TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/8 W261 2169487-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.03.2019
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Entscheidungsdatum

08.03.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W261 2169487-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX, geboren am XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.08.2017, Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 08.03.2022 erteilt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der nunmehrige Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 10.01.2016 in die Republik Österreich ein und stellte am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung am 11.01.2016 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu an, dass er aus der Provinz Kunduz stamme, Paschtune und Analphabet sei. Er habe Afghanistan verlassen, weil die Taliban ihm vorgeworfen hätten, dass er diese ausspioniert habe.

Am 29.06.2017 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten (in der Folge belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu. Er gab im Wesentlichen das an, was er bereits bei seiner Ersteinvernahme ausgesagt hatte. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Die belangte Behörde räumte dem BF mit Schreiben vom 21.04.2017 die Möglichkeit ein, innerhalb einer Frist von einer Woche eine schriftliche Stellungnahme zu den Länderinformationen abzugeben. Der BF gab keine Stellungnahme ab.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt III.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, der BF habe eine Furcht vor Verfolgung durch die Taliban nicht glaubhaft gemacht. Er habe sich bei seiner Aussage in Widersprüche verstrickt, und es sei nicht nachvollziehbar, weswegen die Taliban ihn drei Tage lang suchen hätten sollen. In Bezug auf seine Herkunftsprovinz liege eine Gefährdungslage vor, nicht jedoch allgemein in Afghanistan. Es bestehe eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Kabul. Der BF stamme vom Stamm der XXXX ab, und er könne nach dem Paschtunwali davon ausgehen, dass die Stammesmitglieder ihn im Falle einer Rückkehr unterstützen werden. Der BF könne Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Der BF erhob mit Eingabe vom 28.08.2017, bevollmächtigt vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen sehr allgemein gehalten seien, zu einem Großteil nichts mit dem Vorbringen bzw. der Situation des BF zu tun hätten und daher mangelhaft seien. Weiters habe die belangte Behörde dem BF in der Beweiswürdigung angebliche Widersprüche vorgehalten, zu denen sie ihn jedoch überhaupt nicht befragt habe, sondern seine Angaben im Bescheid plötzlich pauschal für unglaubwürdig befunden habe. Der BF habe seine Fluchtgeschichte umfassend und detailliert vorgebracht und hätte der Beweiswürdigung des BFA leicht entgegentreten können, was bereits in erster Instanz zu einem anderen Verfahrensausgang geführt hätte. Die belangte Behörde hätte bei Zweifeln über die Glaubhaftigkeit des Vorbringens aufgrund ihrer umfassenden Ermittlungspflicht Ungereimtheiten oder Inkonsistenzen durch Nachfragen bestätigen oder ausschließen müssen. Bei richtiger Beweiswürdigung hätte das BFA zur Feststellung gelangen müssen, dass der BF in Afghanistan Verfolgung bzw. die Gefährdung seines Lebens und seiner körperlichen Unversehrtheit reell und objektiv befürchten habe müssen und er keinen Schutz der Behörden erwarten habe können. Ihm wäre daher seitens der belangten Behörde internationaler Schutz gem. § 3 AsylG zu gewähren gewesen. Der BF sei in seiner Herkunftsregion durch die Taliban gefährdet und könne sich nirgendwo anders niederlassen, da ihm dort jegliche Lebensgrundlage entzogen wäre. Ihm wäre daher in eventu subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen. Der BF sei sehr bemüht, Deutsch zu lernen und sich an die österreichische Kultur anzupassen. Der BF sei strafgerichtlich unbescholten und habe nicht gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. Die Rückkehrentscheidung hätten für dauerhaft unzulässig erklärt werden müssen und die Behörde hätte ihm eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen zu erteilen gehabt. Der Beschwerde wurde die "Notiz Afghanistan - Alltag in Kabul" von Thomas Ruttig vom 12.04.2017 angeschlossen.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 01.09.2017 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Das BVwG führte am 22.02.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seiner Rechtsvertreterin und eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 30.01.2018, die UNHCR Richtlinie vom 19.04.2016, den Landinforeport zu Afghanistan "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne", vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Der BF gab in seiner Stellungnahme vom 14.03.2018 durch seinen Rechtsvertreter eine schriftliche Stellungnahme ab. Darin führte er im Wesentlichen aus, dass der Landinforeport das Vorbringen des BF untermauere, in ganz Afghanistan von den Taliban aufgespürt und verfolgt zu werden. Laut Landinforeport bestehe für die Zielgruppe von Personen, von denen angenommen werde, dass sie für die Regierung Informationen liefern, auch keine Chance, durch Reue und den Willen zur Wiedergutmachung bzw. durch die Einstellung der feindseligen Tätigkeiten der Verfolgung zu entgehen. Die Aktualität der Verfolgungsgefahr für den BF werde auch insofern bestätigt, als gezielte Tötungen laut Landinforeport dramatisch zugenommen hätten und sich zunehmend gegen Zivilisten richten würden. Da der BF in den Augen der Taliban als "Spion" und nicht direkt bzw. "nur" als Kollaborateur gegolten habe, seien die Ausführungen zu den "Regeln der Taliban" auf den BF nicht anwendbar. Davon abgesehen bestätige der Landinforeport selbst, dass die meisten Taliban zugeben würden, dass es immer noch willkürliche Hinrichtungen gäbe und sie nicht immer genau nach dem im Landinforeport geschilderten geordneten Verfahren vorgehen würden. Das Länderinformationsblatt bestätige die schlechte Sicherheitslage in der Heimatprovinz des BF, Kunduz, und die dortige Taliban-Präsenz. Das Länderinformationsblatt bilde jedoch die verschlechterte Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nur unzureichend ab. Eine Neuansiedlung des BF in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif sei, auch im Lichte der UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016, nicht zumutbar. In eventu wäre die Rückkehrentscheidung des BF auf Dauer für unzulässig zu erklären und ihm ein Aufenthaltstitel gem. § 55 AsylG zu erteilen, da die Rückkehrentscheidung in sein Recht auf Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK eingreife, ohne dass ein solcher gem. Art. 8 Abs 2 EMRK notwendig wäre.

Der BF gab am 15.03.2018 eine ergänzende Stellungnahme ab, worin er auf seine Ausführungen in der Stellungnahme vom 14.03.2018 verwies, wonach eine interne Fluchtalternative mangels Zumutbarkeit und ausreichender Sicherheit in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht gegeben sei. Zum weiteren Beweis dieses Vorbringens werde auf eine Präsentation der stellvertretenden Leiterin von UNHCR Afghanistan, Aurvasi PATEL, verwiesen, die die Notwendigkeit eines sozialen Netzwerkes am Ort der Neuansiedlung betone und angebe, dass in der derzeit in Überarbeitung befindlichen, neuen Version der UNHCR-Richtlinien die Notwendigkeit eines sozialen Netzes am Ort der Neuansiedlung stärker betont werde. Sie bestätige auch die prekäre humanitäre Situation der intern Vertriebenen etwa in Kabul infolge erschöpfter Aufnahmeressourcen. Die Ansicht, dass eine Existenzsicherung aus Eigenem in den afghanischen Großstädten wegen der erschöpften Ressourcen nicht möglich sei, teile auch Amnesty International in der Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 05.02.2018 an das Verwaltungsgericht Wiesbaden.

Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme zu den Länderinformationen ab.

Das BVwG führte am 27.02.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach der BF seit 16.01.2016 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.

Aus dem vom BVwG am 27.02.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass der BF in Österreich strafrechtlich unbescholten ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Feststellungen zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX, geboren am XXXX in der Stadt XXXX im Stadteil XXXX in der Provinz Kunduz, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an, ist sunnitischer Moslem, gesund, ledig und kinderlos. Die Muttersprache des BF ist Paschtu. Der BF gehört dem Stamm der XXXX an.

Der BF wuchs an seinem Geburtsort in der Provinz Kunduz im Haus seiner Eltern auf. Der BF besuchte keine Schule.

Der Vater des BF heißt XXXX, seine Mutter heißt XXXX. Der Vater arbeitet in der eigenen Landwirtschaft mit Viehhaltung.

Der BF hat Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester, die allesamt älter sind als er. Es kann nicht festgestellt werden, ob der BF noch Kontakt zu seiner Familie hat.

Die Familie des BF ist Eigentümerin eines Hauses und von Grundstücken im Ausmaß von 1 1/2 Jirib.

Der BF hat zwei Onkel väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits, welche im Heimatdistrikt des BF leben. Die Verwandten des BF sind in der Landwirtschaft tätig und haben eigene Viehherden.

Der BF reiste Ende des Jahres 2015 aus Afghanistan aus und gelangte über den Iran, die Türkei über Griechenland und weitere Staaten nach Österreich, wo er am 10.01.2016 illegal einreiste und am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Es ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem BF von den Taliban aufgrund seiner Tätigkeit für das Militär in seiner Heimatregion, bei welcher er von den Soldaten in die Wohnhäuser vorausgeschickt wurde, um die Frauen vorzuwarnen, dass Männer kommen würden, um nach Waffen zu suchen, der Spionage verdächtigt wird, und ihm von den Taliban deswegen eine oppositionelle politische und religiöse Gesinnung unterstellt wird und ihm aus diesen Gründen Verfolgung droht. Die staatlichen Behörden können dem BF in seiner Heimatregion keinen Schutz vor Verfolgung durch die Taliban bieten. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung.

Es liegen keine Gründe vor, nach denen ein Ausschluss des BF hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat. Solche Gründe sind im Verfahren nicht hervorgekommen. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im Jänner 2016 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Der BF hat keine Familienangehörigen in Österreich.

Der BF besucht Deutschkurse und verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache. Er absolvierte die Aufnahmeprüfung für den Pflichtschulabschluss. Der BF ist als freiwilliger Helfer einmal wöchentlich in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft der Diakonie in XXXX tätig und arbeitet zwei Mal wöchentlich ehrenamtlich bei einem "XXXX-Laden" der Caritas. In seiner Freizeit ist er weiters in einem Boxverein aktiv. Er hat freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und will den Beruf des Kochs erlernen.

1.3 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im notorischen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 08.01.2019, in den notorischen UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, den notorischen EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und der in der Arbeitsübersetzung Landinfo report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.3.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

1.3.1.1 Herkunftsprovinz Kunduz

Kunduz, die Herkunftsprovinz des BF, liegt 337 km nördlich von Kabul und grenzt an die Provinzen Takhar im Osten, Baghlan im Süden, Balkh im Westen und Tadschikistan im Norden. Die Provinz hat folgende

Distrikte: Imam Sahib/Emamsaheb, Dasht-e-Archi, Qala-e-Zal, Chahar Dara/Chardarah, Ali Abad/Aliabad, Khan Abad/Khanabad und Kunduz; die Hauptstadt ist Kunduz Stadt. Gemäß einer Quelle wurden vor zwei

Jahren in der Provinz drei neue Distrikte gegründet: Atqash, Gultapa, Gulbad.

Als strategischer Korridor wird Kunduz als bedeutende Provinz in Nordafghanistan erachtet - Sher Khan Bandar, die Hafenstadt am Fluss Pandsch, an der Grenze zu Tadschikistan, ist beispielsweise von militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung.

Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.049.249 geschätzt. In der Provinz leben Paschtunen, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara und Paschai.

Strategisch wichtig ist die Stadt Kunduz nicht nur für Afghanistan, denn Kunduz war bis zum Einmarsch der US-Amerikaner im Jahr 2001 die letzte Hochburg der Taliban. Wer die Stadt kontrolliert, dem steht der Weg nach Nordafghanistan offen. Kunduz liegt an einer wichtigen Straße, die Kabul mit den angrenzenden nördlichen Provinzen verbindet. Kunduz-Stadt ist eine der größten Städte Afghanistans und war lange Zeit ein strategisch wichtiges Transportzentrum für den Norden des Landes.

Kunduz zählt zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans, in der Aufständische aktiv sind. In den Jahren 2015 und 2016 fiel Kunduz-Stadt jeweils einmal an Taliban-Aufständische; die Stadt konnte in beiden Fällen von den afghanischen Streitkräften zurückerobert werden. Das deutsche Militär hat einen großen Stützpunkt in der Provinz Kunduz. Während des Jahres 2017 sank die Anzahl der zivilen Opfer in Folge von Bodenoffensiven u.a. in der Provinz Kunduz; ein Grund dafür war ein Rückgang von Militäroffensiven in von Zivilist/innen bewohnten Zentren durch die Konfliktparteien. Im Februar 2018 berichteten einige Quellen, die Sicherheitslage in der Provinzhauptstadt Kunduz hätte sich sehr verbessert; den Einwohnern in Kunduz-Stadt sei es aufgrund der Beleuchtung zahlreicher Straßen möglich, auch nachts in der Stadt zu bleiben.

Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 225 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 377 zivile Opfer (93 getötete Zivilisten und 284 Verletzte) in der Provinz Kunduz registriert. Hauptursache waren Bodenangriffe, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 41% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Aufgrund von Terrorbekämpfungsoperationen in der Provinz sind zahlreiche Familien nach Kunduz-Stadt vertrieben worden. Nach dem US-amerikanischen Luftangriff auf das Medecins Sans Frontieres (MSF)-Krankenhaus im Jahr 2015 wurde im Juli 2017 wieder eine Klinik von MSF in Kunduz-Stadt eröffnet.

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien. Auch werden regelmäßig Luftangriffe durchgeführt. Dabei werden Aufständische - u. a. tadschikische Kämpfer - und manchmal auch Talibankommandanten getötet. Manchmal werden Talibankämpfer verhaftet. In der Provinz kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften.

Talibankämpfer, insbesondere Mitglieder der "Red Unit", einer Taliban-Einheit, die in zunehmendem Ausmaß Regierungsstützpunkte angreift, sind in der Provinz Kunduz aktiv. Einige Distrikte, wie Atqash, Gultapa und Gulbad, sind unter Kontrolle der Taliban. Auch in Teilen der Distrikte Dasht-e-Archi und Chardarah sind Talibankämpfer zum Berichtszeitpunkt aktiv.

Im Zeitraum 01.01.2017 - 15.07.2017 wurden IS-bezogene Sicherheitsvorfälle registriert, während zwischen 16.07.2017 - 31.01.2018 keine sicherheitsrelevanten Ereignisse mit Bezug auf den IS gemeldet wurden.

Bei der Provinz Kunduz handelt es laut den EASO Richtlinien vom Juni 2018 um einen Landesteil Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist.

1.3.2 Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant.

Um Ordnung und Normalität in die Stadt Kunduz zu bringen, hat die Kommunalverwaltung im Februar 2018 eine Massenaufräum-Aktion gestartet. Ebenso wurden weitere Projekte implementiert: im Rahmen dieser werden Landstraßen und Wege gewartet, vier neue Parks errichtet - die insbesondere von Frauen und Kindern genutzt werden sollen, etc. Diese Projekte führten zusätzlich zur Schaffung von 550 Jobs - auch für Frauen. Das Erscheinungsbild der Stadt hat sich u.a. aufgrund der Errichtung von Straßenbeleuchtung verbessert. In Kunduz gibt es zahlreiche Unternehmen, die verschiedene Produkte wie Fruchtsäfte, Klopapier, Taschentücher und Sojabohnen produzieren. Die Sicherheitslage hatte mit Stand März 2017 jedoch negative Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum in der Provinz. In der Provinz wird ein Projekt im Wert von 9.5 Mio. USD für den Ausbau der ANA- Infrastruktur [Anmerkung: der Infrastruktur der Afghan National Army] implementiert. Kunduz gehörte im November 2017 zu den Opium-freien Provinzen Afghanistans.

1.3.3 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pasht. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

1.3.4 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten, wie es auch der BF ist.

1.3.5 Terroristische und aufständische Gruppierungen

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte grundsätzlich vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus. Die Taliban haben hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet. Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans. Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten.

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten":

...

d) Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern;

...

Außer den Personen der oben genannten Kategorien a), d), e) und k) bieten die Taliban allen Personen, die sich fehlverhalten die Chance, Reue und Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen der Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Im Grunde steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein "Übeltäter" ist, und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können.

Die Taliban haben ein Netzwerk an Spitzeln in Afghanistan, allein in der Stadt Kabul sind drei verschiedene Taliban Nachrichtendienste nebeneinander aktiv. Es heißt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste der Taliban in Kabul über 1.500 Spione in allen 17 Stadtteilen haben. Selbst die, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden. Die Taliban behaupten, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, regelmäßig Berichte darüber zu erhalten, wer neu ins Land einreist.

In dem Maße, in dem das System der Taliban Gestalt annahm und ihre Verhaltenskodizes ausgefeilter wurden, wurden auch Regeln eingeführt, die vorschrieben, dass die Taliban Kollaborateure mindestens zweimal warnen mussten, bevor sie gegen sie vorgingen. Dieses Verfahren galt wohl ab 2009 oder 2010. Von der Regel ausgenommen sind lediglich "schlimme Kriminelle", wie führende Persönlichkeiten in der Regierung. Daher gilt folgendes Verfahren für das Vorgehen gegen einen bestimmten Kollaborateur:

1. Person identifizieren;

2. Kontaktdaten herausfinden (Adresse oder Telefonnummer);

3. Person mindestens zweimal warnen;

4. verhören und vor Taliban-Gerichte stellen;

5. Person auf die schwarze Liste setzen, wenn sie sich weigert, den Anordnungen der Taliban Folge zu leisten;

6. Günstige Gelegenheit abwarten, um zuzuschlagen.

Teil 4 wird ausgesetzt, wenn die Umstände Verhöre oder Inhaftierung nicht zulassen. So können die Taliban zum Beispiel in der Stadt Kabul normalerweise keine Verdächtigen oder Täter festnehmen, daher gibt es die beiden Alternativen, die Verdächtigen zu überwachen, bis sie Kabul verlassen und sie dann festzunehmen (die Taliban behaupten, 2015/16 350 solcher Festnahmen durchgeführt zu haben) oder die Mordkommandos zum Einsatz zu bringen, ohne den Umweg über ein Gerichtsverfahren.

Die praktische Durchführung von Schritt 6 hängt normalerweise von den Fähigkeiten des lokalen Verfolgungsteams ab, dessen Arbeitsauslastung und dem mit der Vollstreckung des 'Urteils' verbundenen Risiko. Eine geschützte Zielperson bzw. eine in einem Gebiet, das von den Behörden stark bewacht wird, könnte zwar für die Taliban wichtig sein, bei ihrer Liquidierung bestünde aber andererseits auch ein hohes Risiko, dass das Mordkommando die Operation nicht überlebt. Eine weniger wichtige Zielperson, die in einem leicht zugänglichen Gebiet mit guten Fluchtmöglichkeiten wohnt, könnte von den Taliban eher liquidiert werden, als eine bedeutendere, die besser geschützt ist. Die Nachrichtendienste der Taliban geben ihre Listen der Verdächtigen an die Militär-Kommission (im Falle der Quetta Shura, an den Schattengouverneur; im Falle der Miran Shah Shura an den Provinzverteter des Haqqani-Netzes) weiter, die dann darüber entscheidet, welche von diesen Personen auf die schwarze Liste gesetzt werden. Jeder nachrichtendienstlichen Abteilung in den Provinzen ist ein Team (Istakhbarati Karwan) zugeordnet, das in Absprache mit der Militär-Kommission Kollaborateure verfolgt. In den meisten Provinzen besteht das Team aus 20 Mitgliedern, ist aber an Orten wie Kabul größer. Die meisten Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Verfolgung einer Zielperson werden von den Karwan ausgeführt, weitere Gefahr droht ihnen jedoch durch die Kontrollstellen der Taliban und deren Patrouillen in den Dörfern, die jeweils über Auszüge der Liste der Zielpersonen verfügen.

Obwohl die politische Führung der Taliban anscheinend großen Wert auf die von ihr eingeführten Regeln legt und will, dass sie eingehalten werden, geben die meisten Taliban zu, dass es immer noch willkürliche Hinrichtungen gibt. Gelegentlich nehmen die Taliban Hinrichtungen aus Wut wegen Luft- und Nachtangriffen auf sie vor. Da er nichts dagegen unternehmen kann, könnte ein Taliban-Kommandant einige der Dorfbewohner zu Sündenböcken machen, insbesondere, wenn man sie sowieso schon in Verdacht hatte, den Taliban gegenüber nicht loyal zu sein. Außerdem leidet die Informationsbeschaffung der Taliban, genau wie die ihrer Gegner - der afghanischen Regierung und der ISAF - unter Falschinformationen, die durch Fehden oder Vendetten motiviert sind.

Zumindest teilweise hat das Justizsystem der Taliban den Zweck, deutlich zu machen, dass ihre Bewegung einen Schattenstaat darstellt. Es liegt den Taliban daher viel daran, die Kontinuität zwischen der aktuellen Bewegung von Aufständischen und dem Taliban-Emirat von 1996-2001 zu betonen; tatsächlich bezeichnen sich die Taliban selbst immer noch als das Islamische Emirat Afghanistan. Daher gelten alle Urteile, die die Taliban für jegliches Verbrechen einmal gesprochen haben, immer noch weiter, einschließlich derer, die vor dem Fall des Emirates ergingen. Tatsächlich befinden sich, laut den Taliban-Quellen, auf der 15.000 Personen umfassenden schwarzen Liste, immer noch 3.000, die zu Zeiten des Emirats verurteilt wurden (die Gerichtsunterlagen wurden nach Pakistan geschafft, als das Emirat fiel). Es ist naheliegend, dass diejenigen, die den Urteilen der Taliban damals entgingen, sich im Ausland aufhielten, daher wurden recht viele dieser Personen (ca. 200) von den Taliban erst 2002-2016 gefasst.

Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zu den Feststellungen zur Person und den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung des BF beruhen auf dessen plausiblen, im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im Laufe des Asylverfahrens. Die Angaben dienen zur Identifizierung im Asylverfahren.

Die Feststellungen zu den Gründen des BF für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die vom BF vor der belangten Behörde und im Beschwerdeverfahren, insbesondere auf die in der mündlichen Verhandlung am 22.02.2018, getroffenen Aussagen.

Die Aussagen des Asylwerbers stellen, wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung erkennt, häufig die zentrale Erkenntnisquelle dar, die auf ihre Glaubhaftigkeit zu überprüfen ist. So ist das Vorbringen eines Asylwerbers als glaubhaft anzusehen, wenn es nachstehende vier Grunderfordernisse erfüllt:

1. Das Vorbringen des Asylwerbers ist genügend substantiiert. Das Ergebnis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht in der Lage ist, konkrete und detaillierte Angaben über seine Erlebnisse zu machen.

2. Das Vorbringen muss, um als glaubhaft zu gelten, in sich schlüssig sein. Der Asylwerber darf sich nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.

3. Das Vorbringen muss plausibel sein, d.h. mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Diese Voraussetzung ist u. a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen.

4. Der Asylwerber muss persönlich glaubwürdig sein. Das ist dann nicht der Fall, wenn sein Vorbringen auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt ist, aber auch dann, wenn er wichtige Tatsachen verheimlicht oder bewusst falsch darstellt, im Laufe des Verfahrens das Vorbringen auswechselt oder unbegründet und verspätet erstattet oder mangelndes Interesse am Verfahrenslauf zeigt und die nötige Mitwirkung verweigert.

Als fluchtauslösendes Ereignis brachte der BF in allen seinen Einvernahmen in diesem Verfahren stets - auf Nachfragen ausführlicher - vor, dass er von den Taliban zusammen mit Militärangehörigen gesehen worden sei. Die Taliban hätten ihn deshalb der Spionage verdächtigt und nach ihm gesucht, weshalb er Afghanistan verlassen habe müssen. Dass er sein vollständiges Fluchtvorbringen - wonach er tatsächlich für das Militär tätig war, in dem er von den Soldaten in die Wohnhäuser vorausgeschickt wurde, um die Frauen vorzuwarnen, dass Männer kommen würden, um nach Waffen zu suchen - vor der belangten Behörde noch nicht in dieser Form geschildert hat, beeinträchtigt seine Glaubwürdigkeit dabei nicht. Der BF ist Analphabet, besuchte nie die Schule und war in Afghanistan lediglich in der Landwirtschaft seiner Familie tätig. Bei Durchsicht der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA zeigt sich, dass er aufgrund seines geringen Bildungsniveaus nicht in der Lage war, sein Fluchtvorbringen plausibel darzustellen, darüber hinaus wurde seitens der belangten Behörde auch nur unzureichend nachgefragt. Der in der mündlichen Beschwerdeverhandlung seitens der erkennenden Richterin erhaltene Eindruck des einfachen, kindlichen Gemüts des BF bestätigt sich auch in seinen lebensnahen Schilderungen über seine Freude über die von den Militärbediensteten in Aussicht gestellten Kekse und Kleinigkeiten, die ihm als Belohnung für seine Hilfe versprochen worden seien, und das mangelnde Verständnis für die potenziellen Auswirkungen seiner Mithilfe.

Er schilderte diese Vorfälle lebensnah, substantiiert und nachvollziehbar. Dabei machte er detaillierte Angaben darüber, wie er, aufgrund seines kindlichen Aussehens und Wesens von den Militärs in die Häuser vorgeschickt worden sei, um die Frauen zu warnen, dass fremde Männer ins Haus kommen würden. Auch die Schilderungen über die Warnungen seines Cousins, das Aufsuchen des elterlichen Hauses durch die Taliban am selben Abend und seine übereilte Flucht über die Hausmauer waren glaubhaft und widerspruchsfrei.

Das Vorbringen des BF ist auch im Lichte der in den Feststellungen zu Afghanistan enthaltenen Ausführungen, insbesondere zum Vorgehen der Taliban betreffend Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern, plausibel. Der BF, der vor seiner Flucht nie sein Heimatdorf verlassen hatte, nannte in der mündlichen Beschwerdeverhandlung die Namen von zwei Taliban-Kommandanten der Region, Kamal und Jamal. Es ist auch davon auszugehen, dass er über weitere Namen und Informationen über Mitglieder der Taliban in seiner Region verfügt. Aus diesem Grund ist nachvollziehbar, dass die Taliban, die die Kontrolle über das Heimatdorf des BF hatten, zur Annahme kommen konnten, dass er den Soldaten Informationen über sie gegeben haben könnte.

Der BF hat sich in allen seinen Einvernahmen zu den entscheidenden Kernpunkten seines Vorbringens konsistent und ohne Widersprüche geäußert. Der BF zeigte sich in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG offen und bemüht, an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken und vermittelte insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck.

Die durch die Länderberichte belegte, über einen langen Zeitraum äußerst volatile Sicherheitslage in der Heimatregion des BF, Kunduz, die hohe Präsenz der Taliban und die Vielzahl von sicherheitsrelevanten Vorfälle zeigen, dass derzeit nicht davon ausgegangen werden kann, dass die staatlichen Sicherheitsbehörden im Hinblick auf die dortige Verfolgung durch die Taliban den BF hinreichend schützen können.

Dem BF steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da die Taliban in ganz Afghanistan ein Netzwerk an Spitzeln und Nachrichtendiensten haben, wie aus den Länderfeststellungen hervorgeht. Es ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es den Taliban gelingen wird, den BF im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu finden und sich herumsprechen würde, dass er von seiner Flucht zurückgekehrt ist und ihm bei einer Rückkehr in weiterer Folge Gewalt von Seiten der Taliban droht. Dass der afghanische Staat derzeit landesweit nicht in der Lage ist, den BF vor dieser Bedrohung hinreichend zu schützen, zeigt sich aus den Länderberichten, wonach die Taliban im gesamten Staatsgebiet wieder an Einfluss gewinnen und viele Teile des Landes unter ihrer Kontrolle haben.

2.2 Zu den Feststellungen zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Betreffend das Privatleben und insbesondere die Integration des BF in Österreich wurden dessen Angaben in der Beschwerdeverhandlung sowie die vorgelegten Unterlagen den Feststellungen zugrunde gelegt.

Die Feststellung zur strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF ergibt sich aus einer aktuellen Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich.

2.3 Zu den Länderfeststellungen zur allgemeinen Lage in Afghanistan

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das BVwG kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben. Den Parteien des Verfahrens sind alle zitierten Länderfeststellungen bekannt. Es ist auch davon auszugehen, dass der Rechtsvertretung des BF die aktuellen Länderinformationen, wie das Länderinformationsblatt in der aktualisierten Fassung vom 08.01.2019, die aktuellen UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 und die aktuellen EASO Leitlinien vom Juni 2018 bekannt sind. Diese Länderinformationen dienen vor allem auch dazu, das Vorbringen des BF zu untermauern. Die vom BF in seinen Stellungnahmen vom März 2018 zitierten Länderinformationen finden Großteils Deckung in dem von der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erstellten Länderinformationen zu Afghanistan. Insoweit es hier Abweichungen zu den dieser Entscheidung zugrunde gelegten Länderinformationen gibt, wird dem entgegengehalten, dass diese Länderinformationen der Staatendokumentation auf dem aktuellen Stand sind, und alle, für das gegenständliche Verfahren wesentlichen Aspekte berücksichtigen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A):

Gemäß § 3 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist und glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (in der Folge GFK) droht.

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offensteht, oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z.B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.

Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).

Für die Annahme einer asylrelevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist (VwGH 12.09.2001, 2001/20/0310). Als politisch kann alles qualifiziert werden, was für den Staat, für die Gestaltung bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (Hinweis Rohrböck, Das Bundesgesetz zur Gewährung von Asyl, 1999, RZ 408).

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich mehrfach mit dem im konkreten Fall relevanten Thema der Verfolgung durch die Taliban auseinandergesetzt und hat dazu folgende Kriterien im Hinblick auf die Asylrelevanz herausgearbeitet:

Nach den oben angeführten Länderberichten, insbesondere den notorischen aktuellen UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, denen nach der Rechtsprechung des VwGH besondere Beachtung zu schenken ist, gehört der BF aufgrund seiner Tätigkeit zur Risikogruppe der "Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen."

Im gegenständlichen Fall geht die Unterstellung einer bestimmten politischen Gesinnung zwar nicht vom Staat aus, doch wäre eine solche Unterstellung seitens der Taliban, nämlich auf der Seite ihrer politischen Gegner zu stehen und sich damit gegen ihre Interessen zu stellen, ebenfalls von Bedeutung (vgl. dazu die Algerien betreffenden Erkenntnisse des VwGH vom 16.07.2003, 2000/01/0518; 22.08.2006, 2005/01/0728). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil auf Grund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256, VwGH 14.05.2002, 2001/01/0140; siehe weiters VwGH 24.05.2005, 2004/01/0576, VwGH 26.02.2002, 99/20/0509).

Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Berichtslage zur Aktivität der Taliban und mit Blick auf die dem BF bereits widerfahrene Bedrohung durch Taliban ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer aufgrund der durch seine Tätigkeit für das Militär daraus resultierenden (unterstellten) oppositionellen politischen Gesinnung bei einer Rückkehr Bedrohung und Verfolgung erheblicher Intensität durch Taliban zu gewärtigen hätte. Es ist auch nach Lage des Falles davon auszugehen, dass der BF - in seiner Heimatprovinz Kunduz - der erheblichen Gefahr ausgesetzt war und ist, von den Taliban verfolgt zu werden. Aus diesen Umständen ergeben sich gewichtige und konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen einer aktuellen, ausreichend wahrscheinlichen Verfolgung des Beschwerdeführers von Seiten der Taliban.

Die Prüfung, ob es dem BF möglich wäre, angesichts der im konkreten Fall zu befürchtenden Eingriffe, die eine Verfolgung von privater Seite darstellt, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat in Anspruch zu nehmen bzw. ob der Eintritt des zu befürchtenden Risikos - trotz Bestehens von Schutzmechanismen im Herkunftsstaat - wahrscheinlich ist, ergibt im konkreten Fall, dass eine solche Wahrscheinlichkeit zu bejahen ist. Die Inanspruchnahme des Schutzes durch den afghanischen Staat vor dieser Bedrohung durch die Taliban ist angesichts der ineffizienten Schutzmechanismen des afghanischen Staates (kein funktionierender Polizei- oder Justizapparat; im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber bestehen keine effektiven Mechanismen zur Verhinderung der dem BF drohenden Verfolgung) sowie der instabilen Sicherheitslage und der hohen Talibanpräsenz in Kunduz nur theoretischer Natur. Es kann vor diesem Hintergrund nicht davon gesprochen werden, dass der afghanische Staat derzeit in der Lage wäre, dem BF, der ins Visier der Taliban geraten ist und aktuell einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt wäre, effektiven Schutz zu gewähren. Fallbezogen ist daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der BF angesichts des ihn betreffenden Verfolgungsrisikos keinen ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.

Die Möglichkeit, sich der Bedrohung durch die Taliban durch Ausweichen in eine andere Region Afghanistans zu entziehen, besteht für den BF im gegenständlichen Fall ebenfalls nicht, da aufgrund des Umstandes, dass die Taliban laut den zitierten Länderinformationen auch in anderen Provinzen Afghanistans über entsprechende Netzwerke verfügen, wie bereits dargestellt, nicht angenommen werden kann.

Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit für den BF gegeben, liegt doch der Grund für die Verfolgung des Beschwerdeführers jedenfalls wesentlich in der dem BF von den Verfolgern (Taliban) unterstellten oppositionellen politischen oder religiösen Gesinnung.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (Artikel 1 Abschnitt D, F der GFK und § 6 AsylG) oder eines Endigungsgrundes (Artikel 1 Abschnitt C der GFK) ist nicht hervorgekommen.

Dem Beschwerdeführer ist daher gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 kommt einem Fremden, der seinen Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 stellte, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen, oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter.

Die BF stellte den Antrag auf internationalen Schutz am 10.01.2016, somit nach dem 15.11.2015, daher ist der BF spruchgemäß die befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung (siehe die oben zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, aber auch des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung, befristete
Aufenthaltsberechtigung, gesamtes Staatsgebiet, private Verfolgung,
Schutzunfähigkeit, unterstellte politische Gesinnung, wohlbegründete
Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W261.2169487.1.00

Zuletzt aktualisiert am

03.05.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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