TE Bvwg Erkenntnis 2018/12/14 W172 2139196-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.12.2018
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Entscheidungsdatum

14.12.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W172 2139196-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Martin MORITZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX 1998, StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, Nikolsdorfer Gasse 7-11, 1050 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.10.2016, Zl. 1073466600-150663703, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.01.2018 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: "Beschwerdeführer") stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 I.d.g.F. (im Folgenden auch: "AsylG 2005").

Am XXXX 2015 erfolgte die Erstbefragung des Beschwerdeführers durch die LPD Steiermark.

2. Der Beschwerdeführer wurde am 01.10.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: "BFA") niederschriftlich einvernommen.

3. Mit oben im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 11.10.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 I.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 I.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und es wurde gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 I.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (im Folgenden auch: "BFA-VG") eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden auch: "FPG") erlassen. Weiters wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

4. Gegen alle Spruchpunkte dieses Bescheides wurde vom Beschwerdeführer fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde mit oben im Spruch genannten Schriftsatz vom 25.10.2016 erhoben.

5. Am 16.01.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden auch: "BVwG") eine mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer als Partei teilnahm. Das BFA verzichtete auf die Teilnahme an der Verhandlung.

In diese Verhandlung wurde ein Gutachten des in diesem Verfahren bestellten Sachverständigen vom 13.11.2017 zur Frage der politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in dessen Herkunftsstaat eingeführt (s. weiter unten Pkt. II.1.2.).

Weiters wurden in diese Verhandlung Unterlagen und darauf aufbauende aktuelle Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan eingeführt (s. weiter unten Pkt. II.1.3.).

6. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte mit Schreiben vom 16.08.2018 dem Beschwerdeführer eine Verständigung vom Ergebnis seiner aktualisierten Beweisaufnahme zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan (s. weiter unter Pkt. II.1.3.).

7. Hierauf erwiderte der Beschwerdeführer mit einer Stellungnahme mit Schreiben vom 30.08.2018.

8. In das Verfahren wurden neben den vom BFA und vom Bundesverwaltungsgericht eingeführten (s. weiter unten) u.a. folgende entscheidungsrelevante Bescheinigungsmittel vorgelegt, nämlich, zu:

-

gesundheitlichen Beschwerden;

-

Deutschsprachkursen;

-weiteren Integrationsmaßnahmen;

-

gemeinnützigen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeiten sowie

-

sonstigen Integrationsbemühungen (s. Empfehlungsschreiben).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person und zum Vorbringen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den oben im Spruch wiedergegebenen Namen, ist am XXXX 1998 in Wardak in Afghanistan geboren, Staatsangehöriger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara sowie dem schiitischen Glaubensbekenntnis an. Sein Familienstand ist ledig. Seine Muttersprache ist Dari. An Schulausbildung weist er keine auf, abgesehen von einem drei-/viermonatigen Flüchtlingskurs in Pakistan. Er war Analphabet. Als Berufsausbildung weist er Teppichknüpfer auf, diesen Beruf übte er als Hilfsarbeiter auch zuletzt aus. Er lebte seit dem dritten Lebensjahr in Pakistan, nach ca. neun Jahren übersiedelte er direkt in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise im Frühjahr 2016 lebte. An Familienangehörigen lebten in Afghanistan noch seine Mutter und sein jüngerer Bruder. Vom Iran aus unterstützte er finanziell seine Mutter. Zu seinen Familienangehörigen hat er wieder einen Kontakt. Sie halten sich nun im Iran auf.

Der Beschwerdeführer wies im Herbst 2017 Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Zeichen einer erhöhten Ängstlichkeit bei Belastung und depressive Gedanken auf. Weitere gesundheitliche Beschwerden liegen beim Beschwerdeführer nicht vor.

Der Beschwerdeführer hält sich seit ca. Juni 2015 in Österreich auf und ist hier sowohl verwaltungsstrafrechtlich als auch strafgerichtlich unbescholten.

Das folgende Vorbringen des Beschwerdeführers zu seinem Aufenthalt in Österreich im Rahmen der oben genannten mündlichen Verhandlung wird nachfolgend in die Feststellungen aufgenommen (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG), wonach er seine A1-Deutschprüfung positiv abgelegt, für A2 er schon zwei Monate gelernt, aber die Prüfung noch nicht abgelegt habe. Er habe keine ordentliche Beschäftigung in Österreich. Manchmal, 1 bis 2 Tage in der Woche, arbeite er. Er gehe dann zu irgendwelchen Veranstaltungen von Firmen, wo er von der Gemeinde dorthin geschickt werde. Es handle sich dabei um Weihnachts- und Fußballveranstaltungen. Er bekomme 5 EUR/Stunde. Das zeitliche Ausmaß sei unterschiedlich, manchmal eine Stunde, manchmal zwei, manchmal auch drei Stunden. Er sei in keinem Verein tätig. Er habe österreichische Freunde, die er dort kennengelernt habe, wo er lebe, so auch seine österreichische Familie. Er wohne in XXXX in einer privaten Wohnung. Dort lebe er allein. Er habe in Österreich keine Lebensgefährtin. Seine Familie sei vor ca. 8 Monaten von Afghanistan in den Iran gekommen.

Das darüber hinausgehende Vorbringen des Beschwerdeführers zu den Gründen, weshalb er Verfolgungshandlungen gegen ihn in Afghanistan im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat befürchte, wurde nicht in die Feststellungen aufgenommen.

1.2.1. Befund und Gutachten des Sachverständigen zur Frage der politischen und menschenrechtlichen Situation in Afghanistan im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in dessen Herkunftsstaat vom 13.11.2017 (nicht-inhaltlich/-sinnändernde Ergänzungen wurden vorgenommen bzw. Schreibfehler korrigiert; Anm. des BVwG; BF:

Beschwerdeführer):

"Forschungsmethodik:

Literaturrecherche und Verwendung von Informationen aus Afghanistan, die ich während meiner Forschungsreise, zuletzt im Februar 2017, gesammelt habe.

Das Vorbringen des BF im Wesentlichen:

Der BF gibt an, XXXX zu heißen, im Jahre 1998 in XXXX in Maydan Wardak geboren zu sein. Er gehöre der Ethnie Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung. Sein Bruder heiße XXXX (16 Jahre im Jahre 2015). Sein Vater habe XXXX geheißen und er sei verschwunden seit er ein kleines Kind gewesen sei. Er sei 2 Jahre alt gewesen als seine Familie mit ihm nach Pakistan abgewandert sei. Der BF habe keine Schule besucht und er habe lediglich in Pakistan 3-4 Monate einen Flüchtlingskurs besucht. Seine Familie stamme aus XXXX in Maidan Wardak und er habe seit der Rückkehr seiner Familie nach Afghanistan keinen Kontakt mit seiner Mutter. Aber habe er vom Iran aus seine Mutter unterstützt, indem er durch eine Person aus seiner Heimatregion in Maydan Wardak, der auch im Iran gewesen sei, Geld geschickt habe. Er wollte auch nach Afghanistan zurück, aber seine Mutter habe ihm geraten, nicht nach Afghanistan zurückzukehren, während sie mit seinem Bruder nach Afghanistan zurückgekehrt sei. Über seine Heimatregion kenne er sich nicht aus, wo genau sie liege, ob sie eine Stadt sei, ein Dorf, könne er auch nicht angeben.

Fluchtvorbringen des BF:

In Afghanistan herrsche Krieg, er werde als Hazara und Schiit verfolgt und er kenne sich in Afghanistan nicht aus. Er möchte auch in den Großstädten wie Kabul und Mazar-e Sharif nicht zurückkehren, weil dort Bombenanschläge stattfinden würden. Er würde auch von den Taliban verfolgt werden. Aber er sei in Afghanistan als Hazara keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen.

Zum Vorbringen des BF:

Zur Identität des BF:

Die Angaben des BF zur seiner Herkunftsregion beschränken sich auf die Nennung eines Ortes in Maydan Wardak, welches er nicht weiter beschreiben kann, weil er nach seinen Angaben als Kleinkind von seiner Familie nach Pakistan mitgenommen worden und nicht mehr wieder nach Afghanistan zurückgekehrt ist. In Maydan Wardak existieren zwei Orte mit den Namen XXXX bzw. XXXX oder XXXX . Üblicherweise können auch junge Afghanen, die in Pakistan und im Iran leben, ihre Herkunftsorte ungefähr beschreiben, wenn sie mit ihren Landsleuten aus ihrer Herkunftsregionen in Kontakt sind und diese immer wieder nach Afghanistan zurückkehren. Besonders wenn der BF imstande war, durch einen Landsmann seiner Mutter Geld zu schicken, dann hätte er die Möglichkeit, auch über diese Person Information über seine Heimatregion zu beschaffen.

Betreffend die Fluchtgründe des BF:

Eine Verfolgungsgefahr für den BF auf Grund von Feindschaften zwischen seiner Familie und einer anderen Familie oder einer anderen Person in seiner Heimatregion konnte ich aus seinen bisherigen Angaben nicht feststellen; er hat auch keine Privatfeindschaft geltend gemacht. Wie der BF selber bei der Einvernahme im BFA angegeben hat, ist seine Familie, insbesondere seine Mutter und sein Bruder, nach Afghanistan zurückgekehrt.

Er hat dann seine Mutter über eine andere Person aus seiner Heimatregion in Afghanistan, die nach Afghanistan gereist ist, vom Iran aus finanziell unterstützt. Das bedeutet, dass speziell gegen den BF und seiner Familie eine gegen ihn gerichtete Verfolgungsgefahr wegen einer Privatfeindschaft nicht vorhanden ist. Wenn es eine Privatfeindschaft gegeben hätte, wäre der Bruder des BF auf alle Fälle von einer Sippenhaft betroffen.

Betreffend die Stellung der Hazara und Schiiten in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban 2001:

Die Schiiten und Hazaras haben nach dem Sturz des Taliban-Regimes zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans im Staat eine Gleichberechtigung erlangt und sie können in der sunnitischen Gesellschaft nicht wie früher diskriminiert werden. Sie sind imstande, gegen die Diskriminierung offen und kraft ihrer Möglichkeiten im Staat und ihrer erlangten Stellung in der Gesellschaft sich zu wehren und zu schützen. Sie sind in den staatlichen Institutionen, in der Gerichtsbarkeit, im Sicherheitsapparat, im Parlament und in der Regierung überproportional vertreten. Sie kontrollieren hauptsächlich die von ihnen bewohnten Regionen, wie Bamiyan, Daykundi, West-Kabul, Teile Maidan Wardak, Teile Ghazni und ein Teil der Nordwest Afghanistan, in Samangan, in Sar-e Pol und Mazar-e Sharif. Sie stellen in diesen Regionen die Verwaltung und sind auch in der Lage, sich vor den Angriffen der Taliban auf ihre Gebiete zu schützen, soweit sie die Mehrheit in ihren Heimatregionen stellen und die Verwaltung ausschließlich von diesen bestimmt ist und die Amtsträger auch Hazaras sind.

Die Hazaras, die sich außerhalb ihrer Herrschaftsgebiete bewegen und auf der Reise sind, können manche von diesen von den Taliban angehalten und auch mitgenommen werden mit dem Vorwand, dass sie Hazaras seien, die gegen die Taliban eingestellt wären oder dass sie mit der Behörde oder Ausländern zusammenarbeiten würden.

Gebiete, wo die Hazara wohnen und diese Wohngebiete nicht von den Hazaras selbst kontrolliert werden oder sich außerhalb ihrer Kerngebiete z.B. in Bamiyan, Ghazni, Kabul und Mazar-e Sharif befinden, können von den Taliban leicht überrannt werden, und wenn die Taliban diese Gebiete einnehmen, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Taliban in diesen Gebieten Massaker ausüben.

Kürzlich wurde ein hauptsächlich von den Hazara bewohntes Dorf namens Mirza Wolang im Distrikt Sayad in der Provinz Sar-e Pol in Nordwest Afghanistan von den Taliban kurzfristig eingenommen und sie haben mehr als 50 Personen massakriert, die meisten der getöteten Personen gehörten der Ethnie Hazara an, die teilweise die lokale Polizei, eine Art Dorfschützen, stellten. Diese Taliban gehörten zu verschiedenen Ethnien Afghanistans und waren nicht ausschließlich Paschtunen. Außerdem gehörten diesen Angreifer auch ausländische Terroristen aus Usbekistan an [...]. Ich möchte gleichzeitig nicht unerwähnt lassen, dass die Taliban auch in den paschtunischen, usbekischen und tadschikischen Gebieten nach ihren Angriffen Massaker an die Bevölkerung verüben, wenn sie deren Wohngebiete einnehmen. Z.B. haben die Taliban, wenn sie ein Gebiet einnehmen, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit dieses Gebietes [...] Kunduz eingenommen und mehrheitlich Tadschiken in der Stadt Kunduz massakriert haben unter dem Vorwand, dass sie der lokalen Polizei angehören, die Regierung unterstützen und den Sicherheitsorganen gedient haben [...]."

1.2.2. Zur politischen und menschenrechtlichen Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Aufgrund der vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018):

"Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/1434081.html, Zugriff 4.6.2018

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AA - Auswärtiges Amt (9.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/1253781/4598_1478857553_3-deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-islamischen-republik-afghanistan-19-10-2016.pdf, Zugriff 23.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (6.5.2018): Afghanistan's Paradoxical Political Party System: A new AAN report, https://www.afghanistan-analysts.org/publication/aan-papers/outside-inside-afghanistans-paradoxical-political-party-system-2001-16/, Zugriff 28.5.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (12.4.2018): Afghanistan Election Conundrum (6): Another new date for elections, https://www.afghanistan-analysts.org/afghanistan-election-conundrum-6-another-new-date-for-elections/, Zugriff 16.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (25.11.2017): A Matter of Regisration: Factional tensions in Hezb-e Islami, https://www.afghanistan-analysts.org/a-matter-of-registration-factional-tensions-in-hezb-e-islami/, Zugriff 16.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (11.10.2017): Mehwar-e Mardom-e Afghanistan: New opposition group with an ambiguous link to Karzai, https://www.afghanistan-analysts.org/mehwar-e-mardom-e-afghanistan-new-opposition-group-with-an-ambiguous-link-to-karzai/, Zugriff 28.5.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (21.8.2017): The Ghost of Najibullah: Hezb-e Watan announces (another) relaunch, https://www.afghanistan-analysts.org/the-ghost-of-najibullah-hezb-e-watan-announces-another-relaunch/, Zugriff 28.5.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (4.5.2017): Hekmatyar's Return to Kabul: Background reading by AAN, https://www.afghanistan-analysts.org/hekmatyars-return-to-kabul-background-reading-by-aan/, Zugriff 17.4.2018

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AAN - Afghanistan Analysts Network (3.5.2017): Charismatic, Absolutist, Divisive: Hekmatyar and the impact of his return, https://www.afghanistan-analysts.org/charismatic-absolutist-divisive-hekmatyar-and-the-impact-of-his-return/, Zugriff 17.4.2018

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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