Entscheidungsdatum
04.12.2018Norm
AsylG 2005 §8 Abs1Spruch
W191 2135139-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung und Diakonie, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.08.2016, Zahl 1073515302-150675035, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.02.2017 und am 13.08.2018 zu Recht:
A)
I. In Stattgebung der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
II. Von der Erteilung einer befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird im Hinblick auf die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 28.03.2018 rechtskräftig gewährte Aufenthaltsberechtigung bis 17.02.2020 abgesehen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben am 14.06.2015 irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und wurde im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle am Bahnhof in 2423 Nickelsdorf mangels eines gültigen Aufenthaltstitels vorläufig festgenommen. Er stellte einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
Eine EURODAC-Abfrage vom 15.06.2015 ergab, dass der BF am 29.05.2015 in Mytilini (Griechenland) erkennungsdienstlich behandelt worden war.
1.2. In seiner Erstbefragung am 15.06.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion (PI) Spielfeld AGM (Ausgleichsmaßnahmen) gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er stamme aus XXXX , Distrikt Jalrez, Provinz Maidan Wardak, Afghanistan, sei am XXXX geboren, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, sunnitischer Moslem und ledig. Er habe sechs Jahre lang die Grundschule in Jalrez besucht.
Er habe seine Heimat am 05.05.2015 verlassen und sei per PKW in den Iran und weiter über ihm unbekannte Länder bis nach Österreich gereist. In einem Land seien ihm die Fingerabdrücke abgenommen worden. Die Reise habe sein Onkel mütterlicherseits organisiert und 7.000 US-Dollar gekostet.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er auf Aufforderung der Taliban eine Bombe in einer Polizeidienststelle hätte deponieren sollen. Da er die Polizisten informiert habe und diese die Bombe entschärft hätten, würden ihn die Taliban umbringen wollen, sodass er das Land verlassen habe.
1.3. Dem Verwaltungsakt liegt ein Aktenvermerk mit der Überschrift "Indikatoren für Altersfeststellung" ein (Aktenseite 39), dem zu entnehmen ist, dass die belangte Behörde Zweifel an dem vom BF angegebenen Alter gehegt hat.
In Beantwortung einer darauffolgenden Ladung des BF zur Altersfeststellung teilte dieser mit Schreiben seiner Rechtsberaterin vom 23.06.2015 mit, dass er mit seiner Mutter in Afghanistan Kontakt aufgenommen habe und diese ihm mitgeteilt habe, dass er am XXXX (umgerechnet XXXX ) geboren sei. Er wolle die Angabe aus der Erstbefragung berichtigen. Auch seinen Vornamen korrigierte der BF geringfügig.
Der BF wurde unter Ausfolgung einer Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß § 51 AsylG zum Asylverfahren zugelassen.
1.4. Bei seiner Einvernahme am 20.07.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Wien, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben. Sein Vater sei gestorben, als er ein bis zwei Jahre alt gewesen sei. Seine Mutter habe nach dem Tod seines Vaters noch einmal geheiratet und drei weitere Söhne geboren. Die Familie lebe in Jalrez und verdiene ihren Lebensunterhalt - wie einst der BF - mit Landwirtschaft.
Der BF schilderte auf Befragung seinen Fluchtgrund näher.
Weiters gab er an, dass sein Großvater nach dem Tod des Vaters des BF psychische Probleme bekommen und vor 16 Jahren ein Mädchen vergewaltigt habe. Damit er nicht gesteinigt werde, hätten die Dorfältesten beschlossen, dass der BF das Mädchen heiraten müsse, was er aber nicht wolle.
Nach Kabul könne er nicht gehen, da der Bruder jenes Mannes, der seinen Vater getötet habe, auch getötet worden sei, und dessen Familie, die in Kabul lebe, nun seine Familie dafür beschuldige.
Zu seiner Gesundheit befragt gab der BF an, dass er depressiv sei und unter Schlaflosigkeit leide.
Laut Niederschrift wurde dem BF die Möglichkeit eingeräumt, in das Länderinformationsblatt zu seinem Heimatland Einsicht zu nehmen.
1.5. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 23.08.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 14.06.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF zwei Wochen [richtig: 14 Tage] ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF sei unglaubhaft. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Seine Fluchtgeschichte habe der BF äußerst vage, teilweise widersprüchlich und insgesamt nicht plausibel nachvollziehbar dargestellt und somit nicht glaubhaft gemacht, wofür einzelne Punkte angeführt wurden.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes nicht gegeben sei. Der BF könne auf der sogenannten "Ring-Road" relativ sicher in seine Heimatprovinz Maidan Wardak gelangen, wo er seine Kernfamilie, "zu "welcher er im Kontakt habe", habe. Zudem stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative, "z.B. die Hauptstadt Kabul", offen.
1.6. Gegen diesen Bescheid richtete sich das mit Schreiben seines gewillkürten Vertreters vom 06.09.2016 fristgerecht eingebrachte Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG), mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich angefochten wurde.
In der Beschwerdebegründung wurde nach einer Auflistung diverser Medienberichte über Vorfälle in Afghanistan (zum Teil in englischer Sprache) im Wesentlichen ausgeführt, dass in Afghanistan Krieg zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung herrsche und der Staat nicht funktioniere.
Dem "Bundesasylamt" sei es nicht gelungen, die Glaubwürdigkeit "der Beschwerdeführerin" zu widerlegen, die Beweiswürdigung enthalte im Wesentlichen vorgeformte formelhafte Textbausteine, denen jeglicher Begründungswert fehle, ohne den Fall des BF einer ordnungsgemäßen Prüfung zu unterziehen.
1.7. Vor dem BVwG wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 06.02.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durchgeführt, zu der der BF persönlich in Begleitung eines gewillkürten Vertreters erschien. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben. Die Verhandlungsschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.
Dem BF wurden der bisherige Verfahrensgang und der Akteninhalt erläutert und zur Akteneinsicht angeboten.
Dabei machte der BF auf richterliche Befragung Angaben zu seinen persönlichen Lebensumständen und zu seinen Fluchtgründen, die im Wesentlichen mit seinen Angaben vor dem BFA übereinstimmten, und legte mehrere Belege zu seiner Integration in Österreich (hauptsächlich Kursbestätigungen) vor.
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (Auszüge aus gutachterlichen Stellungnahmen eines Ländersachverständigen zur Verfolgung durch die Taliban sowie zur Lage in Kabul, Auszug aus dem Dossier der Staatendokumentation des BFA vom Juli 2016 zu "Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur" in Afghanistan und Pakistan sowie "Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern Dezember 2016").
Nach Vorhalt, dass der BF mit seinen Angaben und ergänzend vorgelegten Beweismitteln (eine Bestätigung aus Afghanistan, mehrere Fotos) sein Fluchtvorbringen nicht glaubhafter gemacht hätte, zog der Vertreter des BF für diesen seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides (Nichtgewährung von Asyl) zurück.
1.8. Mit Erkenntnis vom 17.02.2017, W191 2135139-1/4E, erkannte das BvWG dem BF gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt I.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 17.02.2018.
In der Erkenntnisbegründung wurde unter Punkt 3.1.3. festgestellt:
"Der BF hat glaubhaft gemacht, dass ihm im Falle seiner Verbringung in seinen Herkunftstaat aufgrund seiner individuellen Situation im Zusammenhang mit der Lage in seiner Herkunftsprovinz Maidan Wardak ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit droht. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung außerhalb seiner Heimatprovinz, insbesondere in der Stadt Kabul, liefe der BF Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten."
1.9. Gegen dieses Erkenntnis erhob das BFA die außerordentliche Revision beim Verwaltungsgerichtshof (in der Folge VwGH). Dieser folgend behob der VwGH mit Erkenntnis vom 08.08.2017, Ra 2017/19/0118, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes.
Der VwGH begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass er die Auffassung der Amtsrevision teile, dass die Schwelle des Art. 3 EMRK im vorliegenden Fall nicht erreicht sei.
Wie das BVwG feststelle, handle es sich beim Mitbeteiligten um einen jungen und gesunden Mann, der über eine Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, ledig sei und keine Kinder habe. Eine Beurteilung dahingehend, dass ihm eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden könne, lasse sich aus den getroffenen Feststellungen aber letztlich nicht ableiten.
Verwiesen wurde auf die - damals geltenden - UNHCR-Richtlinien aus April 2016.
1.10. Mit Bescheid vom 28.03.2018, Zahl 1073515302-150675035, verlängerte das BFA dem BF auf seinen Antrag dennoch - rechtskräftig - seine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 17.02.2020.
1.11. Das BVwG führte am 13.08.2018 eine fortgesetzte öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF in Begleitung seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters persönlich erschien.
Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung, wurde dennoch von der Ladung informiert und entschuldigte ihr Fernbleiben aus terminlichen Gründen.
Dabei gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"[...] Das BFA hat sich am Verfahren vor dem BVwG nicht beteiligt, aber gegen das Erkenntnis des BVwG vom 17.02.2017 (außerordentliche) Revision eingebracht.
Der VwGH hat mit Erkenntnis vom 08.08.2017 das Erkenntnis des BVwG, mit dem dem BF subsidiärer Schutz gewährt worden war (seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I., Asyl, hatte er zurückgezogen) aufgehoben.
[...]
Zur heutigen Situation:
RI [Richter]: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?
BF: Ja.
RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?
BF: Ich habe Magenschmerzen und leide an Schlafstörungen und nehme dagegen Medikamente. In der Nacht habe ich immer noch Zähneknirschen.
BF legt vor: Pantoprazol und Trittico, weiters einen Gastroskopiebefund vom 13.03.2018, demzufolge der BF an "kl Hiatushernie, geringe Gastritis, Carditis" (Zwerchfellbruch, Magenentzündung, Herzentzündung) [leidet].
BF: Ich nehme Trittico seit einer Woche (25 mg täglich), mein Hausarzt hat sie mir verschrieben. Vorher habe ich Tropfen eingenommen.
[...]
Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen
Lebensumständen:
RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?
BF: Ich habe vor kurzem mit meiner Mutter telefoniert. Sie hat mir gesagt, dass sie sich damals geirrt habe, als sie mir mein Alter genannt hat. Ich sei, als Najibullah gehängt wurde, drei Jahre alt gewesen, ich sei also 1993 geboren worden. Meine Mutter hat nach dem Tod meines Vaters dessen Bruder geheiratet und lebt mit ihm und mit meinen drei jüngeren Brüdern (13 bis 17 Jahre alt) in Teheran (Iran).
[...]
RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Nein, noch nicht.
RI: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?
BF: Ich bin in Afghanistan verlobt. Wenn ich zurückkehre, werde ich das Mädchen heiraten müssen.
RI: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
BF: In Afghanistan weiß ich nicht, ob ich Verwandte habe. In Saudi Arabien lebt seit ca. zweieinhalb Jahren eine Tante väterlicherseits. Sie ist aus Maidan Wardak geflüchtet. Sie ist nach einer Pilgerfahrt nach Mekka dort geblieben.
[...]
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ich verstehe ca. 90%.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ja.
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF: Ich wollte arbeiten und habe beim AMS angesucht, aber sie haben mir gesagt, ich müsse zuerst Deutsch lernen. Auch privat bemühe ich mich um Arbeit. Ich habe bei einer Firma vorgesprochen und werde zu einem Gespräch eingeladen werden.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?
BF: Ich habe Museen besucht. Ich gehe Schwimmen und spiele ca. einmal in der Woche Fußball mit Freunden. Ich habe das Donauinselfest besucht und Musik gehört.
[...]
RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?
BF: Ich telefoniere ca. ein bis zweimal in der Woche mit meiner Mutter und mit meinen Brüdern.
RI: Wie verbringen Sie Ihren Tag?
BF: In der Früh stehe ich um 06:30 Uhr auf. Um 08:00 Uhr gehe ich zur Schule (Basisbildungskurs), bis 12:00 Uhr. Um 13:00 Uhr bin ich dann wieder zu Hause, mache meine Hausaufgaben. Manchmal gehe ich Spazieren oder surfe im Internet.
Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.
Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.
[...]
Dem BFV [Vertreter des BF] werden Kopien der vorliegenden Berichte und Feststellungen ausgefolgt und für eine allfällige schriftliche Stellungnahme sowie für Belege bezüglich des behaupteten Geburtsdatums ab heute eine Frist von acht Wochen eingeräumt.
BFV legt vor den Bescheid des BFA vom 28.03.2018, mit dem dem BF sein Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes um zwei Jahre, bis 17.02.2020, verlängert worden ist. Er wird in Kopie zum Akt genommen.
RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will.
BF: Ich hoffe, dass ich länger hierbleiben darf, damit ich auch etwas davon zurückgeben kann, was mir gegeben worden ist.
RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht.
Weitere Beweisanträge: Keine. [...]"
Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).
Das BFA beantragte nicht die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde und beteiligte sich auch sonst nicht am Verfahren vor dem BVwG. Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.
1.12. Innerhalb der gewährten Nachfrist hat der BF keine Belege bezüglich des von ihm genannten Geburtsdatums nachgebracht.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 15.06.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 20.07.2016 sowie die Beschwerde vom 06.09.2016
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 21.01.2016, Aktenseiten 103 bis 128)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 06.02.2017
* Einsichtnahme in die vom BF in der mündlichen Verhandlung am 06.02.2017 vorgelegten Dokumente:
* Bestätigung aus Afghanistan
* Integrationsbelege (Kursbestätigungen, Rotes Kreuz)
* Fotos aus Afghanistan und Österreich
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom 06.02.2017 vom erkennenden Richter zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
* Auszüge aus gutachterlichen Stellungnahmen von Dr. Sarajuddin RASULY zur Verfolgung durch die Taliban sowie zur Lage in Kabul
* Auszüge aus dem Dossier der Staatendokumentation des BFA vom Juli 2016 zum Thema "Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur" in Afghanistan und Pakistan
* Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern Dezember 2016.
* Einsicht in den Gerichtsakt des BVwG, beinhaltend das Erkenntnis des VwGH vom 08.08.2017, Ra 2017/19/0118
* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom 13.8.2018 vom erkennenden Richter zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
* Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in der Provinz Maidan Wardak sowie zur medizinischen Versorgung (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018),
* Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 sowie
* Artikel in Asylmagazin 3/2017 "Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung" von Friederike Stahlmann
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht außerdem Paschtu und etwas Deutsch.
3.1.2. Der Vater des BF ist nach seinen Angaben seit vielen Jahren tot, seine Mutter hat nach seinem Tod dessen Bruder geheiratet und lebt mit diesem und den drei jüngeren Stiefbrüdern des BF in Teheran (Iran).
3.1.3. Der BF ist zwar jung und arbeitswillig bzw. -fähig, aber nicht gesund. Er hat Magenschmerzen und leidet laut Gastroskopiebefund vom 13.03.2018 an "kl Hiatushernie, geringe Gastritis, Carditis" (Zwerchfellbruch, Magenentzündung, Herzentzündung), hat Schlafstörungen und nächtliches Zähneknirschen und nimmt Medikamente (Pantoprazol und Trittico).
3.1.4. Der BF bemüht sich um seine Integration. Er lernt Deutsch, hat beim AMS um Arbeit vorgesprochen und sich auch privat um eine Einstellung bemüht.
3.1.5. Der BF ist strafgerichtlich unbescholten.
3.2. Die Frage der asylrelevanten Verfolgung des BF in seinem Heimatstaat ist nach Zurückziehung der Beschwerde gegen die Abweisung in Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides nicht mehr Gegenstand dieses Verfahrens.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Die Familie des BF lebt im Iran, eine Tante ist nach Saudiarabien geflüchtet (wo sie nach einer Pilgerfahrt nach Mekka blieb). Dem BF sind keine weiteren Familienangehörigen bekannt. Er kennt in Afghanistan weder familiäre noch sonstige soziale Anknüpfungspunkte. Dass seine im Iran lebende Familie wohlhabend wäre und den BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan vom Ausland aus unterstützen könnte, ist nicht hervorgekommen.
3.3.2. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Maidan Wardak ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.
Eine Rückkehr und Ansiedelung außerhalb seiner Herkunftsprovinz, insbesondere in der Stadt Kabul, ist dem BF aufgrund seiner individuellen Umstände nicht zumutbar. Der BF verfügt in Afghanistan über kein familiäres Netzwerk, mit dessen Unterstützung ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage möglich wäre. Auch von einer (finanziellen) Unterstützung des BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan durch seine im Iran lebende Mutter (mit seinem Stiefvater und seinen Stiefbrüdern) kann im Hinblick auf deren Lebensverhältnisse nicht ausgegangen werden.
Da sich der BF zudem noch nie in Kabul aufgehalten hat und mit den örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten sowie den dortigen Lebensgewohnheiten nicht vertraut ist, wäre er unter äußerst schwierigen Bedingungen völlig auf sich alleine gestellt. In diesem Zusammenhang kommt des Weiteren hinzu, dass der BF als junger Mann nach Europa gekommen ist, hier nunmehr mehr als drei Jahre lang lebt und sich trotz gesundheitlicher Probleme um seine Integration bemüht zeigt.
Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan, insbesondere in Kabul, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedelung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.4.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 20.10.2018, Schreibfehler teilweise korrigiert):
"[...] 2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").
Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).
Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).
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2. Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)
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Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).
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Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).
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Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
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Angriffe auf Behörden zur Wahlregistrierung:
Seit der Ankündigung des neuen Wahltermins durch den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani im Jänner 2018 haben zahlreiche Angriffe auf Behörden, die mit der Wahlregistrierung betraut sind, stattgefunden (ARN 21.05.2018; vgl. DW 06.05.2018, AJ 06.05.2018, Tolonews 06.05.2018, Tolonews 29.04.2018, Tolonews 220.4.2018).
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Zivilist/innen
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Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 01.01.2009 - 31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 01.01.2018 - 31.03.2018 registriert die UNAMA
2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.04.2018).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Im Jänner 2018 waren 56,3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14,5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29,2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.04.2018).
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Zu den regierungsfreundlichen Kräften zählten: ANDSF, Internationale Truppen, regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen sowie nicht näher identifizierte regierungsfreundliche Kräfte. Für das Jahr 2017 wurden 2.108 zivile Opfer (745 Tote und 1.363 Verletzte) regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben, dies deutet einen Rückgang von 23% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (2.731 zivile Opfer, 905 Tote und 1.826 Verletzte) an (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.01.2018). Insgesamt waren regierungsfreundliche Kräfte für 20% aller zivilen Opfer verantwortlich. Hauptursache (53%) waren Bodenkonfrontation zwischen ihnen und regierungsfeindlichen Elementen - diesen fielen 1.120 Zivilist/innen (274 Tote und 846 Verletzte) zum Opfer; ein Rückgang von 37% gegenüber dem Vorjahreswert 2016 (UNAMA 2.2018). Luftangriffe wurden zahlenmäßig als zweite Ursache für zivile Opfer registriert (UNAMA 2.2018; vgl. HRW 26.1.2018); diese waren für 6% ziviler Opfer verantwortlich - hierbei war im Gegensatz zum Vorjahreswert eine Zunahme von 7% zu verzeichnen gewesen. Die restlichen Opferzahlen 125 (67 Tote und 58 Verletzte) waren auf Situationen zurückzuführen, in denen Zivilist/innen fälschlicherweise für regierungsfeindliche Elemente gehalten wurden. Suchaktionen forderten 123 zivile Opfer (79 Tote und 44 Verletzte), Gewalteskalationen 52 zivile Opfer (18 Tote und 34 Verletzte), und Bedrohungen und Einschüchterungen forderten 17 Verletzte Zivilist/innen (UNAMA 2.2018).
Ein besonderes Anliegen der ANDSF, der afghanischen Regierung und internationaler Kräfte ist das Verhindern ziviler Opfer. Internationale Berater/innen der US-amerikanischen und Koalitionskräfte arbeiten eng mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und ein Bewusstsein für die Wichtigkeit der Reduzierung der Anzahl von zivilen Opfern zu schaffen. Die afghanische Regierung hält auch weiterhin ihre vierteljährliche Vorstandssitzung zur Vermeidung ziviler Opfer (Civilian Casualty Avoidance and Mitigation Board) ab, um u.a. Präventivmethoden zu besprechen (USDOD 12.2017). Die UNAMA bemerkte den Einsatz und die positiven Schritte der afghanischen Regierung, zivile Opfer im Jahr 2017 zu reduzieren (UNAMA 2.2018).
Im gesamten Jahr 2017 wurden 3.484 zivile Opfer (823 Tote und 2.661 Verletzte) im Rahmen von 1.845 Bodenoffensiven registriert - ein Rückgang von 19% gegenüber dem Vorjahreswert aus 2016 (4.300 zivile Opfer, 1.072 Tote und 3.228 Verletzte in 2.008 Bodenoffensiven). Zivile Opfer, die aufgrund bewaffneter Zusammenstöße zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Kräften zu beklagen waren, sind zum ersten Mal seit 2012 zurückgegangen (UNAMA 2.2018).
Im Jahr 2017 forderten explosive Kampfmittelrückstände (Engl. "explosive remnants of war", Anm.) 639 zivile Opfer (164 Tote und 475 Verletzte) - ein Rückgang von 12% gegenüber dem Jahr 2016. 2017 war überhaupt das erste Jahr seit 2009, in welchem ein Rückgang verzeichnet werden konnte. Der Rückgang ziviler Opfer ist möglicherweise u.a. auf eine Verminderung des indirekten Beschusses durch Mörser, Raketen und Granaten in bevölkerten Gegenden von regierungsfreundlichen Kräften zurückzuführen (UNAMA 2.2018).
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Regierungsfeindlic