Entscheidungsdatum
04.02.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W144 2175715-1/4E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, XXXX alias XXXX geb., StA. von Afghanistan, gesetzlich vertreten durch den Kinder- und Jugendhilfeträger des Landes Tirol, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2017, Zl. XXXX, beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
Der minderjährige Beschwerdeführer (BF) ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitischen Glauben. Seinen eigenen Angaben zufolge verließ er Afghanistan von XXXXaus und begab sich über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich, wo er am 01.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Zur Person des BF liegt eine Eurodac-Treffermeldung zu Griechenland vom 26.03.2016 wegen erkennungsdienstlicher Behandlung vor.
Der Beschwerde liegt folgendes Verwaltungsverfahren zugrunde:
Im Verlauf seiner Erstbefragung nach dem Asylgesetz durch die Landespolizeidirektion Niederösterreich vom 01.04.2016 gab der minderjährige BF in Anwesenheit eines Rechtsberaters zu seiner Person an, am XXXX in XXXX geboren zu sein. Afghanistan habe er aus Angst vor den Taliban verlassen. Sie hätten ihre Schule geschlossen und hätten alle Jugendliche mit in den Krieg nehmen wollen. Auch ihn hätten sie mehrmals aufgefordert, mit ihnen mitzugehen, sonst würden sie ihn töten. Sein Vater sei von den Taliban gezwungenermaßen mitgenommen worden und sei dann im Krieg gefallen. Auch seine zwei Brüder hätten Afghanistan aus Angst, von den Taliban mitgenommen zu werden, bereits vor Jahren verlassen. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst, von den Taliban mitgenommen zu werden. Außerdem herrsche dort Krieg.
Da der BF als minderjährige Person auftrat und Zweifel an der behaupteten Minderjährigkeit bestanden, wurde ein Handwurzelröntgen am 14.04.2016 durchgeführt und festgestellt, dass in Bezug auf die Hand links, FFA 76, des BF zur Bestimmung des Knochenalters das Ergebnis "Schmeling 3. GP 29" vorliegt.
Im Akt liegt ein "Rückrechner der männlichen Stadien Greulich/Pyle
28 - 31 des Handröntgens" auf, woraus sich der XXXX als fiktives
spätestmögliches Geburtsdatum ergibt. Mit Verfahrensanordnung vom 05.09.2017 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) fest, dass der BF spätestens am XXXX geboren worden sei.
Am 12.01.2017 wurde der BF vor dem BFA in Anwesenheit seiner gesetzlichen Vertretung niederschriftlich einvernommen, wobei er im Wesentlichen angab, dass er im Jahr XXXX in der Provinz XXXX geboren sei und jetzt 15 Jahre alt sei. Im Rahmen dieser Einvernahme legte der BF eine Tazkira im Original sowie eine Schulbesuchsbestätigung und einen Sozialbericht vor.
Mit E-Mail vom 25.07.2017 brachte die gesetzliche Vertretung des BF ein ÖSD Zertifikat A2, eine Bestätigung über die Teilnahme am Vertiefungskurs "XXXX" und schulische Unterlagen in Vorlage.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 09.10.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 idgF (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Unter einem wurde dem BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.), und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Gegen diesen Bescheid erhob der BF im Wege seiner gesetzlichen Vertretung fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen moniert wurde, dass es die Behörde im Hinblick auf die erhöhte Ermittlungspflicht bei Minderjährigen unterlassen habe, durch gezielte Fragestellung auf die Konkretisierung des Vorbringens des minderjährigen BF hinzuwirken. Aus näher dargelegten Gründen sei die Unglaubwürdigkeit des BF zu den Fluchtgründen unzureichend begründet worden. Zudem sei nicht erhoben worden, inwiefern der BF selbsterhaltungsfähig sei und ob die Familie des BF ihn unterstützen könne. Um die Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan abschließend beurteilen zu können, hätten umfangreichere Ermittlungen sowie Feststellungen zur Situation von alleinstehenden minderjährigen Rückkehrern getroffen werden müssen. Diesbezüglich und hinsichtlich der Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den minderjährigen BF werde auf Berichte von UNHCR, USDOS, EASO sowie auf eine gutachterliche Stellungnahme eines Ländersachverständigen verwiesen. Auch werde den in den Länderfeststellungen getroffenen Auszügen aus dem Gutachten von XXXX entschieden entgegengetreten, zumal das mit schwerwiegenden Mängeln behaftete Gutachten nicht den höchstgerichtlichen Anfordernissen an ein Sachverständigengutachten entspreche. Im Übrigen verfüge der BF entgegen den Feststellungen der belangten Behörde über Familienangehörige in Österreich. In rechtlicher Hinsicht habe das BFA nicht berücksichtigt, dass auch einer von Privatpersonen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zukomme, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage sei, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. In der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.10.2014, Zl. W178 1428722-1, sei der Status eines Asylberechtigten wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von der Zwangsrekrutierung betroffenen jungen Männer zuerkannt worden. Da die Provinz XXXX zu den volatilsten Provinzen Afghanistans gehöre und dem minderjährigen BF keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, sei eine Rückkehr nach Afghanistan unmöglich.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Zu A)
§ 28 Abs. 1 bis Abs. 3 VwGVG lautet:
"(1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.
(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z. 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist."
Seit seinem Erkenntnis vom 26. Juni 2014, Ro 2014/03/0063, vertritt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert ist, weswegen die in § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (vgl. VwGH 20.06.2017, Ra 2017/18/0117; VwGH 06.07.2016, Ra 2015/01/0123). Die nach § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungs-möglichkeit ist sohin als eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte zu betrachten, weshalb sie nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken in Frage kommt (vgl. VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063). Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt, bloß ansatzweise ermittelt oder konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 20.06.2017, Ra 2017/18/0117; VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063).
Eine dürftige Begründung des Bescheides rechtfertigt ein Vorgehen nach § 28 Abs 3 VwGVG jedoch nicht, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden mündlichen Verhandlung im Sinn des § 24 VwGVG zu vervollständigen sind, denn die Verwaltungsgerichte haben als "erste gerichtliche Tatsacheninstanz" auf Basis von vorhandenen Ermittlungsergebnissen und allfälligen Ergänzungen in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. VwGH 10.09.2014, Ra 2014/08/0005; VwGH 27.01.2016, Ra 2015/08/0178). Auch wenn das Verwaltungsgericht die beweiswürdigenden Erwägungen einer Verwaltungsbehörde nicht teilt, führt dies allein noch nicht dazu, dass von einem Unterlassen gebotener Ermittlungsschritte im Sinne des § 28 Abs 3 VwGVG gesprochen werden könnte (vgl. VwGH 20.06.2017, Ra 2017/18/0117; VwGH 27.01.2016, Ra 2015/08/0178), denn gerade die Beweiswürdigung in Bezug auf strittige Sachverhaltselemente gehört zu den zentralen Aufgaben der Verwaltungsgerichte selbst, können sie doch auf Grund ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in besonderer Weise zur Wahrheitsfindung beitragen (vgl. VwGH 27.01.2016, Ra 2015/08/0178). Auch bloße Ermittlungslücken, welche den Ermittlungshorizont des Bundesverwaltungsgerichts nicht übersteigen, reichen für eine Vorgehensweise nach § 28 Abs 3 VwGVG nicht aus, vielmehr hat das Verwaltungsgericht in solchen Fällen im Zuge einer mündlichen Verhandlung die Verfahrensergebnisse zu ergänzen und in der Sache selbst zu entscheiden (vgl. VwGH 06.07.2016, Ra 2015/01/0123). So ist eine Zurückverweisung etwa dann nicht gerechtfertigt, wenn gegebenenfalls (punktuelle) ergänzende Einvernahmen durchzuführen wären; vielmehr wären diese Einvernahmen, sollten sie wirklich erforderlich sein, vom Bundesverwaltungsgericht - zweckmäßigerweise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung - durchzuführen (vgl. VwGH 27.01.2016, Ra 2015/08/0178). Auch die notwendige Ergänzung des Ermittlungsverfahrens durch Einholung eines entsprechenden Sachverständigen-gutachtens erachtete der Verwaltungsgerichtshof als im Interesse der Raschheit gelegen, weshalb er in seinem Erkenntnis vom 28.02.2017, Ra 2015/11/0089, die Vorgehensweise des Verwaltungsgerichtes nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG als rechtswidrig erachtete.
Im gegenständlichen Fall sind dem BFA jedoch derart schwerwiegende Ermittlungsmängel anzulasten, die ein Vorgehen gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG rechtfertigen:
Der minderjährige BF brachte sowohl in der Erstbefragung als auch bei der niederschriftlichen Einvernahme vor, aufgrund einer Bedrohung durch die Taliban sein Heimatland verlassen zu haben und im Falle einer Rückkehr Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban zu haben. Im angefochtenen Bescheid ging das BFA davon aus, dass der BF "niemals von den Taliban persönlich belangt oder bedroht" worden sei und dass es sich bei einer Verfolgung durch Privatpersonen (Taliban) um eine private Auseinandersetzung handelt, "deren Ursache auch nicht im Zusammenhang mit einem der in der GFK abschließend angeführten Verfolgungsgründe steht, sondern aus anderen Beweggründen besteht, insbesondere aus kriminellen Motiven". Abgesehen davon, dass die vom BFA gegen die Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens ins Treffen geführten Argumente bei näherer Betrachtung der Angaben des BF teilweise nicht haltbar sind (wie etwa hinsichtlich des behaupteten Widerspruchs zum Tod seines Vaters oder zum behaupteten Unterschied im Detailgrad von zeitlichen Angaben) und sohin den höchstgerichtlichen Anforderungen an eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung bei zum Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse Minderjährigen nicht gerecht werden (vgl. VwGH 02.09.2015, Ra 2014/19/0127), verkannte die Verwaltungsbehörde in rechtlicher Hinsicht, dass nach der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der - nicht asylrelevanten - Zwangsrekrutierung durch eine Bürgerkriegspartei (vgl. etwa VwGH vom 8. Juni 2000, 99/20/0203, vom 21. September 2000, 99/20/0373, und vom 26. September 2007, 2006/19/0387) jene Verfolgung zu unterschieden ist, die an die tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung anknüpft, die in der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, gesehen wird (vgl. dazu VfGH 13.12.2017, E 2497/2016 ua.). Auf das Auswahlkriterium für die Zwangsrekrutierung selbst kommt es in einem solchen Fall nicht an (VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0079). Entscheidend für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist, mit welchen Reaktionen der Rekrutierenden der Betroffene aufgrund seiner Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, rechnen muss und ob in seinem Verhalten eine - wenn auch nur unterstellte - politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt wird (VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0090). Die Verfolgungsgefahr bezieht sich nicht auf die vergangenen Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose. Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).
Mit den Fragen, ob dem minderjährigen BF (zukünftig) im Falle einer Rückkehr in seine Heimatprovinz XXXX(einer volatilen Provinz, in der heftige Gefechte zwischen Taliban und Sicherheitskräften stattfanden und eine der höchsten Zahlen registrierter Anschläge im Jahr 2017 verzeichnet wurden [siehe das LIB Afghanistan vom 22.01.2019]) Zwangsrekrutierung durch die Taliban mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht und ob allenfalls aufgrund seiner Minderjährigkeit von einem erhöhten Risiko auszugehen ist, hat sich das BFA jedoch in keinster Weise auseinandergesetzt. Obwohl "Kinder im Kontext der Minderjährigen- und Zwangsrekrutierung" in den UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016 als potenzielle Risikogruppe genannt werden, holte das BFA weder spezifische Länderinformationen zu diesem Themenbereich ein, noch wurde der BF näher dazu befragt.
Des Weiteren enthalten die im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen Länderfeststellungen keine spezifischen Ausführungen zu Gefahren, denen Kinder und Jugendliche in Afghanistan ausgesetzt sind, obwohl der BF im Zeitpunkt der Bescheiderlassung noch minderjährig war. Es wird zwar im Abschnitt "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" auf Minderjährige Bezug genommen, jedoch beschränken sich diese Informationen auf die Bedingungen in Waisenhäusern, auf Statistiken zu asylansuchenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und auf Ausbildungsmöglichkeiten von RückkehrerInnen. Zum Entscheidungszeitpunkt bereits vorliegende Berichte, die auf körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei (Auswärtiges Amt, September 2016) sowie auf sexuellen Missbrauch von arbeitenden Kindern (USDOS 13.04.2016) hinweisen, ließ das BFA gänzlich unberücksichtigt (vgl. dazu auch VfGH 11.06.2018, E 1815/2018). Zudem setzte sich die Verwaltungsbehörde mit der von ihr selbst festgestellten Passage in den Länderberichten des angefochtenen Bescheides nicht auseinander, wonach die Zahl der minderjährigen zivilen Opfer gegenüber dem Vergleichszeitrum des Vorjahres um 24% gestiegen und die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn zu verzeichnen sei. Vor dem Hintergrund, dass der Verfassungsgerichtshof wiederholt die Bedeutung entsprechender und aktueller Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller hervorgehoben hat (vgl. etwa VfGH 11.06.2018, E 1815/2018; 09.06.2017, E 484/2017), hat das BFA sohin zu einem weiteren entscheidungsrelevanten Punkt bloß ansatzweise ermittelt, obwohl es der Verwaltungsbehörde damals hätte bekannt sein müssen, dass es sich bei unbegleiteten Minderjährigen um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt (siehe Artikel 21 der Aufnahmerichtlinie [RL 2013/33/EU]; UNHCR-Richtlinien vom 19.06.2016, wonach Kinder im Kontext der Rekrutierung Minderjähriger und Kinder mit bestimmten Profilen bzw. unter bestimmten Bedingungen lebende Kinder als potenzielle Risikoprofile erwähnt werden; vgl. auch VwGH 21.03.2018, Ra 2017/18/0474).
Aufgrund der mangelhaften Länderfeststellungen sind die weiteren Ausführungen des BFA, wonach dem BF in Kabul eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe nicht tragfähig. Insbesondere lassen die allgemeinen Ausführungen der Verwaltungsbehörde zur Sicherheits- und Versorgunglage keinen Rückschluss darauf zu, dass dies in gleicher Weise für besonders vulnerable Personen wie unbegleitete Minderjährige gilt (vgl. dazu auch VwGH 21.03.2018, Ra 2017/18/0474).
Da sich das BFA - abgesehen von der teilweise nicht tragfähigen Beweiswürdigung zu vergangenen Bedrohungen durch die Taliban - weder mit der potenziell asylrelevanten Frage einer zukünftigen Gefahr einer Zwangsrekrutierung noch mit den besonderen Schwierigkeiten von besonders schutzbedürften Personen wie unbegleiteten Minderjährigen auseinandergesetzt hat, liegt ein grob mangelhaftes Ermittlungsverfahren durch die Behörde erster Instanz vor. Indem bloß ansatzweise Ermittlungen zur Feststellung des in diesen Punkten entscheidungsrelevanten Sachverhalts unterlassen wurden und - im Ergebnis - diese Ermittlungstätigkeit gänzlich an das Bundesverwaltungsgericht delegiert wurde, missachtete das BFA die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen.
Die Verwaltungsbehörde wird sich daher im fortgesetzten Verfahren in sorgfältiger Weise mit dem Vorbringen des BF und der Thematik, welche Auswirkungen dieses vor dem Hintergrund der diesbezüglich allgemein vorherrschenden Lage in Afghanistan auf den BF im Falle einer Rückkehr haben könnte, zu befassen haben. Dabei wird nach Befragung des BF und Einholung spezifischer Länderinformationen auch die höchstgerichtliche Rechtsprechung betreffend die Anforderungen bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines (zum Zeitpunkt der fuchtauslösenden Ereignisse) Minderjährigen zu berücksichtigen sein:
Das Alter und der Entwicklungsstand des Beschwerdeführers sind in Betracht zu ziehen und die Behörde muss einen dem Alter entsprechenden Maßstab an die Detailliertheit der Eindrücke des Beschwerdeführers anlegen (vgl. VfGH 27.06.2012, U98/12). Zu beachten ist außerdem, ob der Asylwerber seinen Heimatstaat als Minderjähriger verlassen hat bzw. ob die Erzählung der Fluchtgeschichte aus der Perspektive eines Minderjährigen erfolgte (vgl. VwGH 02.09.2015, Ra 2014/19/0127). Das Aussageverhalten des Minderjährigen ist dahingehend zu würdigen, ob und welche Angaben von ihm unter Berücksichtigung seines Alters erwartet werden können (vgl. VwGH 08.09.2015, Ra 2014/18/0113). Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines - im Zeitpunkt der fluchtauslösenden Ereignisse - Minderjährigen bedarf es daher einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung (vgl. VwGH 02.09.2015, Ra 2014/19/0127).
Da der angefochtene Bescheid zu den dargelegten Punkten grob mangelhaft geblieben ist und die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht selbst im gegebenen Fall mit keiner erheblichen Kostenersparnis verbunden ist, war gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG mit Aufhebung des angefochtenen Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde vorzugehen.
Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen, zumal aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich im vorliegenden Fall auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu A) wiedergegeben. Insoweit die dort angeführte Judikatur zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Kassation, mangelndeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W144.2175715.1.00Zuletzt aktualisiert am
07.05.2019