TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/22 W147 2188201-1

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Veröffentlicht am 22.03.2019
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Entscheidungsdatum

22.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

W147 2188201-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. KANHÄUSER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19. Jänner 2018, Zl. 1166091506-171012403, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28. Jänner 2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis VI. gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 iVm §§ 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, und §§ 46, 52, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, gelangte gemeinsam mit seiner Ehegattin (W147 2188212) und drei gemeinsamen minderjährigen Kindern (W147 2188198, W147 2188203 und W147 2188207) auf dem Luftweg am 30. August 2017 nach Österreich und stellte unter Vorlage seines Inlandsreisepasses einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 31. August 2017 gab der Beschwerdeführer im Rahmen der Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu seinen Fluchtgründen befragt an, seit Jahren bestünde ein Konflikt zwischen der Volksgruppe der Akkinen und der Awaren. Seine Volksgruppe werde in seinem Bezirk von Awaren verfolgt. Da der Präsident ein Aware sei, hätte seine Volksgruppe keinerlei Rechte, würde verfolgt und verprügelt werden. Im Juni 2017 habe es einen Konflikt gegeben, wobei 150 Awaren fünf Arkinnen zusammengeschlagen hätten. Darunter sei auch sein Vater gewesen. Im Juli 2017 sei sein Vater abermals auf der Straße von Awaren zusammengeschlagen worden. Er sei schwer verletzt und in ein Krankenhaus gebracht worden. Der Beschwerdeführer sei von der Security des Krankenhauses daran gehindert worden, seinen Vater zu besuchen. Am nächsten Tag sei der Vater an den schweren Verletzungen verstorben. Der Beschwerdeführer habe gewusst, dass auch er wegen seines Vaters verfolgt werde und sei mit seiner Familie in das Haus seiner Großmutter in eine andere Ortschaft geflüchtet. Auch dort sei er gefunden und verprügelt worden. Das Haus seiner Großmutter sei teilweise zerstört worden. Aus Angst um das Leben seiner Familie habe er beschlossen, das Land mit seiner Familie zu verlassen. Seinen Auslandsreisepass habe er nach Ankunft in XXXX vernichtet. Ebenfalls gab der Beschwerdeführer an, dass Österreich sein Reiseziel gewesen sei, er habe über das Internet recherchiert, dass es hier eine gute medizinische Versorgung gebe. Der Beschwerdeführer legte ein in englischer Sprache gehaltenes Schreiben vor, dass seine Fluchtgeschichte darstellt.

Die Ehegattin des Beschwerdeführers gab im Zuge ihrer Erstbefragung zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates an, sie sei seit sieben Jahren mit ihrem Mann verheiratet und hätten sie nur die ersten zwei Jahre in Ruhe leben können. In der restlichen Zeit hätten sie ständig in Angst gelebt, weil ihr Ehegatte verprügelt worden sei. Dessen Vater sei so schwer geschlagen worden, dass er im Krankenhaus verstorben sei. Ihre Schwiegermutter habe aufgrund der ständigen Angst einen Schlaganfall erlitten und leide auch teilweise unter Gedächtnisverlust. Ihr Haus sei teilweise zerstört worden. Da ihr Ehegatte auch öfters verprügelt worden sei, sie schwanger sei und aus ständiger Angst gesundheitliche Probleme bekommen hätte, hätten sie beschlossen, das Land zu verlassen. In Einem stellte sie für die drei minderjährigen Kinder ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz. Auch die Ehegattin des Beschwerdeführers habe nach Ankunft in Österreich ihren Auslandsreisepass vernichtet.

Am 30. Oktober 2017 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen, erklärte sich mit dieser Dolmetscherin einverstanden und psychisch und physisch in der Lage, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Er stehe derzeit in keiner ärztlichen Behandlung und nehme keine Arzneimittel ein, sein russischer Inlandsreisepass sei vorgelegt worden, seinen Auslandsreisepass habe seine Ehegattin zerrissen, da ihnen gesagt worden sei, dass sie dadurch hierbleiben könnten. Ein Russe habe ihnen geholfen und die Ausreise organisiert, auch habe dieser ein Visum besorgt. Er führe die im Spruch genannten Personalien, sei ihn XXXX geboren und aufgewachsen und habe dort elf Jahre hindurch die Schule besucht. Danach sei er mit seinen Eltern und Geschwistern nach XXXX übersiedelt und habe dort auf Baustellen gearbeitet, zwischendurch sei er auch Taxi gefahren. All diese Arbeiten seien nicht legal gewesen. Nach dem Tod seines Vaters seien sie wieder nach XXXX gezogen. Seine Ehegattin habe er im Jahre 2007 kennengelernt, er sei russischer Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Akkinen an und sei sunnitischer Moslem. In seinem Herkunftsstaat aufhältig seien seine Mutter, sein Bruder, der als Friseur tätig sei, sowie seine Schwester, die am Markt Händlerin sei. Alle seien ihn XXXX /Dagestan aufhältig. Weiters gebe es sowohl Onkel und Tanten väterlicherseits und mütterlicherseits, die alle in Dagestan leben würden. Seine Familie lebe von der Grundversorgung, seine älteste Tochter besuche die Schule, er selbst besuche weder Kurse, Schule, Vereine oder die Universität.

Als Grund für das Verlassen seines Herkunftsstaates brachte der Beschwerdeführer vor:

"Die schwerwiegenden Probleme begannen als ein Aware Präsident von Dagestan wurde. Nachgefragt: Wann war das? Ich glaube vor zwei Jahren. Als der Aware Präsident wurde sind die Konflikte neu aufgeflammt. Es ist so, dass meine Vorfahren aus XXXX stammen. 1945 wurden mein Großvater und der ältere Bruder meines Vaters zwangsdeportiert. Anmerkung LA: VP bittet fünf Minuten beten zu dürfen. Als sie 1956 in die Heimat zurückkehrten waren die Häuser von awarischen Familien besetzt. Aufforderung durch LA die ursprüngliche Frage zu beantworten. Die Probleme meiner Familie begannen nach dieser Massenschlägerei bei der 150 Awaren gegen 5 Akkine kämpften. Danach wurden Akkine weiterhin verfolgt und ihnen das Leben schwer gemacht. Mein Vater wurde zusammengeschlagen und meine Mutter erlitt einen Gehirnschlag. Mein Vater ging eines Tages aus dem Haus und kam nicht mehr zurück. Wir wussten nicht wo er war.

Nachgefragt: Wann war das? Es war Anfang Juli 2017. Wir fanden schließlich heraus, dass er im Krankenhaus war. Ich wollte Ihn dort besuchen. Es gab Militärorder und ich wurde nicht vorgelassen. Zwei Tage haben wir gewartet und dann ist mein Vater verstorben. Meine

Mutter war krank und wir sind dann nach XXXX gezogen. Nachgefragt:

Warum sind Sie dort hingezogen? Weil man uns in XXXX keine Ruhe gelassen hat. Meine Großmutter in XXXX lag zu diesem Zeitpunkt im Sterben. Anmerkung LA: Nach der Rückübersetzung gibt die VP an, dass die Großmutter bereits 2002 verstorben ist.

Die Awaren fuhren in Militärfahrzeugen herum und sie kannten uns vom Sehen. Einmal wurde ich brutal verprügelt. Es war in XXXX .

Nachgefragt: Wann war das? Mitte Juli so um den 17. Es war abends in der Dämmerung. Ich war im Freien nicht weit von unserer Adresse entfernt. Ein Militärfahrzeug hielt an. Ein maskierter und uniformierter stieg aus. Er war bewaffnet. Es waren fünf Soldaten im Fahrzeug und zwei sind ausgestiegen. Ich wurde unter Androhung von Waffengewalt gezwungen einzusteigen. Wir fuhren zur XXXX der Polizei in XXXX . Dort wurde ich verprügelt. Nachgefragt: Wie und mit was wurden Sie verprügelt? Ich wurde mit einem Gummiknüppel verprügelt damit keine blauen Flecke bleiben. Ich war zwei Nächte und einen Tag bei der XXXX . Dann ließen sie mich gehen. Ich konnte die XXXX selbst verlassen, aber mit Mühe. Nachgefragt: Welche Verletzungen hatten Sie? Ich hatte keine sichtbaren Verletzungen, aber mir hat alles wehgetan. Ich ging dann nach XXXX nach Hause. Ich wollte meiner Mutter nicht die Wahrheit sagen, weil sie so schlecht beisammen war. Ich sagte Ihr, dass ich die Nächte bei Freunden verbracht hätte. Meine Mutter war es auch die gesagt hat, dass wir wo hinreisen sollen. Das Land verlassen. Nachgefragt: Was war fluchtauslösend? Der Tod meines Vaters und der Übergriff auf mich, als ich zwei Tage festgehalten und misshandelt wurde. Nachgefragt:

Wurden Sie auch einvernommen? Ja, sie wollten mir Straftaten unterjubeln. Es ist ihnen aber nicht gelungen. Ich habe nichts auf mich genommen und auch nichts unterschrieben."

Dies seien alle seine Gründe und habe er dazu nichts mehr zu sagen. Über Vorhalt, wonach seine Ehegattin von sichtbaren Verletzungen am Kopf und im Gesicht gesprochen hätte, er jedoch dezidiert verneinte, sichtbare Verletzungen gehabt zu haben, erklärte der Beschwerdeführer, seine Ehegattin hätte ihn damals gar nicht gesehen. Anfangs habe es so einen Vorfall gegeben. Bei diesem hätten sie ihn geschlagen und zurückgebracht, und habe er damals geblutet. Dies sei im Mai 2017 gewesen. Er sei in dieser Zeit öfters geschlagen worden, auch sei er einmal vor den Augen seiner Ehegattin geschlagen worden. Über Vorhalt, wonach die Ehegattin des Beschwerdeführers ausgesagt hätte, dass der Beschwerdeführer von den Behörden nach Hause gebracht und vor dem Haus abgelegt worden sei, er jedoch angab, dass er die XXXX selbstständig verlassen habe können und alleine nach Hause gegangen sei, rechtfertigte dies der Beschwerdeführer, seine Gattin und seine Mutter hätten über den letzten Übergriff, bei welchem er zwei Tage angehalten worden sei, keine Einzelheiten gewusst. Im Jahr 2017 sei er mindestens fünfmal zusammengeschlagen worden. Dem Beschwerdeführer wurde vorgehalten, dass seine Ehegattin angab, dass der Beschwerdeführer Anfang Juni 2017 abgeholt und am selben Tag zurückgebracht worden sei. Der Beschwerdeführer hingegen vermeine, im Mai bzw. im Juli 2017 abgeholt worden zu sein. Der Beschwerdeführer antwortete hierauf, er wisse nicht warum, seine Frau dies gesagt hätte, sie sei psychisch krank und könne sich an Daten schlecht erinnern.

Befragt, aus welchem Grunde sich der Beschwerdeführer im Jahr 2012 einen Auslandsreisepass besorgte, gab dieser an, er wisse dies nicht. Er hätte verschiedene Pläne geschmiedet und ins Ausland wollen. Seine Ehegattin und er hätten damals Geld verdient und dieses in Reisepässe investiert. Er habe niemals in Erwägung gezogen, an einen anderen Ort in seinem Heimatland zu ziehen, um so seinen Problemen zu entgehen. Im Falle der Rückkehr fürchte er um sein Leben und die Zukunft seiner Kinder. Von Seiten der Behörden werde nach ihm nicht gefahndet, jedoch sei dies nicht vorhersehbar, da sie machen, was sie wollen.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidungsbegründung wurde seitens der belangten Behörde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine ihm im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können. Es habe sich nicht feststellen lassen, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation einer individuellen Verfolgung maßgeblicher Intensität aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung durch die staatlichen Organe ausgesetzt gewesen oder im Fall Ihrer Rückkehr ausgesetzt sein werde. Es gebe auch keine Anhaltspunkte auf das Vorliegen von Gefahren, welche die Erteilung subsidiären Schutzes rechtfertigen würden.

Bescheide gleichen Inhaltes ergingen auch an die Familienangehörigen des Beschwerdeführers.

Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG vom selben Tag wurde dem Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der "Verein Menschenrechte, Alser Straße 20/5 (Mezzanin), 1090 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

Mit Schriftsatz vom 2. Februar 2018 wurde für sämtliche Familienangehörige verfahrensgegenständliche Beschwerde erhoben und die angefochtenen Bescheide vollinhaltlich bekämpft. Darin führte der Beschwerdeführer aus, dass es notwendig gewesen wäre, die Probleme zwischen den Volksgruppen in Dagestan näher zu erläutern und weshalb es schließlich zur Eskalation im Juni 2017 gekommen sei. Diese Möglichkeit habe es in der Einvernahme vor der belangten Behörde nicht gegeben, weil der Beschwerdeführer unterbrochen worden sei. Der Beschwerdeführer und seine Familie hätten zuletzt in XXXX gelebt, dies sei XXXX von XXXX entfernt. Die XXXX des Ministerums für Inneres befinde sich ebendort, seien die Mitarbeiter Awaren und selbst in den Konflikt am 25. Juni 2017 verwickelt gewesen. Der Vater des Beschwerdeführers sei am 25. Juni 2017 nach einem tätlichen Angriff in eine Krankenanstalt gebracht worden, ca. zehn Tage danach aus der Krankenanstalt entlassen und am 6. Juli 2017 von der XXXX abgeholt worden. Die gesamte Familie hätte über seinen Aufenthalt nichts gewusst und erst später erfahren, dass er neuerlich ins Krankenhaus gebracht worden sei, wo er dann am 10. Juli 2017 verstorben sei. Es wäre für die Behörde jedenfalls möglich gewesen, durch eine Anfrage fehlende Beweise zu erlangen.

Am XXXX kam eine weitere Tochter des Beschwerdeführers und dessen Ehegattin auf die Welt. Für diese wurde am 14. März 2018 ein Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Mit Bescheid vom 14. Mai 2018, Zl. 1184264703-180252071, wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Tochter des Beschwerdeführers gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG, bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Tochter des Beschwerdeführers eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Tochter des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Dieser Bescheid wurde der gesetzlichen Vertretung durch persönliche Übernahme am 24. Mai 2018 zugestellt. Eine Beschwerde wurde gegen diesen Bescheid nicht erhoben.

Am 28. Jänner 2019 fand zur Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer, seine Ehegattin sowie eine geeignete Dolmetscherin teilgenommen haben. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte mit Schreiben mitgeteilt, keinen Vertreter zu entsenden. Im Rahmen der Verhandlung wurden der Beschwerdeführer und dessen Ehegattin zu Ausreisegründen und Lebensumständen im Herkunftsstaat, sowie zum Gesundheitszustand und Leben in Österreich befragt.

Im Rahmen der öffentlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer insbesondere über Vorhalt seiner Aussage im Zuge der Erstbefragungen an, es sei richtig, dass Österreich von Anfang an sein Reiseziel gewesen sei, da hier eine gute medizinische Versorgung gewährleistet sei. Über Nachfrage gab er hierzu an, er habe im Juli 2017 von seiner Frau erfahren, dass sie ein Geschwulst in der Brust hat und sich ihr Gesundheitszustand sich verschlechtere. Daraufhin habe er recherchiert und sei Österreich als Zielland ausgewählt worden. Es sei auch richtig, dass er mit seiner Familie von seinem letzten Wohnsitz mit einem Bus nach Moskau gereist sei und dort unter Pass- und Personenkontrollen in ein Flugzeug Richtung XXXX gestiegen sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde, der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen relevanten Lage in der Russischen Föderation, wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts Folgendes festgestellt:

1.1. Der Beschwerdeführer führt die im Spruch genannten Personalien und ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation. Er ist Ehegatte der Beschwerdeführerin zu W147 2188212 und Vater vierer gemeinsamer Kinder, den BeschwerdeführerInnen W147 2188198, W147 2188203 und W147 2188207 und die im Verfahrensgang genannte Tochter, 1184264703-180252071, deren Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Der Beschwerdeführer leidet eigenen Angaben zufolge zum Entscheidungszeitpunkt an keinen chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden. Dem Beschwerdeführer ist eine Teilnahme am Erwerbsleben möglich.

Der unbescholtene Beschwerdeführer hat sich während seines Aufenthaltes Grundkenntnisse der Deutschen Sprache angeeignet und lebt von der Grundversorgung. Der Beschwerdeführer hat - mit Ausnahme seiner Ehegattin und seiner Kinder, deren Beschwerden mit heutigem Tag ebenfalls als unbegründet abgewiesen wurden ? keine Angehörigen im Bundesgebiet, mit denen er in einem gemeinsamen Haushalt lebt oder zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Im Falle des Beschwerdeführers konnten keine nennenswerten Anknüpfungspunkte wirtschaftlicher oder sozialer Natur im Bundesgebiet festgestellt und kann auch vor dem Hintergrund seiner Aufenthaltsdauer von keiner besonderen Verfestigung im Bundesgebiet gesprochen werden.

Bis zur Ausreise lebte der Beschwerdeführer mit seiner Familie in einem Haus, welches teilweise zerstört derzeit leerstehend ist. Im selben Dorf leben weitere zahlreiche Verwandte des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer war vor seiner Ausreise auch in der Lage, für den Lebensunterhalt seiner Familie aufzukommen.

Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen kamen nicht hervor.

1.2. Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation werden folgende Feststellungen getroffen:

0. "Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

-

FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-

OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-

Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

-

Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

-

Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

0.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

0.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

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IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

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BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

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Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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