TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/13 W198 2177758-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.03.2019
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Entscheidungsdatum

13.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W198 2177758-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Karl SATTLER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.03.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 55, 57 AsylG 2005 idgF.,

§ 9 BFA-VG idgF., und §§ 52, 55 FPG idgF. als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, hat sein Heimatland verlassen, ist illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat am 17.04.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

2. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 17.04.2015 gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund an, dass die Taliban Druck auf seinen Vater ausgeübt hätten, dass der Beschwerdeführer mit ihnen zusammenarbeite. Der Beschwerdeführer habe dies jedoch nicht gewollt.

3. Der Beschwerdeführer wurde am 06.10.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er aus der Provinz Kunduz, Distrikt XXXX stamme. Er habe die Schule bis zur elften Klasse besucht. Da Kunduz in die Hände der Taliban gefallen sei, wisse der Beschwerdeführer nicht, wo seine Eltern und Geschwister nunmehr leben würden. Eine Tante des Beschwerdeführers lebe in Herat. Zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass sein Onkel mit den Taliban zusammengearbeitet habe. Die Cousins des Beschwerdeführers hätte den Beschwerdeführer aufgefordert, mit ihnen gemeinsam in den heiligen Krieg gegen die Regierung zu ziehen. Eines Abends seien die Cousins zum Beschwerdeführer nach Hause gekommen und hätten ihn gegen seinen Willen mitgenommen. Sie hätten ihn zu einem hochrangigen Kommandanten der Taliban gebracht. Dort habe der Beschwerdeführer seinen Onkel gesehen. Die Cousins des Beschwerdeführers hätten den Plan gemacht, eine Polizeistation anzugreifen. Es seien Gewehre verteilt worden. Als alle gebetet hätten, sei der Beschwerdeführer geflüchtet und zu einem Freund gefahren, dem er alles erzählt habe. Dieser Freund habe die Polizei benachrichtigt, dass die Taliban den Polizeiposten angreifen wollten. Am nächsten Tag sei der Vater des Beschwerdeführers zum Haus des Freundes des Beschwerdeführers gekommen und habe gesagt, dass die Taliban bei ihm zuhause gewesen seien und nach dem Beschwerdeführer gefragt hätten. Sie hätten gemeint, dass der Beschwerdeführer ein Spion für die Regierung sei. Die Regierungssoldaten hätten den Onkel und einen anderen Kommandanten der Taliban getötet und sei der Beschwerdeführer deshalb beschuldigt worden, als Spion für die Regierung zu arbeiten. Der Vater des Beschwerdeführers habe gemeint, dass der Beschwerdeführer nunmehr von den Taliban getötet werden würde und habe er deshalb Afghanistan verlassen.

4. Mit angefochtenem Bescheid vom 12.10.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs.1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seinem Fluchtgrund, zur Situation im Falle seiner Rückkehr und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es habe keine glaubhafte Gefährdungslage festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung glaubhaft machen können. Dem Beschwerdeführer könne eine Rückkehr nach Afghanistan zugemutet werden. In Kunduz herrsche zwar eine volatile Sicherheitslage, es sei dem Beschwerdeführer jedoch zumutbar, sich in Kabul niederzulassen.

5. Gegen verfahrensgegenständlich angefochtenen Bescheid wurde mit Schreiben der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 08.11.2017 Beschwerde erhoben. Darin wurde ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer von den Taliban unterstellt werde, ein Spion der Regierung zu sein und für den Tod mehrerer Taliban-Kämpfer verantwortlich zu sein. Ihm drohe Verfolgung aufgrund der ihm (unterstellten) politischen Gesinnung. Zudem habe die belangte Behörde die vorgebrachte Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit nicht ausreichend gewürdigt. Weiters sei von der belangten Behörde die Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer bereits zwei Jahre in Österreich aufhalte und demnach im Falle einer Rückkehr als "westernized" angesehen werden würde, nicht berücksichtigt worden. In weiterer Folge wurde auf Berichte zur allgemeinen Lage in Afghanistan verwiesen. Es wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keinen Kontakt zu seiner Familie herstellen könne und würde er im Falle einer Rückkehr jedenfalls in eine existenzbedrohende Notlage geraten, weshalb ihm jedenfalls subsidiärer Schutz zu gewähren wäre.

6. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 24.11.2017 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

7. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.02.2019 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass eine aktualisierte Form des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation - Afghanistan vom 29.06.2018 - Kurzinformation 31.01.2019 - vorliegt.

8. Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 08.03.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein des Beschwerdeführers und seiner Rechtsvertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführt. Die belangte Behörde ist unentschuldigt nicht erschienen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsbürger, geboren XXXX . Er wurde in der Provinz Kunduz, Distrikt XXXX , Dorf XXXX geboren, ist dort aufgewachsen und hat dort gemeinsam mit seiner Familie bis zwei Wochen vor seiner Ausreise aus Afghanistan gelebt. Die letzten zwei Wochen vor seiner Ausreise hat er in der Stadt Herat bei seiner Tante gelebt.

Der Beschwerdeführer konnte keine Tazkira vorlegen. Somit steht seine Identität nicht zweifelsfrei fest.

Zum Zeitpunkt der Ausreise des Beschwerdeführers lebten seine Eltern und Geschwister nach wie vor im Heimatdorf XXXX in der Provinz Kunduz. Es kann nicht festgestellt werden, wo sich die Kernfamilie des Beschwerdeführers nunmehr aufhält. Eine Tante des Beschwerdeführers lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Herat und besitzt dort mit ihrem Mann einen Lebensmittelladen.

Der Beschwerdeführer ist volljährig und ledig. Der Beschwerdeführer ist Tadschike, ist sunnitischer Moslem und spricht Dari. Er hat in Afghanistan elf Jahre lang die Schule besucht. Danach hat er seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Während seines neunmonatigen Aufenthalts in der Türkei hat der Beschwerdeführer als Schneider gearbeitet und Hilfstätigkeiten in der Werkstatt einer Möbelfirma verrichtet.

Beim Beschwerdeführer wurde im Februar 2019 eine Herz-Bypass-Operation wegen Herzrhythmusstörungen durchgeführt. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit spätestens 17.04.2015 in Österreich. Er ist illegal in das Bundesgebiet eingereist. Es halten sich keine Familienangehörigen oder Verwandten des Beschwerdeführers in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer hat mehrere Deutschkurse besucht und die Deutschprüfung ÖSD Zertifikat A2 bestanden. Er war bereits ehrenamtlich tätig. Der Beschwerdeführer hat am 08.06.2017 einen Lehrvertag für die Ausbildung im Lehrberuf Restaurantfachmann (Dauer der Lehrzeit: 3 Jahre) abgeschlossen. Er absolviert seitdem seine Lehre im Restaurant XXXX. Im Schuljahr 2017/2018 hat er die Klasse 1dRES von 06.03.2018 bis 03.05.2018 und im Schuljahr 2018/2019 die Klasse 1bRES von 12.11.2018 bis 25.01.2019 der Berufsschule XXXX besucht. Der Beschwerdeführer hat die Prüfung jedoch nicht bestanden und musste das Jahr wiederholen. Er hat die Nachprüfungen noch nicht abgelegt und ist daher festzustellen, dass er das erste Lehrjahr in der Berufsschule nicht abgeschlossen hat. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt und wurden von ihm keine asylrelevanten Gründe für das Verlassen seines Heimatstaates dargetan. Dem Beschwerdeführer droht in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung keine Verfolgung.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).

Die Wohnraum- und Versorgungslage ist in Herat und Mazar-e Sharif sehr angespannt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.2. Zum Fluchtgrund

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer keiner Bedrohung durch die Taliban ausgesetzt war bzw. im Falle einer Rückkehr ausgesetzt wäre.

Ein konkreter asylrelevanter Anlass für das Verlassen des Herkunftsstaates liegt nicht vor. Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist.

Nicht festgestellt werden kann, dass der Beschwerdeführer als Rückkehrer mit westlicher Orientierung in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 11.09.2018 - LIB 11.09.2018, S. 27).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (LIB 11.09.2018, S. 27).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah- Stadt) bedrohen. Dies ist den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zuzuschreiben (LIB 11.09.2018, S. 30).

Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB 11.09.2018, S. 38).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheits-operationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 11.09.2018, S. 31).

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 11.09.2018, S. 31). Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 11.09.2018, S. 32 ff, 36).

Mazar-e Sharif:

Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh. Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana und Pul-e-Khumri und ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst (LIB 11.09.2018, S. 71).

In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen, durch den die Stadt sicher zu erreichen ist (LIB 11.09.2018, S. 71).

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (LIB 11.09.2018, S. 72).

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt (LIB 11.09.2018, S. 61f).

Herat

Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans und liegt im Westen des Landes. Herat grenzt im Norden an die Provinz Badghis und Turkmenistan, im Süden an die Provinz Farah, im Osten an die Provinz Ghor und im Westen an den Iran. Die Provinz ist in 16 Bezirke eingeteilt, die gleichzeitig auch die administrativen Einheiten bilden. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.967.180 geschätzt. In der Provinz leben Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Uzbeken und Aimaken (LIB 11.09.2018, S. 107).

Provinzhauptstadt ist Herat-Stadt, welche sich im gleichnamigen Distrikt befindet und eine Einwohnerzahl von 506.900 hat. In der Provinz befinden sich zwei Flughäfen: ein internationaler in Herat-Stadt und ein militärischer in Shindand, sodass die Stadt sicher erreichbar ist (LIB 11.09.2018, S. 107, 228 f).

Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen des Landes. Bekannt ist Herat auch wegen seiner Vorreiterrolle in der Safran-Produktion. Die Safran-Produktion garantierte z.B. auch zahlreiche Arbeitsplätze für Frauen in der Provinz (LIB 11.09.2018, S. 107).

Herat wird als eine der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv. Die Provinz Herat zählt zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen des Landes zählt, wenngleich sich in den abgelegenen Distrikten die Situation in den letzten Jahren aufgrund der Taliban verschlechtert hat (LIB 11.09.2018, S. 108).

Nach zehn Jahren der Entminung sind nun 14 von 16 Distrikten der Provinz sicher. In diesen Gegenden besteht keine Gefahr mehr, Landminen und anderen Blindgängern ausgesetzt zu sein. In der Provinz leben u.a. tausende afghanische Binnenflüchtlinge (LIB 11.09.2018, S. 108).

Im gesamten Jahr 2017 wurden in der Provinz Herat 495 zivile Opfer (238 getötete Zivilisten und 257 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Selbstmordanschlägen/komplexen Attacken und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 37% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (LIB 11.09.2018, S. 109).

Regierungsfeindliche Aufständische griffen Mitte 2017 heilige Orte, wie schiitische Moscheen, in Hauptstädten wie Kabul und Herat, an. Dennoch erklärten Talibanaufständische ihre Bereitschaft, sich am Friedensprozess zu beteiligen. Es kam zu internen Konflikten zwischen verfeindeten Taliban-Gruppierungen (LIB 11.09.2018, S. 110).

Kunduz

Kunduz zählt zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans, in der Aufständische aktiv sind (AJ 4.10.2017; vgl. Khaama Press 15.8.2017, Reuters 22.7.2017, Tolonews 24.5.2017). In den Jahren 2015 und 2016 fiel Kunduz-Stadt jeweils einmal an Taliban-Aufständische (Xinhua 8.7.2017); die Stadt konnte in beiden Fällen von den afghanischen Streitkräften zurückerobert werden (BBC 4.10.2016; vgl. Reuters 1.10.2015, NYT 14.1.2018, UNAMA 26.3.2017). Das deutsche Militär hat einen großen Stützpunkt in der Provinz Kunduz (Gandhara 7.3.2018; vgl. SZ 7.3.2018). Während des Jahres 2017 sank die Anzahl der zivilen Opfer in Folge von Bodenoffensiven u.a. in der Provinz Kunduz; ein Grund dafür war ein Rückgang von Militäroffensiven in von Zivilist/innen bewohnten Zentren durch die Konfliktparteien (UNAMA 2.2018).

Im Februar 2018 berichteten einige Quellen, die Sicherheitslage in der Provinzhauptstadt Kunduz hätte sich sehr verbessert; den Einwohnern in Kunduz-Stadt sei es aufgrund der Beleuchtung zahlreicher Straßen möglich, auch nachts in der Stadt zu bleiben (Tolonews 26.2.2018; vgl. Tolonews 17.2.2018).

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 225 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 377 zivile Opfer (93 getötete Zivilisten und 284 Verletzte) in der Provinz Kunduz registriert. Hauptursache waren Bodenangriffe, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 41% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Aufgrund von Terrorbekämpfungsoperationen in der Provinz sind zahlreiche Familien nach Kunduz-Stadt vertrieben worden (Pajhwok 23.1.2018; vgl. Pajhwok 20.1.2018). Nach dem US-amerikanischen Luftangriff auf das Médecins Sans Frontières (MSF)-Krankenhaus im Jahr 2015 wurde im Juli 2017 wieder eine Klinik von MSF in Kunduz-Stadt eröffnet (AJ 4.10.2017; vgl. Reuters 22.7.2017).

Militärische Operationen in der Kunduz

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien (Pajhwok 23.1.2018; vgl. Pajhwok 20.1.2018, Tolonews 25.10.2017, Xinhua 24.9.2017, Khaama Press 22.1.2017, Z News 12.1.2017, Khaama Press 9.1.2017). Auch werden regelmäßig Luftangriffe durchgeführt (LWJ 27.1.2018; vgl. Khaama Press 20.1.2018, Xinhua 14.2.2018, Khaama Press 7.6.2017, TG 4.11.2017, Tolonews 18.10.2017); dabei werden Aufständische - u.a. tadschikische Kämpfer - (Khaama Press 7.6.2017) und manchmal auch Talibankommandanten getötet (Xinhua 14.2.2018). Manchmal werden Talibankämpfer (Xinhua 4.3.2018) verhaftet. In der Provinz kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (UNGASC 27.2.2018; vgl. Pajhwok 23.2.2018, NYT 16.1.2018, Khaama Press 27.1.2018, Khaama Press 15.8.2017, Tolonews 4.7.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen in Kunduz

Talibankämpfer, insbesondere Mitglieder der "Red Unit", einer Taliban-Einheit, die in zunehmendem Ausmaß Regierungsstützpunkte angreift, sind in der Provinz Kunduz aktiv (NYT 16.1.2018; vgl. AT 17.1.2018; NYT 14.11.2017). Einige Distrikte, wie Atqash, Gultapa und Gulbad, sind unter Kontrolle der Taliban (Pajhwok 11.2.2018). Auch in Teilen der Distrikte Dasht-e-Archi und Chardarah sind Talibankämpfer zum Berichtszeitpunkt aktiv (UOL 9.3.2018; Pajhwok 16.1.2018; Xinhua 14.2.2018, Tolonews 25.10.2017, Xinhua 24.9.2017).

Im Zeitraum 1.1.2017 - 15.7.2017 wurden IS-bezogene Sicherheitsvorfälle registriert, während zwischen 16.7.2017 - 31.1.2018 keine sicherheitsrelevanten Ereignisse mit Bezug auf den IS gemeldet wurden (ACLED 23.2.2018).

Medizinische Versorgung

Es gibt keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter sind überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Eine begrenzte Zahl staatlich geförderter öffentlicher Krankenhäuser bieten kostenfreie medizinische Versorgung. Alle Staatsbürger haben Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Kosten für Medikamente in diesen Einrichtungen weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar. Medikamente sind auf jedem Markt in Afghanistan erwerblich, Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes (LIB 11.09.2018, S. 206 ff).

Psychische Erkrankungen sind in öffentlichen und privaten Klinken grundsätzlich behandelbar. Die Behandlung in privaten Kliniken ist für Menschen mit durchschnittlichen Einkommen nicht leistbar. In öffentlichen Krankenhäusern müssen die Patienten nichts für ihre Aufnahme bezahlen. In Kabul gibt es zwei psychiatrische Einrichtungen: das Mental Health Hospital und die Universitätsklinik Aliabad. Zwar gibt es traditionelle Methoden bei denen psychisch Kranke in spirituellen Schreinen unmenschlich behandelt werden. Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung zu betreiben. Die Bundesregierung finanziert Projekte zur Verbesserung der Möglichkeiten psychiatrischer Behandlung und psychologischer Begleitung in Afghanistan (LIB 11.09.2018, S. 327 f). In Mazar-e Sharif gibt es ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB 11.09.2018, S. 327).

Wirtschaft

Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu (LIB 11.09.2018, S. 321).

Für ca. ein Drittel der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (inklusive Tiernutzung) die Haupteinnahmequelle. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Mehr als ein Drittel der männlichen Bevölkerung (34,3%) Afghanistans und mehr als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung (51,1%) sind nicht in der Lage, eine passende Stelle zu finden (LIB 11.09.2018, S. 321).

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Sogar für gut ausgebildete und gut qualifizierte Personen ist es schwierig ohne ein Netzwerk einen Arbeitsplatz zu finden, wenn man nicht empfohlen wird oder dem Arbeitgeber nicht vorgestellt wird. Vetternwirtschaft ist gang und gebe. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Es gibt lokale Webseiten, die offene Stellen im öffentlichen und privaten Sektor annoncieren. Die meisten Afghanen sind unqualifiziert und Teil des informellen, nicht-regulierten Arbeitsmarktes. Der Arbeitsmarkt besteht Großteiles aus manueller Arbeit ohne Anforderungen an eine formelle Ausbildung und spiegelt das niedrige Bildungsniveau wieder. In Kabul gibt es öffentliche Plätze, wo sich Arbeitssuchende und Nachfragende treffen. Viele bewerben sich, nicht jeder wird engagiert. Der Lohn beträgt für Hilfsarbeiter meist USD 4,3 und für angelernte Kräfte bis zu USD 14,5 pro Tag (EASO Afghanistan Netzwerke aus Jänner 2018, Beilage ./III, S. 29 - 30).

In Kabul und in großen Städten stehen Häuser und Wohnungen zur Verfügung. Es ist auch möglich an Stelle einer Wohnung ein Zimmer zu mieten. Dies ist billiger als eine Wohnung zu mieten. Heimkehrer mit Geld können Grund und Boden erwerben und langfristig ein eigenes Haus bauen. Vertriebene in Kabul, die keine Familienanbindung haben und kein Haus anmieten konnten, landen in Lagern, Zeltsiedlungen und provisorischen Hütten oder besetzen aufgelassene Regierungsgebäude. In Städten gibt es Hotels und Pensionen unterschiedlichster Preiskategorien. Für Tagelöhner, Jugendliche, Fahrer, unverheiratete Männer und andere Personen, ohne permanenten Wohnsitz in der jeweiligen Gegend, gibt es im ganzen Land Angebote geringerer Qualität, sogenannte chai khana (Teehaus). Dabei handelt es sich um einfache große Zimmer in denen Tee und Essen aufgetischt wird. Der Preis für eine Übernachtung beträgt zwischen 0,4 und 1,4 USD. In Kabul und anderen großen Städten gibt es viele solche chai khana und wenn ein derartiges Haus voll ist, lässt sich Kost und Logis leicht anderswo finden. Man muss niemanden kennen um dort eingelassen zu werden (EASO Afghanistan Netzwerke aus Jänner 2018, Beilage ./III, S. 31).

Rückkehrer:

Im Jahr 2017 kehrten sowohl freiwillig, als auch zwangsweise insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (LIB 29.06.2018, S. 334 f).

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können (LIB 11.09.2018, S. 335 f).

IOM, IRARA, ACE und AKAH bieten Unterstützung und nachhaltige Begleitung bei der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Schulungen an. NRC bietet Rückkehrer/innen aus Pakistan, Iran und anderen Ländern Unterkunft sowie Haushaltsgegenstände und Informationen zur Sicherheit an und hilft bei Grundstücksstreitigkeiten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) unterstützt Rückkehrer/innen dabei, ihre Familien zu finden (LIB 11.09.2018, S. 336f).

Psychologische Unterstützung von Rückkehrer/innen wird über die Organisation IPSO betrieben - alle Leistungen sind kostenfrei. Diejenigen, die es benötigen und in abgelegene Provinzen zurückkehren, erhalten bis zu fünf Skype-Sitzungen von IPSO. Für psychologische Unterstützung könnte auch ein Krankenhaus aufgesucht werden; möglicherweise mangelt es diesen aber an Kapazitäten (LIB 11.09.2018, S. 337f).

Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Nur sehr wenige Afghanen in Europa verlieren den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Dennoch haben alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (LIB 11.09.2018, S. 338 f).

Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB 11.09.2018, S. 339).

Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB 29.06.2018, S. 339).

Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig sehr misstrauisch wahrgenommen. Rückkehrer werden aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa nicht Opfer von Gewalttaten. Haben Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu solchen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar (Beilage ./O, S. 30).

Als "verwestlicht" wahrgenommene Personen:

Berichten zufolge werden Personen von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen, die vermeintlich Werte und/oder ein Erscheinungsbild angenommen haben, die mit westlichen Ländern in Verbindung gebracht werden, und denen deshalb unterstellt wird, die Regierung und die internationale Gemeinschaft zu unterstützen.

UNHCR ist auf Grundlage der vorangegangenen Analyse der Ansicht, dass - je nach den Umständen des Einzelfalls - für solche Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer (zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aufgrund anderer relevanter Gründe bestehen kann.

(Zusammenfassung aus folgender Quelle: UNHCR Richtlinien, Pkt III.A.1.j und l).

Dokumentierte Fälle eines gezielten Vorgehens gegen zurückkehrende Afghanen auf Grundlage einer "Verwestlichung", weil diese in Europa gereist wären oder dort gelebt hätten, westliche Ausweisdokumente in ihrem Besitz oder Ideen angenommen hätten, welche als "unafghanisch", "westlich" oder "europäisch" angesehen werden, sind spärlich. Uneinheitliche Beschreibungen aus Quellen nennen vereinzelte Berichte vermeintlicher Entführungen oder sonstige, auf Einzelne abzielende Verfolgungshandlungen, oder, dass nicht für jede Person ein Risiko besteht, aber, dass solche Handlungen vorkommen, wobei allerdings der Grad und die Verbreitung schwierig zu quantifizieren sind, oder aber, dass Verfolgung nicht spezifisch vorkomme wegen des Asylwerbens oder des Bereisens westlicher Länder.

(Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus folgender Quelle: EASO, Country of Origin Report Afghanistan "Individuals targeted under societal and legal norms", Dezember 2017, [abrufbar unter:

https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/Afghanistan_targeting_society.pdf, abgerufen am 23.03.2018; in Folge: "EASO-Bericht Verfolgung Einzelner unter gesellschaftlichen und rechtlichen Normen"]" S. 92)

Afghanen, welche aus dem Westen zurückkehren wurden oft von anderen als Quelle für Mittel oder Wohlstand empfunden, nachdem sie Zeit im Ausland verbracht haben. Rückkehrer fürchten Entführungen für Schutzgeld aus diesem Grund oder, dass deren Kinder für Schutzgeld verschleppt werden. Die Australische Regierung stellte in einem Bericht aus 2015 fest, dass es vereinzelte Berichte über behauptete Entführungen nach der Rückkehr gibt. In ähnlicher Weise kommt ein Forschungsprojekt über Rückkehrmigration von Europa nach Afghanistan der Wissenschaftler Ceri Oeppen and Nassim Majidi, publiziert im Jahr 2015, zum Schluss, dass eine kleine Minderheit (der in der Studie behandelten afghanischen Rückkehren aus Europa) mit spezifische Bedrohungen nach deren Rückkehr, im Regelfall durch gewaltsames Verlangen nach Geld. Im Jahr 2015, brachte ein Artikel über zurückkehrende Afghanen aus dem Vereinigten Königreich das Beispiel, welcher geschlagen und zum Zweck der Schutzgelderpressung entführt wurde, welchem es jedoch gelang, zu entkommen. Dr. Schuster gab an, dass ihr drei Fälle bekannt seien, wo zurückkehrende Afghanen wegen deren empfundenen/gefühlten Wohlstands bedroht oder geschlagen wurden. Weitere Beispiele von durch Kriminalität verfolgten Migranten konnten innerhalb der Zeitbeschränkung nicht gefunden werden.

(Auszug aus folgender Quelle: EASO-Bericht Verfolgung unter gesellschaftlichen und rechtlichen Normen, Pkt. 8.5)

Tadschiken

Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgrößte (CRS 12.1.2015; vgl. LIP 5.2018); und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan (CRS 12.1.2015). Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus (LIP 5.2018). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten:

In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (LIP 5.2018). Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Der Hauptführer der "Nordallianz", einer politisch-militärischen Koalition, ist Dr. Abdullah Abdullah - dessen Mutter Tadschikin und dessen Vater Pashtune ist (CRS 12.1.2015). Trotz seiner gemischten Abstammung, sehen ihn die Menschen als Tadschiken an (BBC 29.9.2014). Auch er selbst identifiziert sich politisch gesehen als Tadschike, da er ein hochrangiger Berater von Ahmad Shah Masoud, war (CRS 12.1.2015). Mittlerweile ist er "Chief Executive Officer" in Afghanistan (CRS 12.1.2015); ein Amt, das speziell geschaffen wurde und ihm die Rolle eines Premierministers zuweist (BBC 29.2.2014).

Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (Brookings 25.5.2017).

Situation betreffend Rekrutierung bzw. Zwangsrekrutierung durch die Taliban

Allgemeines

Regierungsfeindliche Kräfte nutzen in Gebieten, in denen sie die tatsächliche Kontrolle über das Territorium und die Bevölkerung ausüben, Berichten zufolge verschiedene Methoden zur Rekrutierung von Kämpfern, einschließlich Maßnahmen unter Einsatz von Zwang. Personen, die sich der Rekrutierung widersetzen, sind Berichten zufolge ebenso wie ihre Familienmitglieder gefährdet, getötet oder bestraft zu werden.

Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, wie berichtet wird, weiterhin Kinder - sowohl Jungen als auch Mädchen - um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen einzusetzen, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln und als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung zu dienen.

(Auszug aus folgender Quelle: UNHCR-Richtlinien, diese bilden einen Bestandteil der Feststellungen und des vorliegenden Erkenntnisses, Pkt III.A.3. a))

[...] Zusätzlich haben die Taliban eine Sondereinheit für Selbstmordattentäter eingerichtet. Selbstmordattentate sind ressourcenintensiv und die Taliban investieren sehr viel in diese Angriffe. Daher wird nachdrücklich betont, dass die für Selbstmordattentate rekrutierten Personen vertrauenswürdig sein müssen. Die Ausbildung soll den Selbstmordattentätern ausreichende mentale Stärke für die Durchführung des geplanten Attentats geben. Die religiöse und ideologische Überzeugung ist für alle Personen, die für solche Aufgaben ausgewählt werden, besonders wichtig. Selbstmordattentäter spielen bei komplexen, koordinierten Angriffen, zum Beispiel in der Stadt Kabul, eine bedeutsame Rolle: Bei solchen Angriffen machen die Selbstmordattentäter den Scharfschützen den Weg frei (Gespräch mit einem Analytiker in Kabul, Mai 2017). [...]

Ausmaß unmittelbaren Zwanges

Quellen von Landinfo haben bestätigt, dass es in Gebieten, die von den Taliban kontrolliert werden oder in denen die Taliban stark präsent sind, de facto unmöglich ist, offenen Widerstand gegen die Bewegung zu leisten. Die örtlichen Gemeinschaften haben sich der Lokalverwaltung durch die Taliban zu fügen. Oppositionelle sehen sich gezwungen, sich äußerst bedeckt zu halten oder das Gebiet zu verlassen (Gespräch mit NGO A in Kabul, Mai 2017).

Nach Aussagen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afghanistan (UNAMA) ist die Gruppe der Stammesältesten gezielten Tötungen ausgesetzt (UNAMA & OHCHR 2017, S. 64). Landinfo vermutet, dass dies vor allem regierungsfreundliche Stammesälteste betrifft, die gegen die Taliban oder andere aufständische Gruppen sind. Der Analytiker Borham Osman (berichtet in EASO 2016, S. 24) hat auf Berichte von Übergriffen auf Stämme oder Gemeinschaften, die den Taliban Unterstützung und die Versorgung mit Kämpfen verweigert haben, verwiesen. Gleichzeitig sind die militärischen Einheiten der Taliban in den Gebieten, in welchen sie operieren, von der Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Mehrere Gesprächspartner von Landinfo, einschließlich einer NGO, die in Taliban-kontrollierten Gebieten arbeitet (NGO A, Kabul, Mai 2017), meinen, dass die Taliban im Gegensatz zu früher heute vermehrt auf die Wünsche und Bedürfnisse der Gemeinschaften Rücksicht nehmen.

Bei einem Angriff oder drohenden Angriff auf eine örtliche Gemeinschaft müssen Kämpfer vor Ort mobilisiert werden. In einem solchen Fall mag es schwierig sein, sich zu entziehen. Nach Osman (zitiert in EASO 2016, S. 24) kann die erweiterte Familie allerdings auch eine Zahlung leisten anstatt Rekruten zu stellen. Diese Praktiken implizieren, dass es die ärmsten Familien sind, die Kämpfer stellen, da sie keine Mittel haben, um sich frei zu kaufen.

Es ist bekannt, dass - wenn Familienmitglieder in den Sicherheitskräften dienen - die Familie möglicherweise unter Druck steht, die betreffende Person zu einem Seitenwechsel zu bewegen. Der Grund dafür liegt in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (Gespräch mit einer internationalen Organisation; Gespräch mit einem Thinktank, Gespräch mit einem örtlichen Journalisten April/Mai 2017).

Es ist eine Kombination verschiedener Faktoren, die Personen dazu bewegt, sich den Taliban anzuschließen. Allerdings gibt es nur sehr begrenzte Informationen über den Einsatz unmittelbarer Gewalt im Zusammenhang mit der Rekrutierung und Mobilisierung unter der Schutzherrschaft der Taliban. In Gesprächen mit Landinfo im Herbst 2010 meinte Giustozzi, dies sei bedingt durch die Tatsache, dass die Taliban im Zusammenhang mit ihrer Expansion noch nicht genötigt waren, Zwangsmaßnahmen anzuwenden. In dem Artikel Afghanistan: Human Rights and Security Situation aus 2011 trifft er folgende Feststellung:

Zwangsrekrutierungen waren bislang noch kein herausragendes Merkmal dieses Konflikts. Die Aufständischen bedienen sich Zwangsrekrutierungen nur sehr vereinzelt, vor allem, indem sie männliche Dorfbewohner in von ihnen kontrollierten Gebieten, die mit der Sache der Aufständischen nicht sympathisieren, zwingen, als Lastenträger zu dienen (Giustozzi 2011, S. 6).

Die Angaben Giustozzis über im November 2015 erfolgten Zwangsrekrutierungen (Gespräch Oslo) stehen nicht im Widerspruch zu seiner 2011 getätigten Einschätzung. Das relativ eindeutige Bild über Rekrutierungen durch die Taliban deutet darauf hin, dass die Organisation Zwangsrekrutierungen nicht systematisch betreibt und dass Personen, die sich gegen eine Mobilisierung wehren, keine rechtsverletzenden Reaktionen angedroht werden. Zahlreiche Gesprächspartner von Landinfo in Kabul (April 2016) waren der Ansicht, dass die Taliban keine Zwangsrekrutierungen durchführen. Eine NGO (April 2016) verwies darauf, dass es sehr einfach sei zu desertieren (Gespräch in Kabul, April 2016). Erklärungen eines nationalen Thinktanks zufolge (April 2016) stünde eine auf Zwang beruhende Mobilisierungspraxis den im Paschtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen) enthaltenen fundamentalen Werten von Familie, Freiheit und Gleichheit (s. z.B. Landinfo 2011) entgegen. Eine internationale Organisation (April 2016) verwies auf ein Argument, das seitens Landinfo im Zusammenhang mit einer quellenkritischen Bewertung von Informationen über die Zwangsrekrutierung aufgeworfen worden war: bei den Quellen handle es sich oft um Personen oder Gruppen, die Anschuldigungen betreffend Zwangsrekrutierungen im Eigeninteresse erheben, etwa Personen, die von den Sicherheitskräften festgenommen wurden oder die als Binnenvertriebene (IDPs) anerkannt werden möchten.

Die Beantwortung einer Anfrage zur Rekrutierung durch Landinfo im Februar 2012 kommt zu dem Schluss, dass es nur in Ausnahmefällen zu unmittelbaren Zwangsrekrutierungen durch die Taliban gekommen ist. Die Antwort bezieht sich auf Gespräche, die Landinfo im Oktober 2011 in Kabul geführt hat (Landinfo 2012). Es gibt keine Angaben, die darauf hindeuten, dass sich das Ausmaß von Zwangsrekrutierungen in den vergangenen Jahren erhöht hat. Das geänderte Konfliktschema und die Tatsache, dass die Taliban ihre Truppen professionalisiert haben, bedeuten auch, dass unmittelbare Zwangsrekrutierungen vermutlich sehr gering verbreitet sind. Dies wurde in Gesprächen von Landinfo im April/Mai 2017 in Kabul bestätigt; unmittelbare Zwangsrekrutierungen erfolgen in sehr beschränktem Ausmaß und lediglich in Ausnahmefällen. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Eine Quelle äußerte den Gedanken, dass es "schwierig sei, einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden/etwas zu kämpfen".

Strukturelle Gegebenheiten

Es sind in erster Linie die strukturellen Gegebenheiten, die als eine Form von Zwang in der Rekrutierung durch die Taliban betrachtet werden können. Strukturelle Gegebenheiten können allgemeine kulturelle, religiöse oder soziale Faktoren sein, gepaart mit eingeschränktem Vertrauen in den Staatsbildungsprozess. Traditionsbedingte Verpflichtungen im Zusammenhang mit Stammesgruppen und örtlichen Machtgruppen bedeuten, dass Menschen als Ergebnis von Entscheidungen (Bildung von Allianzen), auf die sie selbst wenig Einfluss haben, Teil der Taliban werden. Lokale Drahtzieher spielen in dem Prozess, wie sich die Taliban in einem Gebiet etablieren und die Kontrolle erlangen, eine zentrale Funktion. Wenn ein zentraler Kommandant bzw. Stammesältester ein Bündnis mit den Taliban eingeht, so geschieht dies vielfach zur Sicherung der Interessen der Gemeinschaft (Hammer & Jensen 2016). Gleichzeitig könnte sich dies, sowohl durch ein geändertes Feindbild als auch hinsichtlich der Mobilisierungserwartungen auf die Zivilbevölkerung in dieser Gegend auswirken. [...]

(Auszug aus dem "Landinfo report Afghanistan: Afghanistan:

Rekrutierung durch die Taliban [Afghanistan: Rekruttering til Taliban]" übersetzt von Dipl.-Dolmetscherin Mag.a Michaela Spracklin im Auftrag der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [S. 10, 18, 19])

Laut Antonio Giustozzi werden in den gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan Entscheidungen von Familienoberhäuptern, Stammesältesten und Anführern von Gemeinschaften getroffen. Sie entscheiden über die Mobilisierung von Kämpfern, und Afghanen sprechen nicht von "Zwangsrekrutierung", da sie nicht in Kategorien individueller Rechte denken. Die von den Führern getroffenen Entscheidungen sind legitim und werden von den gesellschaftlichen Einheiten (Familie und Stamm) akzeptiert. "Zwangsrekrutierung" ist daher ein Konzept, das sich nicht aus dem gesellschaftlichen Kontext Afghanistans ergibt.

In Monthly IDP-Updates des UNHCR hieß es, Binnenvertriebene hätten Zwangsrekrutierungen durch Aufständische gemeldet, beispielsweise in: Paktya (Ende 2014); Distrikt Tagab von Kapisa (Dezember 2014); Provinzen Logar und Herat (Februar 2015). In diesen Berichten wird jedoch nicht erläutert, was genau unter "Zwangsrekrutierung" zu verstehen ist, und es liegen auch keine Angaben zu den beteiligten Akteuren oder zur Prävalenz vor.

Patricia Gossman (HRW) sagt, Zwangsrekrutierung dürfe nicht nur dahin gehend verstanden werden, dass Talibankämpfer in eine Familie eindringen, sich deren Kinder schnappen und ihnen mit vorgehaltener Waffe befehlen, für sie zu kämpfen. Die Akteure der Rekrutierung sind nämlich schon da, sind diesen Kindern bekannt und überreden sie zum Mitmachen. Manchmal üben sie auf die Familien Druck aus. Nötigung oder Druck kann von einem Familienmitglied ausgehen, das schon bei den Taliban ist. Mitunter erhalten Familien Geld, damit Söhne zu den Taliban gehen. Es gibt also Zwang oder Nötigung, aber nicht immer Gewalt.

Nach Aussage von Borhan Osman steht die Prävalenz von Zwangsrekrutierungsstrategien in direktem Verhältnis zu dem Druck, unter dem eine bewaffnete Gruppe steht. In vielen Gebieten gelten die Taliban als siegreiche Kraft und verfügen über zahlreiche freiwillige Kämpfer, sodass sie bei der Rekrutierung auf Nötigung verzichten können. In anderen Gebieten mag der Druck für die Taliban, neue Kämpfer aufzutun, größer sein, aber auch dann werden Zwang oder Nötigung bei der Rekrutierung nur in Ausnahmefällen eingesetzt.

Osman weist auf die neue Lösung hin, die die Taliban für dieses Problem des Mangels gefunden haben: die mobilen Sondereinsatzkräfte (s. den Abschnitt Mobile Taliban-Einheiten), die zur Bereinigung einer Situation in ein Gebiet geschickt werden können. Dank dieser neuen militärischen Struktur muss auf lokaler Ebene weniger auf Zwangsrekrutierung zurückgegriffen werden.

Auf die Frage nach der Verpflichtung, gefallene oder kampfunfähig gewordene Kämpfer durch andere Familienmitglieder zu ersetzen (die im EASO-Bericht von 2012 erwähnte Praxis von "Einberufungen", antwortete Osman, dies komme ihm sehr seltsam vor. Er glaube eher, die Taliban würden der Familie Achtung zollen und sie sogar nach dem Tod des Familienmitglieds finanziell unterstützen).

(Auszug aus folgender Quelle, EASO: Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan - Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen, September 2016, S. 23)

2. Beweiswürdigung

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Die getroffenen Feststellungen zur Person ergeben sich aus dem diesbezüglichen Vorbringen des Beschwerdeführers. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zur Abstammung aus der Provinz Kunduz stützen sich auf die Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren vor dem BFA, in der Beschwerde, sowie in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und auf die Kenntnis und Verwendung der Sprache Dari.

Der Umstand, dass nicht festgestellt werden kann, wo sich die Kernfamilie des Beschwerdeführers nunmehr aufhält, ergibt sich daraus, dass der Beschwerdeführer sowohl in der Einvernahme vor dem BFA als auch in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich keine Angaben machen konnte. Er gab ab, dass er seit März/April 2017 keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern habe und nicht wisse, wo sich diese nunmehr aufhalten würden.

Zumal der Beschwerdeführer keine Tazkira vorlegt, ist seine Identität nicht zweifelsfrei feststellbar. Die Identität des Beschwerdeführers steht mit für das Verfahren ausreichender Sicherheit fest (Verfahrensidentität).

Die Feststellung betreffend die Herzoperation ergibt sich aus den vor dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten ärztlichen Unterlagen.

Die Feststellungen zu den absolvierten Kursen, der Deutschprüfung, der ehrenamtlichen Tätigkeit sowie dem Besuch der Berufsschule ergeben sich aus den vorgelegten Bestätigungen. Die Feststellung betreffend den Lehrvertrag ergibt sich aus dem im Akt befindlichen Vertrag. Die Feststellung, wonach der Beschwerdeführer die Prüfungen nicht bestanden hat, das Jahr wiederholen musste und die Nachprüfungen noch nicht abgelegt hat, ergibt sich aus seinem Vorbringen in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Er gab an, dass er die Nachprüfungen nicht gemacht habe, weil diese Prüfungen einen Tag vor der Verhandlung stattgefunden hätten.

2.2. Zum vorgebrachten Fluchtgrund:

Die Feststellungen zu den Gründen des Beschwerdeführers für das Verlassen seines Heimatstaates stützen sich auf die vom Beschwerdeführer vor dem BFA, in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht getroffenen Aussagen.

Als fluchtauslösendes Ereignis brachte der Beschwerdeführer vor, dass er einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt gewesen sei. Das Fluchtvorbringen ist jedoch aus folgenden Erwägungen nicht glaubhaft:

Im Verfahren vor der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer an, dass sein Onkel und seine Cousins, die den Taliban angehört hätten, ihn aufgefordert hätten, mit ihnen gemeinsam in den heiligen Krieg gegen die Regierung zu ziehen. In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht steigerte der Beschwerdeführer sein Vorbringen dahingehend, dass er erstmals erwähnte, dass sein Onkel und die Taliban ihn und seinen Vater geschlagen hätten, zu dem Zweck, dass der Beschwerdeführer mit ihnen zusammenarbeite.

Im Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner angeblichen Entführung finden sich unplausible, vage und teilweise unstimmige Angaben. So konnte er weder angeben, wann genau er entführt worden sei, noch wie viele Stunden er entführt gewesen sei. Dies erscheint nicht lebensnah, insbesondere zumal der Beschwerdeführer konkret angeben konnte, dass die Taliban zwei bis zweieinhalb Stunden Gespräche betreffend den Plan, eine Polizeistation anzugreifen, geführt hätten. Des Weiteren brachte der Beschwerdeführer vor, dass er der einzige Gefangene gewesen sei und während seiner Gefangenschaft 25 bis 30 Taliban im Haus des Kommandanten gewesen seien. Dass dem Beschwerdeführer trotzdem die Flucht gelungen sei, erscheint nicht lebensnah. Auf entsprechenden Vorhalt gab der Beschwerdeführer an, dass ihm die Flucht deshalb gelungen sei, weil er nicht bewacht worden sei. Dies erscheint jedoch völlig lebensfremd, zumal der Beschwerdeführer seinen Angaben zufolge gegen seinen Willen in dem Haus festgehalten worden sei; die Taliban hätten somit damit rechnen müssen, dass der Beschwerdeführer zu fliehen versucht. Ebenso wenig nachvollzogen werden kann der Umstand, dass der Beschwerdeführer während seiner Gefangenschaft in den geheimen Plan der Taliban, eine Polizeistation anzugreifen, eingeweiht worden sei, obwohl seine Cousins und sein Onkel bereits wussten, dass der Beschwerdeführer sich den Taliban nicht anschließen wolle und er auch im Umgang mit Waffen nicht vertraut gewesen sei. Der Beschwerdeführer gab weiters an, dass die Taliban nach seiner Flucht ihren Plan, die Polizeistation anzugreifen, in die Tat umgesetzt hätten und kann auch dies nicht nachvollzogen werden, da sie fürchten mussten, dass der Beschwerdeführer, welcher nicht mit den Taliban sympathisiert hat, diesen Plan verraten könnte.

In der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer schließlich erstmals an, dass er nach seiner Entführung vor seiner Ausreise aus Afghanistan auch in Kabul gewesen sei. Von dort sei er weiter nach Herat gereist, wo er zwei Wochen bei seiner Tante gelebt habe und habe schließlich von Herat aus Afghanistan verlassen. Der Beschwerdeführer ist sohin trotz Furcht vor Verfolgung durch die Taliban quer durch Afghanistan gereist, was nicht lebensnah erscheint. Dazu gab er an, dass sich seine Tante um Papiere und das Visum gekümmert habe. Es kann jedoch nicht nachvollzogen werden, wieso sich der Beschwerdeführer, der im Jahr 2015 bereits 18 Jahre alt gewesen ist und elf Jahre die Schule besucht hat, nicht in der Lage gewesen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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