im Akt zu W220 2181184-1). Unter Nennung eines konkreten Namens dieser Person und ihres Wohnorts in Österreich brachte er in der Beschuldigtenvernehmung vom 07.06.2017 zudem vor, dass der Vater der Erstbeschwerdeführerin unter falscher Identität in Österreich leben würde (AS 71 im Akt zu W220 2181184-1). Zudem gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass die Geschwister der Erstbeschwerdeführerin in Österreich leben würden (AS 164 im Akt zu W220 2181184-1). Die Erstbeschwerdeführerin hingegen gab in der Stellungnahme vom 16.11.2017 an, dass ihre Familie im Iran leben würde (AS 113 im Akt W220 2181783-1). Die belangte Behörde ging dem nicht weiter nach, ermittelte also nur ansatzweise und versuchte damit, schwierige Ermittlungen auf das Bundesverwaltungsgericht zu überwälzen. Gleichzeitig ist der von der belangten Behörde gesetzte Ermittlungsschritt - nämlich eine schriftliche Aufforderung zur Stellungnahme, in der nochmals der Aufenthaltsort der Familienmitglieder angefragt wurde (AS 107) - vor dem Hintergrund, dass die Erstbeschwerdeführerin ja schon durchwegs angegeben hatte, dass ihre Familie im Iran lebte, und der Zweitbeschwerdeführer hier ein absichtliches falsches Vorbringen ihrerseits behauptet hatte, völlig ungeeignet. Die belangte Behörde ermittelte aber trotz konkreten Anhaltspunkten (Name, Aufenthaltsort in Österreich), die der Zweitbeschwerdeführer äußerte, dahingehend nichts. Daraus ergeben sich auch Anhaltspunkte dafür, dass die belangte Behörde schwierige Recherchen, wie etwa die Ausforschung der vom Zweitbeschwerdeführer bezeichneten Person und ein allenfalls bestehendes Verwandtschaftsverhältnis, auf das erkennende Gericht überwälzen wollte.
Die Klärung dieser Frage ist nicht nur hinsichtlich der wesentlichen Frage von Unterstützungsmöglichkeiten seitens der Familie der Erstbeschwerdeführerin, sondern auch für die wesentliche Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit der Erstbeschwerdeführerin einerseits und des Zweitbeschwerdeführers andererseits maßgeblich.
2.4. Die Erstbeschwerdeführerin bezeichnete vor dem BFA in Afghanistan lebende Tanten und Onkel mütterlicher- wie väterlicherseits und führte zudem aus, dass die Familie des Zweitbeschwerdeführers in Afghanistan leben würde (AS 55 im Akt W220 2181184-1; dementsprechend auch seine Angaben AS 158f im Akt zu W220 2181184-1). Da die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer zueinander im Verwandtschaftsverhältnis von Cousine und Cousin stehen (AS 54 im Akt zu W220 2181783-1, er ist ihr Cousin väterlicherseits), betrifft die Frage von verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkten in Afghanistan sämtliche Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer Rückkehrsituation.
Der Feststellung im Bescheid der Erstbeschwerdeführerin zur Unterstützung durch Verwandte aus dem Iran und Afghanistan (AS 141 im Akt W220 2181783-1) steht kein entsprechendes Ermittlungsergebnis gegenüber, da die belangte Behörde es verabsäumte, bezüglich deren Existenz und wirtschaftlichen Möglichkeiten Ermittlungen anzustrengen. Die Annahme der Existenz von Verwandten reicht nicht hin, um auch deren tatsächliches Unterstützungspotential anzunehmen - diesbezüglich stellte die belangte Behörde aber keinerlei Ermittlungen an. Die Ermittlung der konkreten Lebensumstände jener Personen, die potentiell Unterstützung leisten könnten - und zwar, ob sie willens und in der Lage sind, die rückkehrenden Familienmitglieder zu unterstützen, unterließ die belangte Behörde (vgl. zur Notwendigkeit dieser konkreten Ermittlung VfGH 12.12.2018 E 667-672/2018).
2.5. Soweit die belangte Behörde das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin einer "vermeintlich schlechten Behandlung durch Ihren Ehemann" tragend deshalb die Glaubwürdigkeit abspricht, weil sie in Österreich eine zeitlang zusammenwohnten, in dieser Zeit der Viertbeschwerdeführer gezeugt wurde und ihren Angaben entgegnet, dass sie, wenn sie derart große Bedenken gegen das Zusammenleben mit ihm gehabt hätte, "diese mit den NGOs und Behörden teilen" hätte können und er dann nicht in einer gemeinsamen Unterkunft untergebracht worden wäre, ignoriert die belangte Behörde nicht nur ihre in der Einvernahme vor dem BFA selbst gemachten, deutlichen Angaben zu körperlichen Misshandlungen durch den Zweitbeschwerdeführer (AS 56 im Akt zu W220 2181783-1), sondern auch jene sich aus dem Speicherauszug aus dem GVS-Betreuungsinformationssystem ergebenden Bestrebungen zu einer getrennten Unterbringung bereits ab März 2016 sowie den Abschlussbericht der LPD XXXX zur Beschuldigung des Zweitbeschwerdeführers der gefährlichen Drohung gegenüber der Erstbeschwerdeführerin (AS 63 im Akt zu W220 2181184-1). Der Sachverhalt wurde damit nur ansatzweise ermittelt. Durch das Ignorieren dieser Hinweise ergeben sich auch Anhaltspunkte dafür, dass die belangte Behörde schwierige Recherchen, wie etwa zur Gewalt in der Familie, auf das erkennende Gericht überwälzen wollte.
2.6. Der Mitteilung des BG XXXX vom 23.10.2017 (AS 105 im Akt zu W220 2181783-1) ist zu entnehmen, dass keine Entscheidung über die Obsorge getroffen wurde und diese nach Ansicht des BG XXXX nach afghanischem Recht zu beurteilen ist. Die belangte Behörde ermittelte dazu nichts. Soweit die belangte Behörde davon ausgeht, dass Kinder nach Scheidung bei der Mutter verbleiben können und der Vater Unterhalt bezahlt (AS 411 im Akt zu W220 2181184-1), ist nicht ersichtlich, auf welche Länderberichte sie sich dabei stützt und ob das auch im konkreten Einzelfall angenommen werden kann, sodass auch hier kein tragfähiges Ermittlungsergebnis vorliegt. Damit blieb insbesondere die Rückkehrsituation der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer ungeklärt.
2.7. Im vorliegenden Fall ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich im Hinblick auf die Minderjährigkeit des Dritt- und Viertbeschwerdeführers um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt (vgl. dazu umfassend VwGH 21.03.2018 Ra 2017/18/0474)). Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob ihnen bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinn bereits VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0089, mwN; 30.8.2017, Ra 2017/18/0036, mwN). Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die Beschwerdeführer in Kabul tatsächlich vorfinden, insbesondere unter Berücksichtigung der dort herrschenden Sicherheitslage und Bewegungsfreiheit. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes lässt die Feststellung, dass die Lage in Kabul vergleichsweise sicher und stabil sei, nämlich keinen Rückschluss darauf zu, dass dies in gleicher Weise für besonders vulnerable Personen gilt. Die belangte Behörde hat die Ermittlung dieser konkreten Rückkehrsituation, insbesondere auf Basis aktueller Berichte, unterlassen.
2.8. Das Geburtsdatum in der vorgelegten Tazkira der Erstbeschwerdeführerin, der 23.09.1991, entspricht nicht dem von der Erstbeschwerdeführerin angegebenen Geburtsdatum des " XXXX " (AS 67 im Akt zu W220 2181783-1). Diese Frage betrifft nicht nur die Identität der Erstbeschwerdeführerin, sondern auch ihre persönliche Glaubwürdigkeit. Aktenwidrig geht die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid von der Nichtvorlage von Identitätsdokumenten aus (AS 234 im Akt zu W220 2181783-1). Auch hier strengte die belangte Behörde keine Sachverhaltsermittlung an.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A):
3.1. Zur Zurückverweisung der Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl:
Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.
3.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat zusammengefasst in verschiedenen Erkenntnissen betont, dass eine umfangreiche und detaillierte Erhebung des asylrechtlich relevanten Sachverhalts durch die Behörde erster Instanz durchzuführen ist. Die Behörde hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Die Behörde darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründungen hinwegsetzen (vgl. VwGH 10.04.2013, 2011/08/0169).
Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof, etwa in seinem Erkenntnis vom 7.11.2008, Zl. U 67/08-9, ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhalts (vgl. VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 m. w. N., 14.421/1996, 15.743/2000).
Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Sind (lediglich) ergänzende Ermittlungen vorzunehmen, liegt die (ergänzende) Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG (vgl. zum Ganzen zuletzt VwGH "11.01.2018" [Anm.: richtig: 11.01.2019] Ra 2018/18/0363 mit Verweis auf VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0115, mwN).
3.3. Die gegenständliche Behebung und Zurückverweisung an die belangte Behörde steht nach Ansicht des erkennenden Gerichts mit diesen höchstgerichtlichen Leitlinien im Einklang:
Wie oben in den Feststellungen und der Beweiswürdigung aufgezeigt, hat die belangte Behörde auf sämtlichen Ebenen unzureichend ermittelt. Dabei führte sie zum einen nur ansatzweise Ermittlungen durch: So etwa zur Frage einer Lebensführung bei der Erstbeschwerdeführerin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt (vgl. Punkte 1.2. und 2.2.), zu Unterstützungsmöglichkeiten durch Verwandte bei einer Rückkehr (vgl. Punkte 1.4. und 2.4.), zur Frage, bei wem die minderjährigen Kinder bei einer Rückkehr leben würden (vgl. Punkte 1.6. und 2.6.) und zur Identität der Erstbeschwerdeführerin (vgl. Punkte 1.8. und 2.8.). Zum anderen unterließ sie in wesentlichen Punkten die notwendige Ermittlung des Sachverhalts überhaupt: Dies zur Situation der Erstbeschwerdeführerin als geschiedene, alleinstehende und (allenfalls) alleinerziehende Frau (vgl. Punkte 1.1. und 2.1.) ebenso wie zur konkreten Rückkehrsituation in der Stadt Kabul für die minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer, insbesondere bezüglich der dort herrschenden Sicherheitslage und Bewegungsfreiheit für Minderjährige (vgl. Punkte 1.7. und 2.7.). Hinsichtlich des Aufenthalts der Familienmitglieder der Erstbeschwerdeführerin setzte die belangte Behörde lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte, da durch die schriftliche Nachfrage einerseits kein persönlicher Eindruck von der Erstbeschwerdeführerin gewonnen werden konnte, und andererseits sie auch nicht konkret mit den Angaben des Zweitbeschwerdeführers konfrontiert wurde. Zudem ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass die belangte Behörde schwierige Ermittlungen auf das erkennende Gericht überwälzen wollte, weil die Ausforschung vermeintlich in Österreich aufhältiger Verwandter und allenfalls die Feststellung eines Verwandtschaftsverhältnisses aufwändige Ermittlungen sind, die die belangte Behörde trotz konkreten Hinweisen des Zweitbeschwerdeführers unterließ (vgl. zu alldem Punkte 1.3. und 2.3). Krass sind nach Ansicht des erkennenden Gerichts auch die Ermittlungslücken hinsichtlich des Vorwurfs körperlicher Misshandlungen (vgl. dazu Punkte 1.5. und 2.6.). Durch das Ignorieren der Hinweise darauf ergeben sich auch Anhaltspunkte dafür, dass die belangte Behörde schwierige Recherchen auf das erkennende Gericht überwälzen wollte: Der Zweitbeschwerdeführer bestreitet nämlich die Beschuldigungen der Erstbeschwerdeführerin, eine strafgerichtliche Verurteilung des Zweitbeschwerdeführers wegen dieser Vorwürfe gibt es nicht, und die belangte Behörde vernahm auch keinen Zeugen ein, obwohl Wahrnehmungen Dritter (etwa des Unterkunftgebers oder des Freundes der Erstbeschwerdeführerin) aus dem Akteninhalt indiziert sind.
Zusammenschauend verdichten sich die auf sämtlichen Ebenen bestehenden Ermittlungsmängel derart, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht nur ergänzende Ermittlungen vorzunehmen hätte, sondern den maßgeblichen Sachverhalt in seinen wesentlichen Fragestellungen überhaupt erst ermitteln müsste. Insbesondere, weil damit die erwähnten, schwierigen und aufwändigen Ermittlungen auf das Bundesverwaltungsgericht übertragen wären, wobei v.a. im Hinblick auf die Ausforschung allenfalls in Österreich lebender, im Asylverfahren befindlicher Verwandter die belangte Behörde rascher handeln könnte als das erkennende Gericht, ist die umfassende Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts nicht im Interesse der Raschheit iSd § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG gelegen.
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden wäre, ist zudem angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes nicht ersichtlich. Das Verfahren würde durch eine Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht keine Beschleunigung erfahren, zumal die Verwaltungsbehörde bereits mit der Ermittlungstätigkeit begonnen hat und somit die notwendigen Ermittlungen wesentlich rascher und effizienter nachholen kann. Eine Verfahrensführung durch das BVwG ist zudem aufgrund des aktuell gegebenen notorischen Überhangs von Beschwerdeverfahren am BVwG im Gegensatz zu den beim BFA anhängigen Verfahren keinesfalls im Interesse der Raschheit gelegen.
Ausgehend von diesen Überlegungen war im vorliegenden Fall das dem Bundesverwaltungsgericht im Sinne des § 28 Abs. 3VwGVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung zu üben.
4. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung:
Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen, zumal aufgrund der Aktenlage feststeht, dass die mit Beschwerde angefochtenen Bescheide aufzuheben ist.
Zu Spruchteil B):
Gemäß § 25 Absatz 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF., hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Der gegenständliche Beschluss stützt sich maßgeblich auf die sich aus den Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs zu VwGH "11.01.2018" [Anm.: richtig:
11.01.2019] Ra 2018/18/0363; VwGH 06.09.2018, Ra 2018/18/0115 (Möglichkeit der Zurückverweisung bei krassen/besonders gravierenden Ermittlungsmängeln); VwGH 10.04.2013, 2011/08/0169 und VfGH VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001 (Ermittlungspflichten der Behörde) ergebenden höchstgerichtlichen Leitlinien.
Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgekommen.
Die oben in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des VwGH ist zwar teilweise zur früheren Rechtslage ergangen, sie ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Gerichts auf die inhaltlich meist völlig gleich lautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, individuelleEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W220.2181779.1.00Zuletzt aktualisiert am
17.05.2019