Entscheidungsdatum
22.03.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W187 2195925-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hubert REISNER über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die Caritas der Erzdiözese Wien, gegen die Spruchpunkte I. - VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 22. März 2020 erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. - VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
2. Im Rahmen seiner Erstbefragung am XXXX wurde der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Er behauptete damals, minderjährig zu sein; sein Geburtsdatum wurde mit XXXX protokolliert. Als Beweggrund für seine Ausreise gab er eine Verfolgung aufgrund einer Feindschaft an.
3. Aufgrund seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA, belangte Behörde) gehegter Zweifel an der behaupteten Minderjährigkeit des Beschwerdeführers holte dieses im Oktober 2016 ein multifaktorielles, medizinisches Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung des Beschwerdeführers ein. Laut diesem Gutachten ist im Fall des Beschwerdeführers zum Antragszeitpunkt von einem wahrscheinlichen Alter von 18,49 Jahren ("fiktives" Geburtsdatum: XXXX ) und von einem höchstmöglichen Mindestalter von 17,5 Jahren ("fiktives" Geburtsdatum: XXXX ) auszugehen.
4. Unter Zugrundelegung des in der Erstbefragung protokollierten Geburtsdatums des Beschwerdeführers wurde der XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom XXXX mit der Obsorge für den Beschwerdeführer betraut.
5. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX im Rahmen des Zulassungsverfahrens niederschriftlich vor dem BFA einvernommen und zugleich vom Ergebnis der Altersfeststellung in Kenntnis gesetzt.
6. Am XXXX langte eine Stellungnahme des gesetzlichen Vertreters des Beschwerdeführers zum Ergebnis der Altersfeststellung ein.
7. Am XXXX wurde im Zulassungsverfahren eine gutachterliche Stellungnahme betreffend den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers erstattet.
8. Mit Schreiben vom XXXX erfolgte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zur gutachterlichen Stellungnahme vom XXXX und zur Altersfeststellung.
9. Mit Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom XXXX ohne in die Sache einzutreten als unzulässig zurückgewiesen und die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers nach XXXX angeordnet. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
10. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , W153 2152156-1/16E, wurde der Beschwerde stattgegeben und der Bescheid vom XXXX behoben.
11. Nach Zulassung des Verfahrens am XXXX wurde der Beschwerdeführer am XXXX vor dem BFA im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und einer Vertrauensperson niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Hierbei gab er befragt nach seinem Fluchtgrund an, dass es in seiner Familie Grundstücksstreitigkeiten gegeben habe, im Zuge derer eine Person aus der anderen Familie getötet worden sei. Nach einer Jirga-Versammlung sei die Familie des Beschwerdeführers nach Kabul gezogen, wo sie vier Jahre später von einem Mitglied der verfeindeten Familie angegriffen worden sei. Zu seinem Gesundheitszustand befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Er nehme Medikamente und gehe alle zwei Monate zu einer Gesprächstherapie. Der Beschwerdeführer legte Beweismittel betreffend sein Fluchtvorbringen sowie Befunde und Integrationsunterlagen vor.
12. Am XXXX erfolgte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zu seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am XXXX . Unter einem erstattete der Beschwerdeführer rechtliche Ausführungen und verwies - nach der Wiedergabe höchstgerichtlicher Judikatur - auf Berichte zu seinem Herkunftsstaat, darunter das Dokument "Special Report on the strategic review of the United Nations Assistance Mission in Afghanistan" vom 10.8.2017, der EASO Country of Origin Information-Report aus Dezember 2017 sowie ein Artikel von Friederike Stahlmann "zur aktuellen Bedrohung der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt" aus dem Jahr 2017. Der Beschwerdeführer legte Auszüge aus dem EASO-Report zur sozio-ökonomischen Situation in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, einen Zeitungsartikel betreffend die Abschiebung nach Afghanistan sowie das Dokument des UNHCR "International Protection Needs of Asylm-Seekers from Afghanistan" aus März 2018 vor.
13. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Unter Spruchpunkt VI. wurde ausgeführt, dass gemäß § 55 Abs 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe. Unter Spruchpunkt VII. wurde der Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Abs 1 Z 3, 4 und 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
14. Mit Schreiben vom XXXX erhob der Beschwerdeführer, unterstützt durch den amtswegig beigegebenen Rechtsberater, fristgerecht vollumfängliche Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Mit der Beschwerde wurde ein Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gestellt.
Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
15. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX , W187 2195925-1/5Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
16. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprachen Dari und Paschtu vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde verzichtete schriftlich auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer folgende Länderinformationen zu Afghanistan übermittelt: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand: 29.6.2018); Berichte und Zwischenberichte des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016, 28.7.2017 und 31.5.2018 zur Lagebeurteilung in Afghanistan; EASO-Country of Origin Information Reports zur Sicherheitslage in Afghanistan aus Dezember 2017 und Mai 2018, zu Netzwerken in Afghanistan aus Jänner 2018 sowie zur sozio-ökonomischen Lage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif aus August 2017.
Die Verhandlungsschrift lautet (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler) auszugsweise:
"[...]
Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?
Beschwerdeführer: Es geht mir heute nicht so gut, aber ich kann der Verhandlung folgen.
Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?
Beschwerdeführer: Ja, ich nehme regelmäßig Medikamente und gehe auch zum Psychologen. Es gibt einen Zettel mit der Auflistung der ganzen Medikamente.
[...]
Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?
Beschwerdeführer: Ich habe die Wahrheit gesagt, es ist alles korrekt.
Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?
Beschwerdeführer: Ich wurde zu Hause und nicht im Krankenhaus in Nangarhar geboren. Ich wurde im Distrikt XXXX im Dorf XXXX geboren. Ich weiß nicht, wann ich geborenwurde.
Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?
Beschwerdeführer: Ich spreche Paschtu, Deutsch, Dari und ein bisschen Englisch. Genauso spreche ich ein bisschen Hindi. Ich kann Dari und Paschtu lesen, aber nicht schreiben.
Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.
Beschwerdeführer: Ich bin ein Araber und komme aus der Volksgruppe der Araber und bin ein Sunnit. Ich bin ledig.
Richter: Haben Sie Kinder?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
Beschwerdeführer: Ich habe bis zu meinem elften Lebensjahr in Nangarhar gelebt. Von meinem elften Lebensjahr beginnend bis zu meinem 15. Lebensjahr lebte ich in Kabul. Danach bin ich Richtung Europa aufgebrochen.
Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?
Beschwerdeführer: In Kabul habe ich mit meiner Familie gelebt. Wir haben in einem Miethaus gelebt.
Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?
Beschwerdeführer: Ich bin in die Schule gegangen.
Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?
Beschwerdeführer: Ich habe insgesamt 7 Jahre die Schule besucht, davon war ich 3 Jahre in Nangarhar und 4 Jahre in Kabul.
Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
Beschwerdeführer: Zurzeit habe ich keinen Kontakt zu meinen Angehörigen.
Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Beschwerdeführer: Zurzeit habe ich zu niemanden Kontakt. Bis vor einem Jahr hatte ich noch Kontakt zu meinem Onkel mütterlicherseits.
Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?
Beschwerdeführer: Ich besuche die Schule und ich habe auch heute die Bestätigungen mit. Ich gehe auch ins Fitnesscenter. Ich habe Kontakt zu Österreichern und ich gehe gelegentlich mit diesen Bekannten aus.
Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?
Beschwerdeführer: Ja, ich habe eine Patin. Sie macht mit mir meine Hausaufgaben. Ich habe auch noch Kontakt zu anderen Österreichern. Wir treffen uns gelegentlich und gehen hinaus. Manchmal machen sie auch mit mir die Hausaufgaben.
Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?
Beschwerdeführer: Nein, mit der Polizei habe ich keine Probleme. Ich habe nur Probleme mit der afghanischen Regierung.
Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!
Beschwerdeführer: Wir haben von unserem Großvater in Nangarhar Grundstücke geerbt. Es handelt sich dabei um Grundstücke im Ausmaß von 12-13 Jirib (1 Jirib sind 2000 m²). Ein Mann namens XXXX behauptete, dass die geerbten Grundstücke meines Vaters ihm gehören würden. Er hatte sich gefälschte Dokumente geschafft. Mein Vater sagte, dass er Originaldokumente besitzt und die Dokumente des XXXX gefälscht sind. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen den beiden. Eines Nachts hat XXXX mit seinen Leuten unser Haus angegriffen. Im Zuge dieses Angriffes wurde ein Sohn des XXXX getötet. Nach dieser Auseinandersetzung ist mein Vater gemeinsam mit meinem Onkel väterlicherseits aus der Region geflüchtet. Auch wir versuchten aus der Region weg zu kommen, wir schafften es aber nicht. Wir konnten nicht aus der Region flüchten, denn dieser XXXX hatte gute Kontakte zu den Taliban. Die Taliban haben die Region umzingelt, um zu verhindern, dass wir aus der Region flüchten. Wir haben uns an die Dorfältesten gewandt. Wir haben uns an den XXXX des Dorfes gewandt. Wir haben das deswegen getan, damit die Taliban uns nicht angreifen. Mein Vater war bereits geflüchtet. Er hatte mit dem XXXX des Dorfes telefonischen Kontakt. Nach etwa zwei oder drei Tagen wurde eine Jirga (Ratsversammlung) einberufen. Bei dieser Jirga wurde beschlossen, dass diese Familie sowohl unser Haus als auch die Grundstücke bekommt. Zusätzlich haben sie beschlossen, dass meine jüngste Schwester, wenn sie 16 Jahre alt wird, den Sohn der Familie, der bereits verheiratet war und Kinder hatte zu heiraten. Mein Vater wollte das nicht akzeptieren, dass meine jüngste Schwester der Familie übergeben wird. Durch die Unterstützung des XXXX konnten wir aus dem Dorf weggehen. Danach hat uns mein Vater nach Kabul gebracht. In Kabul konnten wir etwa vier Jahre lang ein gutes Leben führen. Nach etwa vier Jahren wurde plötzlich in der Nacht zwischen ein Uhr und ein Uhr dreißig unser Haus angegriffen. Es waren etwa acht oder neun Personen. Sie hatten vor in unseren Garten hinein zu kommen. Ich wurde aufmerksam, ich dachte, dass Diebe im Haus sind. Ich bin auf das Dach geklettert und wollte von oben hinunterschauen, was los ist. Es wurde auf mich geschossen, ich musste mich schnell auf den Boden legen. Mein Vater hat hinauf geschrien, dass ich zu meinem Onkel mütterlicherseits laufen soll, er hat etwa vier Gassen weiter von uns gelebt. Die Dächer der Nachbarhäuser sind alle sehr nach aneinander, man konnte von einem Dach auf das andere springen. Es gibt eine gemeinsame Mauer zwischen den Häusern. Ich bin zu meinem Onkel mütterlicherseits gelaufen. Er hat sich dann eine Waffe genommen und kam in Richtung unseres Hauses. Wir hatten selbst keine Waffe im Haus. Mein Onkel erlaubt es mir nicht, mit dem in unser Haus zurück zu gehen. Er hat mich meinem anderen Onkel mütterlicherseits übergeben und sagte, dass ich bei ihm bleiben soll. Er hat mich auch gefragt, was es für Leute waren, die unser Haus angegriffen haben. Ich sagte, dass ich es nicht weiß, vielleicht waren es Diebe. Als mein Onkel im Haus war, hat er mich dann angerufen. Er erzählte mir am Telefon, dass er meine Mutter gemeinsam mit meinen drei Schwestern und meinem jüngeren Bruder bei den Nachbarn gefunden hat. Er sagte mir, er weiß nicht, was mit meinem Vater und meinen drei Brüdern passiert ist. Er sagte, er weiß nicht, ob mein Vater oder meine Brüder geflüchtet sind oder ob diese Leute sie mitgenommen haben. Wir hatten einen Zugang zum Nachbarhaus, denn wir haben immer von den Nachbarn Wasser geholt. Diese Männer waren auch bei den Nachbarn. Sie vermuteten, dass meine Angehörigen bei den Nachbarn sein könnten. Mein Onkel hat mich meinem jüngeren Onkel übergeben und hat ihn beauftragt, mich von dort weg zu bringen, damit die Leute nicht mehr nach mir suchen. Mein jüngerer Onkel mütterlicherseits brachte mich nach XXXX . Nach etwa drei Tagen habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Ich fragte sie nach meinem Vater und den Brüdern, aber sie war nicht in einem Zustand mit mir telefonieren zu können. Nach etwa drei oder vier Tagen hat mich mein Onkel mütterlicherseits in Richtung Türkei geschickt. Er hat mit dem Schlepper alles vereinbart. Etwa 1 bis 1,5 Jahre habe ich in der Türkei gelebt. Es war sehr schwierig dort für mich. Ich hatte keine Dokumente. Es war schwierig eine Arbeit zu finden und wenn man eine Arbeit gefunden hatte, hat man dann vom Arbeitgeber kein Geld bekommen. Danach bin ich nach XXXX weiter gereist, zwei Monate war ich dort. Die Polizei in XXXX haben mich geschlagen. Ich wurde mit einem Messer attackiert und am Bein verletzt. Ich wurde dann von der serbischen Grenze nach Sophia zurück gebracht. Ich musste genäht werden. Ich war zwanzig Tage im Lager stationär aufhältig und wurde täglich vom Arzt aufgesucht. Man wolle uns an der Grenze die Fingerabdrücke abnehmen. Nach etwa 20 Tagen starteten wir einen weiteren Versuch XXXX zu verlassen. Dabei wurden Hunde auf uns gehetzt, wir waren etwa 30 Personen. Zwei davon wurden von Hunden gebissen. Ich wurde nach Sophia zurück geschickt. Danach versuchte ich es zum dritten Mal XXXX zu verlassen. Ich bin von Sophia in Richtung Serbien gebracht worden. Etwa weitere 20 Tage habe ich mich in Belgrad in einem Park aufgehalten. Danach versuchten wir nach Ungarn zu gelangen. An den Grenzen wurden wir von der Polizei angehalten. Sie haben Sprays gegen uns verwendet. Beim neuerlichen Versuch nach Ungarn zu gelangen, wurden wir von der Polizei geschlagen. Wir wurden mit Holzstöcken geschlagen. Beim dritten Versuch schafften wir es nach Ungarn. Wir sind durch Ungarn gereist und kamen in Österreich an. In Österreich wurde ich aufgrund meiner Verletzungen behandelt. Ich gehe noch immer zu einem Psychologen und stehe unter ärztlicher Behandlung. Ich habe auch Deutschkursbestätigungen mit.
Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?
Beschwerdeführer: Außer den geschilderten Vorfällen nicht. Der Onkel des XXXX ist der Parlamentsabgeordneter XXXX . Er ist Vertreter aus Nangarhar. In der Nacht als unser Haus angegriffen wurde, erzählte mir dann mein Onkel mütterlicherseits, dass Wachleute von XXXX dabei waren. Meine Mutter hat es ihm erzählt.
Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan aktuell bedroht?
Beschwerdeführer: Ich werde von XXXX und den Leuten des XXXX bedroht. Bei einer Rückkehr würden mich diese Leute sehr leicht und schnell finden. Meinen Onkel mütterlicherseits haben sie innerhalb von drei Monaten in Kabul ausfindig machen können. Er war dann gezwungen, die Region zu verlassen. Meine Mutter und meine drei Schwestern und mein jüngerer Bruder sind bei meinem Onkel mütterlicherseits aufhältig. Sie wollen unsere Familie finden und wollen auch schnell meine Schwester zwangsverheiraten.
Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!
Beschwerdeführer: Dort ist mein Leben gefährdet. Ich bin in Gefahr. Ich weiß nicht, wo sich meine Familie befindet. Bei einer Rückkehr werden mich diese Leute finden und töten.
Rechtsvertreterin: Als wir die Beschwerde besprochen haben, hast du mir erzählt, dass deine Mutter, Onkel und deine Geschwister aus Kabul weggegangen sind. Kannst du das ein bisschen näher erzählen?
Beschwerdeführer: Die Leute von XXXX und die Vertreter der Jirga haben meinen Onkel mütterlicherseits ausfindig gemacht. Sie sagten ihm, dass eine Vereinbarung getroffen wurde und auch Fingerabdrücke abgenommen wurden. Die Familie ist verpflichtet, dass nur zu tun. Ich weiß jetzt nicht, wo mein Onkel mütterlicherseits mit meiner Familie hingegangen ist. Ich weiß nicht, ob die Familie im Iran, in Pakistan oder in der Türkei aufhältig ist. Seit damals habe ich keinen Kontakt mehr zu meiner Familie.
[...]
Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?
Beschwerdeführer: Ja, ich habe sie sehr gut verstanden.".
Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers legte im Rahmen der mündlichen Verhandlung fachärztliche Bestätigungen vom XXXX über die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung und einen klinisch-psychologischen Bericht aus August 2018 vor. Die Rechtsvertretung erstattete Schlussausführungen zum Vorbringen des Beschwerdeführers, wobei auf das Dokument der Staatendokumentation "Afghanistan Stammes- und Clanstrukturen" sowie auf die Ausführungen im Gutachten von Friederike Stahlmann und im Gutachten von Liza Schuster verwiesen wurde.
17. Am XXXX wurden weitere Befundberichte betreffend den Beschwerdeführer vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA und den hg. Akt betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Befunde und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.
1. Feststellungen
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und Aliasnamen, ist (im Entscheidungszeitpunkt) volljährig und afghanischer Staatsangehöriger. Seine Identität steht nicht fest. Er gehört der Volksgruppe der Araber an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht zudem Paschtu. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.
Er wurde in der afghanischen Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , geboren und ist dort im afghanischen Familienverband gemeinsam mit seinen Eltern sowie mit seinen fünf Brüdern und seinen drei Schwestern aufgewachsen. Der Beschwerdeführer verfügt über eine siebenjährige Schulbildung, eine Berufsausbildung oder Berufserfahrung hat er nicht.
Die letzten vier Jahre vor seiner Ausreise aus Afghanistan lebte der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Familie in Kabul. In anderen Landesteilen Afghanistans hielt sich der Beschwerdeführer nicht auf. Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, der aktuelle Aufenthaltsort seiner Familie ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt.
Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Jahr 2014 und hielt sich eineinhalb Jahre in der Türkei sowie zwei Monate in XXXX auf, bevor er im August 2015 in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist.
1.2 Zu seinen Fluchtgründen
Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen mit einer Verfolgung seitens einer verfeindeten Familie.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.
1.3 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer hält sich seit August 2016 durchgehend im Bundesgebiet auf und war von Beginn an um seine Integration in die österreichische Gesellschaft bemüht. Er hat seinen bislang im Bundesgebiet verbrachten Aufenthalt positiv genutzt. Er nahm an diversen Informationsveranstaltungen und Workshops sowie an einem dreimonatigen Projekt "Bildung für Flüchtlinge" für die Unterrichtseinheiten Deutsch, Englisch, Mathematik, IKT und "Wertekurs" teil. Er besuchte mehrere Sprachkurse und absolvierte im Oktober 2017 die ÖSD Deutsch-Prüfung für das Niveau A1. Er ist Schüler einer höheren Lehranstalt für Tourismus und wirtschaftliche Berufe. Er legte zahlreiche Unterstützungs- und Empfehlungsschreiben aus diversen Lebensbereichen vor, in welchen der positive Charakter des Beschwerdeführers und seine erfolgreichen Bemühungen um eine Integration stets besonders hervorgehoben werden. Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig.
Er hat in Österreich zahlreiche soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft und hat eine österreichische Patin, mit der er seine Freizeit verbringt und seine Hausaufgaben erledigt.
In Österreich leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer leidet spätestens seit seiner Einreise an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die in seinem Fall mit massiven Durchschlafstörungen, depressiven Verstimmungen, wiederkehrenden Suizidgedanken, selbstverletzendem Verhalten und einer Beeinträchtigung seiner sozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit einhergeht. Nach seiner Einreise in Österreich nahmen die Betreuer des Beschwerdeführers bei diesem eine starke psychische Belastung wahr, weswegen der Beschwerdeführer von Jänner bis Oktober 2017 in Behandlung im Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen stand. Er erhielt bereits damals die Diagnose "posttraumatische Belastungsstörung", auf Basis derer eine medikamentöse wie auch kriseninterventionsgemäße Behandlung durchgeführt wurde, deren Beibehaltung dringend empfohlen wurde. Nach einer Untersuchung in einem psychosozialen Zentrum erfolgte eine Überweisung des Beschwerdeführers in eine ambulante Psychotherapie. Der daraufhin im August 2018 von einer Fachärztin erstellte klinisch-psychologische Befund diagnostiziert dem Beschwerdeführer erneut Durchschlafstörungen und Suizidgedanken als Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen sowie ein selbstverletzendes Verhalten. Der aktuelle Befund aus August 2018 bestätigt, dass die körperlichen und psychischen Beschwerden des Beschwerdeführers zu einer Beeinträchtigung seiner sozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit führen. Dem Beschwerdeführer wurden damals weiterführende psychotherapeutische bzw psychologische Interventionen mit dem Ziel der Stabilisierung seiner Person und der Aufarbeitung seiner Vergangenheit zur Erreichung einer erhöhten Leistungsfähigkeit im Alltag empfohlen. Der Beschwerdeführer nimmt weiterhin regelmäßig Medikamente und befindet sich auch aktuell in psychologischer Behandlung.
Der Beschwerdeführer leidet weiters an keiner (lebensbedrohenden) Erkrankung.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen:
1.4.1 Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch
"Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzrä-ten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande
gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o.D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositions-gruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolo-news 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen.
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
1.4.2 Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).
Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).
Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielten Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018):
* Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).
* Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018).
* Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).
* Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangar-har in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).
* Angriff auf Polizeireviere in Kabul: Am 9.5.2018 griffen bewaffnete Männer jeweils ein Polizeirevier in Dasht-e-Barchi und Shar-i-Naw an und verursachten den Tod von zwei Polizisten und verwundeten sechs Zivilis-ten. Auch wurden Quellen zufolge zwei Attentäter von den Sicherheitskräften getötet (Pajhwok 9.5.2018). Der IS bekannte sich zum Angriff (Pajhwok 9.5.2018; vgl. Tolonews 9.5.2018).
* Selbstmordangriff in Kandahar: Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi der NATO-Truppen in Haji Abdullah Khan im Distrikt Daman der Provinz Kandahar sind am 30.4.2018 elf Kinder ums Leben gekommen und 16 weitere Menschen verletzt worden; unter den Verletzten befanden sich u.a. rumänische Soldaten (To-lonews 30.4.2018b; vgl. APN 30.4.2018b, Focus 30.4.2018, IM 30.4.2018). Weder der IS noch die Taliban reklamierten den Anschlag für sich (Spiegel 30.4.2018; vgl. Tolonews 30.4.2018b).
* Doppelanschlag in Kabul: Am 30.4.2018 fand im Bezirk Shash Derak in der Hauptstadt Kabul ein Doppelanschlag statt, bei dem Selbstmordattentäter zwei Explosionen verübten (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Die erste Detonation erfolgte in der Nähe des Sitzes des afghanischen Geheimdienstes (NDS) und wurde von einem Selbstmordattentäter auf einem Motorrad verübt; dabei wurden zwischen drei und fünf Menschen getötet und zwischen sechs und elf weitere verletzt (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b); Quellen zufolge handelte es sich dabei um Zivilisten (Focus 30.4.2018). Die zweite Detonation ging von einem weiteren Selbstmordattentäter aus, der sich, als Reporter getarnt, unter die am Anschlagsort versammelten Journalisten, Sanitäter und Polizisten gemischt hatte (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b, Pajhwok 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Dabei kamen u.a. zehn Journalisten ums Leben, die bei afghanischen sowie internationalen Medien tätig waren (TI 1.5.2018; vgl. AJ 30.4.2018, APN 30.4.2018a,). Bei den beiden Anschlägen sind Quellen zufolge zwischen 25 und 29 Personen ums Leben gekommen und 49 verletzt worden (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a, DZ 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Der IS bekannte sich zu beiden Angriffen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Quellen zufolge sind Geheimdienstmitarbeiter das Ziel des Angriffes gewesen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a).
* Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie: Am 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der IS bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).
* Bombenangriff mit einem Fahrzeug in Kabul: Am 27.1.2018 tötete ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (TG 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018) - dem sogenannten Regierungs- und Diplomatenviertel (Reuters 27.1.2018).
* Angriff auf eine internationale Organisation (Save the Children - SCI) in Jalalabad: Am 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden getötet und zwölf weitere verletzt; der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018, TG 24.1.2018).
* Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul: Am 20.1.2018 griffen fünf bewaffnete Männer das Luxushotel Intercontinental in Kabul an. Der Angriff wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018; vgl. DW 21.1.2018). Dabei wurden mindestens 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).
* Selbstmordattentat mit einem mit Sprengstoff beladenen Tanklaster:
Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben, mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt (FAZ 6.6.2017; vgl. AJ 31.5.2017, BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (FN 7.6.2017).
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017).
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele, haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
Beispiele von Anschlägen gegen Gläubige und Glaubensstätten:
* Angriff auf Treffen der Religionsgelehrten in Kabul: Am 4.6.2018 fand während einer loya jirga zwischen mehr als 2.000 afghanischen Religionsgelehrten, die durch eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aufriefen, ein Selbstmordanschlag statt. Bei dem Angriff kamen 14 Personen ums Leben und weitere wurden verletzt (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 5.6.2018). Quellen zufolge bekannte sich der IS zum Angriff (Reuters 5.6.2018; vgl. RFE/RL 5.6.2018).
* Angriff auf Kricket-Stadion in Jalalabad: Am 18.5.2018, einem Tag nach Anfang des Fastenmonats Ramadan, kamen bei einem Angriff während eines Kricket-Matchs in der Provinzhauptstadt Nangarhars Jalalabad mindestens acht Personen ums Leben und mindestens 43 wurden verletzt (TRT 19.5.2018; vgl. Tolonews 19.5.2018, TG 20.5.2018). Quellen zufolge waren das direkte Ziel dieses Angriffes zivile Zuschauer des Matchs (TG 20.5.2018; RFE/RL 19.5.2018), dennoch befanden sich auch Amtspersonen unter den Opfern (TNI 19.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich keine regierungsfeindliche Gruppierung zum Angriff (RFE/RL 19.5.2018); die Taliban dementierten ihre Beteiligung an dem Anschlag (Tolonews 19.5.2018; vgl. TG 20.5.2018).
* Selbstmordanschlag während Nowruz-Feierlichkeiten: Am 21.3.2018 (Nowruz-Fest; persisches Neujahr) kam es zu einem Selbstmordangriff in der Nähe des schiitischen Kart- e Sakhi-Schreins, der von vielen afghanischen Gemeinschaften - insbesondere auch der schiitischen Minderheit - verehrt wird. Sie ist ein zentraler Ort, an dem das Neujahrsgebet in Kabul abgehalten wird. Viele junge Menschen, die tanzten, sangen und feierten, befanden sich unter den 31 getöteten; 65 weitere wurden verletzt (BBC 21.3.2018). Die Feierlic