TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/20 W187 2179598-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.03.2019
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Entscheidungsdatum

20.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W187 2179598-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hubert REISNER über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Mag. Robert BITSCHE, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs 1, 8 Abs 1 und § 10 Abs 1 Z 3 und § 57 AsylG 2005, iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung am selben Tag wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Als Beweggrund für seine Ausreise gab er eine Bedrohung durch die Taliban an.

3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA, belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und einer Vertrauensperson niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Dabei behauptete er erneut eine Bedrohung durch die Taliban und führte seinen Fluchtgrund weiter aus.

4. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

5. Mit Schreiben vom XXXX erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den ausgewiesenen Rechtsvertreter, fristgerecht vollumfängliche Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie der Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften.

Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

6. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer auszugsweise folgende Länderinformationen zu Afghanistan übermittelt: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (Stand: 30.1.2018); Berichte und Zwischenberichte des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016, 28.7.2017 und 31.5.2018 zur Lagebeurteilung in Afghanistan; EASO-Country of Origin Information Reports zur Sicherheitslage in Afghanistan aus Dezember 2017 und Mai 2018, zu Netzwerken in Afghanistan aus Jänner 2018 sowie zur sozio-ökonomischen Lage in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif aus August 2017.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

"[...]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ja, ich bin gesund und kann folgen.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Nein, bin ich nicht.

[...]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ich kann mich an meine Aussage erinnern. Ich habe die Wahrheit angegeben. Ich habe keine hervorragende Schulausbildung. Bei den Angaben der Daten habe ich mich nicht ausgekannt. Ich weiß nicht, ob ich mich bei den Daten oder ungefähren Angaben geirrt habe oder nicht. Trauriger Weise bin ich Analphabet und besitze keine Schulbildung.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin in der Provinz Nangarhar in Afghanistan geboren. Ich kenne mich mit Daten bzw. der Zeitrechnung nicht so gut aus. Hier wurde mein Geburtsdatum mit XXXX eingetragen.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Meine Muttersprache ist Paschtu. Ein wenig Dari habe ich hier gelernt, Deutsch habe ich auch hier gelernt. Weitere Sprachen spreche ich nicht.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich bin traditionell verheiratet, so wie es die Kultur vorschreibt. Es gibt einen Trauschein mit Zeugen, aber eine offizielle Registrierung ist in unserer Gegend nicht üblich. Ich bin Moslem, Sunnite. Ich gehöre dem Stamm der Sherzad an.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein, wir haben keine Kinder.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Geboren bin ich im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX , Provinz Nangar-har. Zu den Geburtsdaten oder Alter meiner Eltern und Geschwister möchte ich sagen, die sind nicht richtig übertragen worden, ich glaube es war ein Missverständnis zwischen mir und dem Dolmetsch. Auch mein Geburtsort ist nicht richtig übertragen worden, dort steht Geburtsort Distrikt XXXX . Ich bin aber in meinem Heimatdorf geboren. Ich habe das im Nachhinein versucht richtigzustellen, ich habe erklärt, dass ich aus dem Distrikt XXXX bin und dem genannten Dorf XXXX geboren wurde.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: Das Haus hat uns gehört.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich habe mit meinem Vater in der Landwirtschaft ausgeholfen. Nachdem mein Vater verstorben ist, habe ich mir ein Fahrzeug zugelegt, um genauer zu sein ein Taxi, und habe als Taxifahrer gearbeitet.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Bedauerlicherweise konnte ich nur drei Jahre die Schule besuchen. Eine Weiterbildung war nicht möglich.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Sie meinen jetzt zur Zeit?

Richter: Ja.

Beschwerdeführer: Ich weiß nicht wo sie sich aufhalten. Ich habe keinen Kontakt zu ihnen. Nach dem letzten Kontakt habe ich vergeblich versucht den Kontakt zu ihnen herzustellen. Den letzten Kontakt mit ihnen hatte ich vom Iran aus gehabt. Zuletzt haben sie sich in einem Dorf namens XXXX bei meinem Onkel mütterlicherseits versteckt.

Richter: Haben Sie Kontakt zu anderen Teilen Ihrer Familie?

Beschwerdeführer: Ich habe zu keinem Kontakt.

Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Ich habe zu niemandem Kontakt. Ich habe in einem Dorf gelebt. Dort funktioniert nicht einmal die Handyfunktion richtig. So habe ich gelebt.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Hier besuche ich einen Deutschkurs. Ich arbeite gerne in der Gemeinde. In meiner Freizeit spiele ich Fußball mit anderen afghanischen Flüchtlingen. Ich halte mich mit Sport auch in der Früh beschäftigt, ich gehe laufen.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ja, ich habe eine gute, weibliche Freundin namens XXXX , die mich auch besuchen kommt. Sie besucht mich im Lager. Über sie habe ich die Kultur sehr gut kennengelernt. Sie übt auch mit mir die Sprache. Auch in der Arbeit, in der Gemeinde habe ich Freunde kennengelernt.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Nein, hier nicht.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Das habe ich niemals gehabt.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Die Taliban sind zu uns nach Hause gekommen. Sie haben an der Türe geklopft. Mein Vater hat die Türe geöffnet. Es waren Männer die Essen gefordert haben. Mein Vater ist zurückgelaufen, aufgeregt hat er gesagt "Es sind Männer da, sie fordern Essen, es sind Taliban". Notgedrungen haben wir Essen vorbereitet. Es waren ca. 15 Männer. Wir hatten nicht genug Essen zuhause. Meine Mutter hat Essen gekocht. Wir haben das was wir hatten, nämlich Gemüse, schnell zubereitet. Sie haben gegessen und sind dann weggegangen. Wir haben am Dach geschlafen, die ganze Familie. Es war in der Nacht, gegen 2:30 Uhr, da haben wir plötzlich laute Geräusche gehört. Zuerst waren da Stimmen und dann Schüsse. Mein Vater meinte, alle nach unten laufen. Es wurde heftig geschossen. Wir sind nach unten abgestiegen. Mein Vater hat gesehen, dass die Haupteingangstür offen ist. Mein Vater hat nach einem Holzstock gegriffen, um die Türe zuzukriegen. Als er nach dem Holz gegriffen hat, haben wir einen Knall an der Türe gehört. Nach ca. 2 Minuten oder weniger, sind plötzlich Männer hineingestürmt. Sie hatten Beleuchtung, das nennt man glaub ich Laser, und haben damit meinen Vater angeleuchtet und erschossen. Es war ein Gekreische und durcheinander. Meine kleinen Brüder waren bei mir. Es sind Männer hineingekommen. Der eine Mann sagte "Ich bin Dolmetscher, wir sind Amerikaner, alle bei Seite". Wir wurden alle durchsucht und in ein Zimmer hineingesetzt. Wir wurden aufgefordert sitzen zu bleiben und uns nicht zu bewegen. Ich durfte nicht sprechen. Der Mann sagte "Wenn ich zurück bin, darfst du reden". Kurze Zeit später durfte ich hinausgehen und da habe ich gesehen, dass mein Vater durchlöchert, tot, reglos am Boden liegt. Ich konnte meine Geschwister nicht abhalten, sie mussten den Anblick miterleben. Sonst habe ich nichts mitbekommen, außer dass auf einmal Dorfbewohner dastanden. Alles war blutverschmiert. Irgendjemand hat dann saubergemacht. Am Tag darauf wurde er beerdigt, abgeführt. Etwa 4 oder 5 Tage später hat XXXX in der Moschee erfahren, dass ein Dorfbewohner damit geprahlt hat, dass er und andere Taliban unser Haus überfallen hätten und Essen gefordert haben. Danach hat er gesagt, wir seien Verräter, wir hätten noch in derselben Nacht die Amerikaner verständigt und gejammert, dass wir überfallen worden sind. Nachdem dieser Freund in der Moschee war, hat er mir das erzählt und gesagt, dass dieser Mann froh darüber war, dass die Amerikaner uns überfallen haben und dass mein Vater brutal erschossen wurde. All das hat mir XXXX erzählt. XXXX hat mir erzählt, dass dieser Mann in der Moschee erzählt hat, dass mein Vater und ich sie bewirtet hätten. Etwa 1,5 Monate nachdem mein Vater erschossen wurde, haben die Taliban mich angehalten. Der Älteste vor Ort heißt Kommandant XXXX . Dieser Mann sagte zu mir, er muss mich vorführen, damit die Anführer namens XXXX und der Gelehrte XXXX mich sprechen. Wie gesagt, habe ich als Taxifahrer gearbeitet, ich bin die Route bis in die Stadt und zurückgefahren. Ich wurde dann abgeführt. Ich wurde in ein Dorf namens XXXX gebracht, in die Moschee. Dort drinnen waren viele Männer versammelt. Ich musste mich hinsetzen. Mir wurde gesagt, "Dein Vater hat uns Essen gegeben und danach hat er so feig wie er war, die Amerikaner verständigt, dass sich hier Taliban befinden". Der XXXX war der Anführer, er hat das gesagt. Er sagte zu mir, ich muss ein "Badal", also gleiches gegen gleiches, bewirken, ich muss für die drei getöteten Männer die Blutrache ausgleichen. Es kam der Vorschlag um ein "Badal" meinerseits zu erreichen, dass ich als Taxifahrer eine Bombe in die Stadt transportiere und an jenem Ort, den sie mir zeigen, platziere. Ich hatte Angst, ich wusste, dass ich das nicht kann. Ich habe versucht uns zu verteidigen und gesagt, dass wir niemanden an die Amerikaner verraten haben. Der Mann sagte, "Drei Männer wurden getötet, es ist deine Verantwortung das auszugleichen." Diese Männer haben mir sehr viel Angst eingejagt, ich hatte keine Wahl. Ich habe nach einer Ausrede gesucht, damit ich weg kann und habe gesagt, dass meine Schwiegermutter schwer krank ist, ich muss wegen der Heirat einmal zurück. Ich habe gesagt, dass meine Schwiegermutter, nachdem mein Vater verstorben ist, eine schnelle Eheschließung wollte, damit sie die Verantwortung über die Tochter an mich abgibt. Ich habe XXXX direkt angesprochen und um Zeit gebeten. Ich habe gesagt, dass ich diese dringende Angelegenheit, zu heiraten, so schnell wie möglich erledige. Die Heirat kann man dort nicht so machen, wie sonst wo, wo man seine Freude durch Musik und Tanz ausdrückt. XXXX wirkte wie eine Gewalt unter den anderen Männern. Er hob seinen Kopf und sagte "Ich erlaube es dir". Ich habe auch gesagt, dass mein Vater tot ist, ich muss mich auch um die Trauerzeremonie kümmern. Ich habe die Heirat abgewickelt, danach wurde meine Frau krank, ich musste sie in die Stadt fahren, zu meinem Onkel mütterlicherseits. Zwei oder drei Tage mussten wir dortbleiben, damit sich der Arzt sich um sie kümmert. Die Männer haben erfahren, dass ich nicht da bin, oder sie haben mich nicht gesichtet. Als wir weg waren, sind sie nach Hause gekommen. Meine Mutter wurde gefragt, warum ich nicht da bin. Sie hat den Männern erzählt, dass meine Frau erkrankt ist und ich sie in die Stadt gefahren habe. Sie haben geglaubt, dass ich untergetaucht bin und ihr Vorhaben nicht ausführen werde. Sie haben meiner Mutter ein Schreiben in die Hand gegeben. Am nächsten Tag ist meine Mutter mit meinen Brüdern in die Stadt nachgekommen. Ich kann nicht richtig oder sinnerfassend lesen. Mein Onkel hat vorgelesen was drinnen steht. Meine Mutter hat genau erzählt, was die Männer gesagt haben. Ich habe geheiratet, das wurde mir erlaubt, jetzt muss ich mich stellen. Mein Onkel hat die Zeilen vorgelesen, da stand drinnen, dass ich mich deren Gesetzen nicht gebeugt hätte. Mir wurde erlaubt, dass was ich vorhatte zu erledigen, es sei laut den religiösen Gesetzten erlaubt, dass ich hingerichtet werde. Mein Onkel hielt diesen Drohbrief in der Hand, seine Hände zitterten, er hat zu mir raufgeschaut und gesagt "Sie werden dich nicht am Leben lassen". Meine Mutter ist in Tränen ausgebrochen. Mein Vater wurde getötet. Meine Mutter sagte, "Verschwinde so schnell wie nur möglich". Ich war überfordert und sagte nur "Was soll ich jetzt?" Mein Onkel hat sich um mein Auto gekümmert. Er sagte, dass Geld ist nicht mehr wert als dein Leben. Meine Mutter wollte nicht, dass ich getötet werde. Dass mein Vater getötet wurde, hat sie nicht verkraftet. Sie hat mich angefleht weg zu gehen und am Leben zu bleiben. Ich war auch während der Flucht überfordert. Mein Onkel hat mich weggeschickt, ich kannte kein einziges Land zuvor. Ich war niemals bereit und werde auch niemals dazu bereit sein, anderen Menschen zu schaden. Mein Vater hat mit seinem Leben bezahlt. Diese Hölle habe ich durchlebt, deswegen bin ich geflüchtet.

Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden abgesehen von dem, was Sie geschildert haben?

Beschwerdeführer: Nein, davor hatte ich ein friedliches, ruhiges Leben.

Richter: In welchem Ort haben Sie gelebt, als die Taliban von Ihrem Vater Essen wollten?

Beschwerdeführer: In XXXX .

Richter: Kenne Sie den Ort in den Sie die Taliban in die Moschee gebracht haben?

Beschwerdeführer: XXXX , gehört zu XXXX dazu. Ca. 15 Minuten mit dem Auto entfernt. Sie haben mich mit dem Auto gefahren. Bis zur Moschee hin gibt es keinen Weg, da muss man zu Fuß gehen.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan bedroht?

Beschwerdeführer: Seitens der Taliban. Sie haben mich bedroht. Sie haben mir vorgeworfen, dass mein Vater sie zuerst mit Essen bedient hat und dann feig verraten hat. Drei ihrer Männer seien wegen uns getötete worden. Sie haben einen Ausgleich der Blutrache verlangt, sie wussten, dass ich das Auto lenken kann, daher wollten sie, dass ich Unheil in der Stadt, wo viele sind, anrichte. Ich habe auch nicht alles verstanden, weil ich einfach sprachlos war. Ich habe verstanden mit dem Auto dorthin zu fahren und einer sagte, mit einer Fernbedienung wird das gezündet. Mein Vater wurde getötet, ich wollte nicht getötet werden. Ich war das älteste Kind. Ich versuche mich nicht aufzugeben, aber eine innere Ruhe habe ich nicht, weil ich nicht weiß, wo meine Familie ist, an welcher Adresse, ob sie am Leben sind. Ich weiß nicht, ob man meiner Mutter, meiner Ehefrau Schaden zugefügt hat, ob sie meine Brüder getötet haben.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Mein Onkel mütterlicherseits hat alles organisiert. Ich kannte mich nicht aus, wo ich bin. Schlepper haben mich weggebracht. Es sind viele Unterschiede zwischen den Ländern, die ich überquert habe. Ich wurde illegal mit verschiedenen Fahrzeugen bis hierher-gefahren. Ich habe dann im Nachhinein verbinden können in welchen Ländern ich war, weil ich die Namen wiedergehört habe. Mir wurde dann erklärt, dass die Route über den Iran und die Türkei geht. Ich habe gesagt, dass ich mit einem Schlauchboot transportiert wurde. Man sagte mir, dann war ich sicher in Griechenland. Ich war zum ersten Mal in einem Boot. Ich wäre beinahe ertrunken. Unser Boot war defekt, ich hatte auch auf der Flucht Todesängste. Hier angekommen, hat der Schlepper gesagt "Endstation". Der Schlepper sagte "Das Geld, das dein Onkel gegeben hat, reicht für eine Weiterreise nicht aus. Finde dich hier zurecht. Woanders kann ich dich nicht bringen", ich soll einfach hierbleiben. Das war meine Endstation.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Mein Onkel mütterlicherseits hat sich um alles gekümmert.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Weil, dass was ich gesagt habe, die Probleme die ich geschildert habe, nicht angenommen worden sind. Ich hatte davor ein ruhiges Leben. Man hätte mich dort getötet. Wenn ich diese Probleme nicht hätte, hätte ich mein altes Leben im Beisein meiner Familie, Ehefrau und Geschwister geführt.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Die Taliban werden mich nicht am Leben lassen, über kurz oder lang. Sie sehen mich als einen Verräter. Dort wo es eher ruhig ist, wo der Staat halbwegs da ist, haben sie sogar auch ihre Leute sitzen. Es gibt nur zwei Optionen, entweder ich arbeite für sie und werde bei dem getötet oder sie töten mich direkt. Ich habe dieses Problem und dieses Problem hat dazu geführt, dass ich jetzt hier vor Ihnen sitze.

Rechtsvertreterin: Waren Sie schon einmal in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif?

Beschwerdeführer: Ich war weder in Herat, Kabul noch Mazar e-Sharif. Mit meinem Taxi bin ich nur die Route in meiner Ortschaft gefahren. Ich kenne mich weder in der Hauptstadt Kabul noch in den anderen Städten aus. Ich kenne nur meine Ortschaft und meine Umgebung.

Rechtsvertreterin: Glauben Sie, dass Sie in Kabul leben könnten, wenn Sie zurück müssten?

Beschwerdeführer: Nein, in Kabul kann ich nicht überleben. Die Taliban kämpfen gegen die Amerikaner. Ich kenne niemanden dort, an wen soll ich mich wenden? Wie soll ich überleben? Ich habe keine Verwandten oder andere Personen, die mir z.B. eine Arbeit vermitteln oder eine Unterkunft geben.

Rechtsvertreterin: Was gefällt Ihnen in Österreich?

Beschwerdeführer (auf Deutsch): Dass ich in der Früh um 6 Uhr aufstehen kann und arbeiten gehen kann. 2 Mal in der Woche arbeite ich jeweils 9 Stunden für die Gemeinde. Jetzt gehe ich in einen Deutschkurs, spiele Fußball, das sind afghanische Leute aus dem Heim. Mit anderen Leuten aus dem Dorf sitzen wir und sprechen. Wir feiern auch Geburtstage, an dem Datum, wenn ich Geburtstag habe. Ich lerne die Kultur kennen. Das passt mir, auch das Arbeiten gehen.

[...]

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja, ich habe sie sehr gut verstanden."

Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers legte im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine Liste der Anschläge in Kabul seit Jänner 2017, ein ACCORD-ecoi.net Themendossier zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan, einen Tiroler Integrationspass, eine Bestätigung der Gemeinde XXXX vom XXXX über die ehrenamtliche Arbeit des Beschwerdeführers sowie ein Zertifikat Deutschkurs A1 vor und erstattete Schlussausführungen zum Vorbringen des Beschwerdeführers.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA und den hg. Akt betreffend den Beschwerdeführer sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen, ist volljährig und afghanischer Staatsangehöriger. Seine Identität steht nicht fest. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch ein wenig Dari.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan traditionell verheiratet; er ist kinderlos.

Er wurde in der afghanischen Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise im Herbst 2015 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen vier jüngeren Brüdern im familieneigenen Haus. Der Beschwerdeführer besuchte in Nangarhar drei Jahre die Schule und arbeitete in der Landwirtschaft. Er bezeichnet sich selbst als Analphabet.

Der Beschwerdeführer hat nach eigenen Angaben keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und konnte keine Angaben zum Aufenthaltsort seiner Familienmitglieder machen. Im Zeitpunkt der letzten Kontaktaufnahme im Jahr 2015 hielt sich die Familie des Beschwerdeführers jedenfalls noch in Afghanistan auf.

1.2 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen mit einer Bedrohung durch die Taliban.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

1.3 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt in das Bundesgebiet ein und hatte nie ein nicht auf das Asylverfahren gegründetes Aufenthaltsrecht in Österreich. Er hält sich seit Dezember 2015 im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Er besuchte einen Alphabetisierungskurs und einen Deutsch-Vorkurs und nahm im Zeitraum Mai 2016 bis Juni 2018 an vier A1-Deutschkursen teil. Weitere Kursteilnahmen wurden nicht nachgewiesen. Ein Sprachzertifikat erwarb der Beschwerdeführer bislang nicht. Er konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung einfache Fragen zu seinem Tagesablauf auf Deutsch beantworten. Der Beschwerdeführer leistete ehrenamtliche Hilfstätigkeiten in seiner Wohnsitzgemeinde und beteiligte sich an Forst- und Landschaftspflegearbeiten. Er hat in Österreich soziale Kontakte - auch zu österreichischen Staatsbürgern - geknüpft. In seiner Freizeit betreibt der Beschwerdeführer Sport und spielt Fußball mit anderen afghanischen Geflüchteten. Er ist kein Mitglied in einem Verein.

In Österreich leben keine Verwandten oder sonstigen wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers. Auch besteht keine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.4.1 Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung erarbeitet (IDEA o.D.), und im Jahre 2004 angenommen (Staatendokumentation des BFA 7.2016; vgl. auch: IDEA o.D.). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahre 1964. Bei Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann und Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation des BFA 3.2014; vgl. Max Planck Institute 27.1.2004). Die Innenpolitik ist seit der Einigung zwischen den Stichwahlkandidaten der Präsidentschaftswahl auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) von mühsamen Konsolidierungsbemühungen geprägt. Nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern der Regierung unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah sind kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 schließlich alle Ministerämter besetzt worden (AA 9.2016). Das bestehende Parlament bleibt erhalten (CRS 12.1.2017) - nachdem die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen wegen bisher ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden konnten (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017).

Parlament und Parlamentswahlen

Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wähler/innen. Seit Mitte 2015 ist die Legislaturperiode des Parlamentes abgelaufen. Seine fortgesetzte Arbeit unter Ausbleiben von Neuwahlen sorgt für stetig wachsende Kritik (AA 9.2016). Im Jänner 2017 verlautbarte das Büro von CEO Abdullah Abdullah, dass Parlaments- und Bezirksratswahlen im nächsten Jahr abgehalten werden (Pajhwok 19.1.2017). Die afghanische Nationalversammlung besteht aus dem Unterhaus, Wolesi Jirga, und dem Oberhaus, Meshrano Jirga, auch Ältestenrat oder Senat genannt. Das Unterhaus hat 249 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze und für die Minderheit der Kutschi 10 Sitze im Unterhaus reserviert (USDOS 13.4.2016 vgl. auch: CRS 12.1.2017). Das Oberhaus umfasst 102 Sitze. Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für Behinderte bestimmt. Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von 25% im Parlament und über 30% in den Provinzräten. Ein Sitz im Oberhaus ist für einen Sikh- oder Hindu- Repräsentanten reserviert (USDOS 13.4.2016). Die Rolle des Zweikammern-Parlaments bleibt trotz mitunter erheblichem Selbstbewusstsein der Parlamentarier begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit der kritischen Anhörung und auch Abänderung von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Regierungsarbeit destruktiv zu behindern, deren Personalvorschläge z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse teuer abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus spielt hier eine unrühmliche Rolle und hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht (AA 9.2016).

Parteien

Der Terminus Partei umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015). Die afghanische Parteienlandschaft ist mit über 50 registrierten Parteien stark zersplittert. Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf fehlende strukturelle Elemente (wie z.B. ein Parteienfinanzierungsgesetz) zurückzuführen, sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange - werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016).

Im Jahr 2009 wurde ein neues Parteiengesetz eingeführt, welches von allen Parteien verlangte sich neu zu registrieren und zum Ziel hatte ihre Zahl zu reduzieren. Anstatt wie zuvor die Unterschrift von 700 Mitgliedern, müssen sie nun 10.000 Unterschriften aus allen Provinzen erbringen. Diese Bedingung reduzierte tatsächlich die Zahl der offiziell registrierten Parteien von mehr als 100 auf 63, trug aber scheinbar nur wenig zur Konsolidierung des Parteiensystems bei (USIP 3.2015).

Unter der neuen Verfassung haben sich seit 2001 zuvor islamistisch-militärische Fraktionen, kommunistische Organisationen, ethno-nationalistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Gruppen zu politischen Parteien gewandelt. Sie repräsentieren einen vielgestaltigen Querschnitt der politischen Landschaft und haben sich in den letzten Jahren zu Institutionen entwickelt. Keine von ihnen ist eine weltanschauliche Organisation oder Mobilmacher von Wähler/innen, wie es Parteien in reiferen Demokratien sind (USIP 3.2015). Eine Diskriminierung oder Strafverfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten nach Rückkehr aus dem Ausland ist nicht anzunehmen. Auch einige Führungsfiguren der RNE sind aus dem Exil zurückgekehrt, um Ämter bis hin zum Ministerrang zu übernehmen. Präsident Ashraf Ghani verbrachte selbst die Zeit der Bürgerkriege und der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren weitgehend im pakistanischen und US-amerikanischen Exil (AA 9.2016).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Im afghanischen Friedens- und Versöhnungsprozess gibt es weiterhin keine greifbaren Fortschritte. Die von der RNE sofort nach Amtsantritt konsequent auf den Weg gebrachte Annäherung an Pakistan stagniert, seit die afghanische Regierung Pakistan der Mitwirkung an mehreren schweren Sicherheitsvorfällen in Afghanistan beschuldigte. Im Juli 2015 kam es erstmals zu direkten Vorgesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban über einen Friedensprozess, die aber nach der Enthüllung des jahrelang verschleierten Todes des Taliban-Führers Mullah Omar bereits nach der ersten Runde wieder eingestellt wurden. Die Reintegration versöhnungswilliger Aufständischer bleibt weiter hinter den Erwartungen zurück, auch wenn bis heute angeblich ca. 10.000 ehemalige Taliban über das "Afghanistan Peace and Reintegration Program" in die Gesellschaft reintegriert wurden (AA 9.2016).

Hezb-e Islami Gulbuddin (HIG)

Nach zweijährigen Verhandlungen (Die Zeit 22.9.2016), unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das der Hezb-e Islami Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtet sich die Gruppe alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Einen Tag nach Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen der Hezb-e Islami und der Regierung, erklärte erstere in einer Stellungnahme eine Waffenruhe (The Express Tribune 30.9.2016). Das Abkommen beinhaltet unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, int. Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Sobald internationale Sanktionen aufgehoben sind, wird von Hekmatyar erwartet, nach 20 Jahren aus dem Exil nach Afghanistan zurückkehren. Im Jahr 2003 war Hekmatyar von den USA zum "internationalen Terroristen" erklärt worden (NYT 29.9.2016). Schlussendlich wurden im Februar 2017 die Sanktionen gegen Hekmatyar von den Vereinten Nationen aufgehoben (BBC News 4.2.2017).

1.4.2 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage ist beeinträchtigt durch eine tief verwurzelte militante Opposition. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Die afghanischen Sicherheitskräfte zeigten Entschlossenheit und steigerten auch weiterhin ihre Leistungsfähigkeit im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand. Die Taliban kämpften weiterhin um Distriktzentren, bedrohten Provinzhauptstädte und eroberten landesweit kurzfristig Hauptkommunikationsrouten; speziell in Gegenden von Bedeutung wie zB Kunduz City und der Provinz Helmand (USDOD 12.2016). Zu Jahresende haben die afghanischen Sicherheitskräfte (ANDSF) Aufständische in Gegenden von Helmand, Uruzgan, Kandahar, Kunduz, Laghman, Zabul, Wardak und Faryab bekämpft (SIGAR 30.1.2017).

In den letzten zwei Jahren hatten die Taliban kurzzeitig Fortschritte gemacht, wie zB in Helmand und Kunduz, nachdem die ISAF-Truppen die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Sicherheits- und Verteidigungskräften (ANDSF) übergeben hatten. Die Taliban nutzen die Schwächen der ANDSF aus, wann immer sie Gelegenheit dazu haben. Der IS (Islamischer Staat) ist eine neue Form des Terrors im Namen des Islam, ähnlich der al-Qaida, auf zahlenmäßig niedrigerem Niveau, aber mit einem deutlich brutaleren Vorgehen. Die Gruppierung operierte ursprünglich im Osten entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze und erscheint Einzelberichten zufolge auch im Nordosten und Nordwesten des Landes (Lokaler Sicherheitsberater in Afghanistan 17.2.2017).

INSO beziffert die Gesamtzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle in Afghanistan im Jahr 2016 mit 28.838 (INSO 2017).

Mit Stand September 2016 schätzt die Unterstützungsmission der NATO, dass die Taliban rund 10 % der Bevölkerung beeinflussen oder kontrollieren. Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (USDOD 12.2016). Berichten zufolge hat sich die Anzahl direkter Schussangriffe der Taliban gegen Mitglieder der afghanischen Nationalarmee (ANA) und afghanischen Nationalpolizei (ANP) erhöht (SIGAR 30.1.2017).

Einem Bericht des U.S. amerikanischen Pentagons zufolge haben die afghanischen Sicherheitskräfte Fortschritte gemacht, wenn auch keine dauerhaften (USDOD 12.2016). Laut Innenministerium wurden im Jahr 2016 im Zuge von militärischen Operationen - ausgeführt durch die Polizei und das Militär - landesweit mehr als 18.500 feindliche Kämpfer getötet und weitere 12.000 verletzt. Die afghanischen Sicherheitskräfte versprachen, sie würden auch während des harten Winters gegen die Taliban und den Islamischen Staat vorgehen (VOA 5.1.2017).

Obwohl die afghanischen Sicherheitskräfte alle Provinzhauptstädte sichern konnten, wurden sie von den Taliban landesweit herausgefordert: Intensive bewaffnete Zusammenstöße zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften verschlechterten die Sicherheitslage im Berichtszeitraum (16.8. - 17.11.2016) (UN GASC 13.12.2016; vgl auch: SCR 30.11.2016). Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es im August 2016, mehrere große Talibanangriffe auf verschiedene Provinzhauptstädte zu vereiteln und verlorenes Territorium rasch wieder zurückzuerobern (USDOD 12.2016).

Kontrolle von Distrikten und Regionen

Den Aufständischen misslangen acht Versuche, die Provinzhauptstadt einzunehmen; den Rebellen war es möglich, Territorium einzunehmen. High-profile Angriffe hielten an. Im vierten Quartal 2016 waren 2,5 Millionen Menschen unter direktem Einfluss der Taliban, während es im dritten Quartal noch 2,9 Millionen waren (SIGAR 30.1.2017).

Laut einem Sicherheitsbericht für das vierte Quartal sind 57,2 % der 407 Distrikte unter Regierungskontrolle bzw -einfluss; dies deutet einen Rückgang von 6,2 % gegenüber dem dritten Quartal an: Zu jenem Zeitpunkt waren 233 Distrikte unter Regierungskontrolle, 51 Distrikte waren unter Kontrolle der Rebellen und 133 Distrikte waren umkämpft. Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Rebelleneinfluss oder -kontrolle waren: Uruzgan mit fünf von sechs Distrikten und Helmand mit acht von 14 Distrikten. Regionen, in denen Rebellen den größten Einfluss oder Kontrolle haben, konzentrieren sich auf den Nordosten in Helmand, Nordwesten von Kandahar und die Grenzregion der beiden Provinzen (Kandahar und Helmand), sowie Uruzgan und das nordwestliche Zabul (SIGAR 30.1.2017).

Rebellengruppen

Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin, durch Bedrohungen, Entführungen und gezielte Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Im Berichtszeitraum wurden 183 Mordanschläge registriert, davon sind 27 gescheitert. Dies bedeutet einen Rückgang von 32 % gegenüber dem Vergleichszeitraum im Jahr 2015 (UN GASC 13.12.2016). Rebellengruppen, inklusive hochrangiger Führer der Taliban und des Haqqani Netzwerkes, behielten ihre Rückzugsgebiete auf pakistanischem Territorium (USDOD 12.2016).

Afghanistan ist mit einer Bedrohung durch militante Opposition und extremistische Netzwerken konfrontiert; zu diesen zählen die Taliban, das Haqqani Netzwerk und in geringerem Maße al-Qaida und andere Rebellengruppen und extremistische Gruppierungen. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen eine von Afghanen geführte und ausgehandelte Konfliktresolution in Afghanistan - gemeinsam mit internationalen Partnern sollen die Rahmenbedingungen für einen friedlichen politischen Vergleich zwischen afghanischer Regierung und Rebellengruppen geschaffen werden (USDOD 12.2016).

Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihre Familien kaum an die Öffentlichkeit (AA 9.2016).

Taliban und ihre Offensive

Die afghanischen Sicherheitskräfte behielten die Kontrolle über große Ballungsräume und reagierten rasch auf jegliche Gebietsgewinne der Taliban (USDOD 12.2016). Die Taliban erhöhten das Operationstempo im Herbst 2016, indem sie Druck auf die Provinzhauptstädte von Helmand, Uruzgan, Farah und Kunduz ausübten sowie die Regierungskontrolle in Schlüsseldistrikten beeinträchtigten und versuchten, Versorgungsrouten zu unterbrechen (UN GASC 13.12.2016). Die Taliban verweigern einen politischen Dialog mit der Regierung (SCR 12.2016).

Die Taliban haben die Ziele ihrer Offensive "Operation Omari" im Jahr 2016 verfehlt (USDOD 12.2016). Ihr Ziel waren großangelegte Offensiven gegen Regierungsstützpunkte, unterstützt durch Selbstmordattentate und Angriffe von Aufständischen, um die vom Westen unterstützte Regierung zu vertreiben (Reuters 12.4.2016). Gebietsgewinne der Taliban waren nicht dauerhaft, nachdem die ANDSF immer wieder die Distriktzentren und Bevölkerungsgegenden innerhalb eines Tages zurückerobern konnte. Die Taliban haben ihre lokalen und temporären Erfolge ausgenutzt, indem sie diese als große strategische Veränderungen in sozialen Medien und in anderen öffentlichen Informationskampagnen verlautbarten (USDOD 12.2016). Zusätzlich zum bewaffneten Konflikt zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban kämpften die Taliban gegen den ISIL-KP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan) (UN GASC 13.12.2016).

Der derzeitige Talibanführer Mullah Haibatullah Akhundzada hat im Jänner 2017 16 Schattengouverneure in Afghanistan ersetzt, um seinen Einfluss über den Aufstand zu stärken. Aufgrund interner Unstimmigkeiten und Überläufern zu feindlichen Gruppierungen, wie dem Islamischen Staat, waren die afghanischen Taliban geschwächt. Hochrangige Quellen der Taliban waren der Meinung, die neu ernannten Gouverneure würden den Talibanführer stärken, dennoch gab es keine Veränderung in Helmand. Die südliche Provinz - größtenteils unter Talibankontrolle - liefert der Gruppe den Großteil der finanziellen Unterstützung durch Opium. Behauptet wird, Akhundzada hätte nicht den gleichen Einfluss über Helmand wie einst Mansour (Reuters 27.1.2017).

Im Mai 2016 wurde der Talibanführer Mullah Akhtar Mohammad Mansour durch eine US-Drohne in der Provinz Balochistan in Pakistan getötet (BBC News 22.5.2016; vgl auch: The National 13.1.2017). Zum Nachfolger wurde Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt - ein ehemaliger islamischer Rechtsgelehrter - der bis zu diesem Zeitpunkt als einer der Stellvertreter diente (Reuters 25.5.2016; vgl auch:

The National 13.1.2017). Dieser ernannte als Stellvertreter Sirajuddin Haqqani, den Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (The National 13.1.2017), und Mullah Yaqoub, Sohn des Talibangründers Mullah Omar (DW 25.5.2016).

Haqqani-Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk ist eine sunnitische Rebellengruppe, die durch Jalaluddin Haqqani gegründet wurde. Sirajuddin Haqqani, Sohn des Jalaluddin, führt das Tagesgeschäft gemeinsam mit seinen engsten Verwandten (NCTC o.D.). Sirajuddin Haqqani wurde zum Stellvertreter des Talibanführers Mullah Haibatullah Akhundzada ernannt (The National 13.1.2017).

Das Netzwerk ist ein Verbündeter der Taliban - dennoch ist es kein Teil der Kernbewegung (CRS 26.5.2016). Das Netzwerk ist mit anderen terroristischen Organisationen in der Region, inklusive al-Qaida und den Taliban, verbündet (Khaama Press 16.10.2014). Die Stärke des Haqqani-Netzwerks wird auf 3.000 Kämpfer geschätzt (CRS 12.1.2017). Das Netzwerk ist hauptsächlich in Nordwaziristan (Pakistan) zu verorten und führt grenzübergreifende Operationen nach Ostafghanistan und Kabul durch (NCTC o.D.).

Das Haqqani-Netzwerk ist fähig - speziell in der Stadt Kabul -,Operationen durchzuführen; es finanziert sich durch legale und illegale Geschäfte in den Gegenden Afghanistans, in denen es eine Präsenz hat, aber auch in Pakistan und im Persischen Golf. Das Netzwerk führt vermehrt Entführungen aus - wahrscheinlich, um sich zu finanzieren und seine Wichtigkeit zu stärken (CRS 12.1.2017).

Kommandanten des Haqqani Netzwerk sagten zu Journalist/innen, das Netzwerk sei bereit, eine politische Vereinbarung mit der afghanischen Regierung zu treffen, sofern sich die Taliban dazu entschließen würden, eine solche Vereinbarung einzugehen (CRS 12.1.2017).

Al-Qaida

Laut US-amerikanischen Beamten war die Präsenz von al-Qaida in den Jahren 2001 bis 2015 minimal (weniger als 100 Kämpfer); al-Qaida fungierte als Unterstützer für Rebellengruppen (CRS 12.1.2017). Im Jahr 2015 entdeckten und zerstörten die afghanischen Sicherheitskräfte gemeinsam mit US-Spezialkräften ein Camp der al-Quaida in der Provinz Kandahar (CRS 12.1.2017; vgl auch: FP 2.11.2015); dabei wurden 160 Kämpfer getötet (FP 2.11.2015). Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass al-Qaida die Präsenz in Afghanistan vergrößert hat. US-amerikanische Kommandanten bezifferten die Zahl der Kämpfer in Afghanistan mit 100 bis 300, während die afghanischen Behörden die Zahl der Kämpfer auf 300 bis 500 schätzten (CRS 12.1.2017). Im Dezember 2015 wurde berichtet, dass al-Qaida sich primär auf den Osten und Nordosten konzentrierte und nicht, wie ursprünglich von US-amerikanischer Seite angenommen, nur auf Nordostafghanistan (LWJ 16.4.2016).

IS/ISIS/ISIL/ISKP/ISIL-K/Daesh - Islamischer Staat

Seit dem Jahr 2014 hat die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) eine kleine Präsenz in Afghanistan etabliert (RAND 28.11.2016). Die Führer des IS nennen diese Provinz Wilayat Khorasan - in Anlehnung an die historische Region, die Teile des Irans, Zentralasien, Afghanistan und Pakistan beinhaltete (RAND 28.11.2016; vgl auch: MEI 5.2016). Anfangs wuchs der IS schnell (MEI 5.2016). Der IS trat im Jahr 2014 in zwei getrennten Regionen in Afghanistan auf: in den östlichsten Regionen Nangarhars, an der AfPak-Grenze und im Distrikt Kajaki in der Provinz Helmand (USIP 3.11.2016). Trotz Bemühungen, seine Macht und seinen Einfluss in der Region zu vergrößern, kontrolliert der IS nahezu kein Territorium außer kleineren Gegenden wie zB die Distrikte Deh Bala, Achin und Naziyan in der östlichen Provinz Nangarhar (RAND 28.11.2016; vgl auch: USIP 3.11.2016). Zwar kämpfte der IS hArt in Afghanistan, um Fuß zu fassen, die Gruppe wird von den Ansäßigen jedoch großteils als fremde Kraft gesehen (MEI 5.2016). Nur eine Handvoll Angriffe führte der IS in der Region durch. Es gelang ihm nicht, sich die Unterstützung der Ansäßigen zu sichern; auch hatte er mit schwacher Führung zu kämpfen (RAND 28.11.2016). Der IS hatte mit Verlusten zu kämpfen (MEI 5.2016). Unterstützt von internationalen Militärkräften führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch - dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).

Auch wenn die Gruppierung weiterhin interne Streitigkeiten der Taliban ausnützt, um die Präsenz zu halten, ist sie mit einem harten Kampf konfrontiert, um permanenter Bestandteil komplexer afghanischer Stammes- und Militärstrukturen zu werden. Anhaltender Druck durch US-amerikanische Luftangriffe haben weiterhin die Möglichkeiten des IS in Afghanistan untergraben; auch wird der IS weiterhin davon abgehalten, seinen eigenen Bereich in Afghanistan einzunehmen (MEI 5.2016). Laut US-amerikanischem Außenministerium hat der IS keinen sicherheitsrelevanten Einfluss außerhalb von isolierten Provinzen in Ostafghanistan (SIGAR 30.10.2017).

Unterstützt von internationalen Militärkräften führten die afghanischen Sicherheitskräfte regelmäßig Luft- und Bodenoperationen gegen den IS in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch - dies verkleinerte die Präsenz der Gruppe in beiden Provinzen. Eine kleinere Präsenz des IS existiert in Nuristan (UN GASC 13.12.2016).

Presseberichten zufolge betrachtet die afghanische Bevölkerung die Talibanpraktiken als moderat im Gegensatz zu den brutalen Praktiken des IS. Kämpfer der Taliban und des IS gerieten aufgrund politischer oder anderer Differenzen, aber auch aufgrund der Kontrolle von Territorium, aneinander (CRS 12.1.2017).

Zivile Opfer

Die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) dokumentiert weiterhin regierungsfeindliche Elemente, die illegale und willkürliche Angriffe gegen Zivilist/innen ausführen (UNAMA 10.2016). Zwischen 1.1.2016 und 31.12.2016 registrierte UNAMA 11.418 zivile Opfer (3.498 Tote und 7.920 Verletzte) - dies deutet einen Rückgang von 2 % bei Getöteten und eine Erhöhung um 6 % bei Verletzten im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Jahres 2015 an. Bodenkonfrontation war weiterhin die Hauptursache für zivile Opfer, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attentaten sowie unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung (IED) und gezielten und willkürlichen Tötungen (UNAMA 6.2.2017).

UNAMA verzeichnete 3.512 minderjährige Opfer (923 Kinder starben und 2.589 wurden verletzt) - eine Erhöhung von 24 % gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres; die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn. Hauptursache waren Munitionsrückstände, deren Opfer meist Kinder waren. Im Jahr 2016 wurden 1.218 weibliche Opfer registriert (341 Tote und 877 Verletzte), dies deutet einen Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr an (UNAMA 6.2.2017).

Hauptsächlich waren die südlichen Regionen von dem bewaffneten Konflikt betroffen: 2.989 zivile Opfer (1.056 Tote und 1.933 Verletzte) - eine Erhöhung von 17 % gegenüber dem Jahr 2015. In den zentralen Regionen wurde die zweithöchste Rate an zivilen Opfern registriert: 2.348 zivile Opfer (534 Tote und 1.814 Verletzte) - eine Erhöhung von 34 % gegenüber dem Vorjahreswert aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Angriffen auf die Stadt Kabul. Die östlichen und nordöstlichen Regionen verzeichneten einen Rückgang bei zivilen Opfern: 1.595 zivile Opfer (433 Tote und 1.162 Verletzte) im Osten und 1.270 zivile Opfer (382 Tote und 888 Verletzte) in den nordöstlichen Regionen. Im Norden des Landes wurden 1.362 zivile Opfer registriert (384 Tote und 978 Verletzte) sowie in den südöstlichen Regionen 903 zivile Opfer (340 Tote und 563 Verletzte). Im Westen wurden 836 zivile Opfer (344 Tote und 492 Verletzte) und 115 zivile Opfer (25 Tote und 90 Verletzte) im zentralen Hochgebirge registriert (UNAMA 6.2.2017).

Laut UNAMA waren 61 % aller zivilen Opfer regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreiben (hauptsächlich Taliban), 24 % regierungsfreundlichen Kräften (20 % den afghanischen Sicherheitskräften, 2 % bewaffneten regierungsfreundlichen Gruppen und 2 % internationalen militärischen Kräften); Bodenkämpfe zwischen regierungsfreundlichen Kräften und regierungsfeindlichen Kräften waren Ursache für 10 % zivile Opfer, während 5 % der zivilen Opfer vorwiegend durch Unfälle mit Munitionsrückständen bedingt waren (UNAMA 6.2.2017). Mitarbeiter/innen internationaler Organisationen und der US-Streitkräfte: Die Taliban greifen weiterhin Mitarbeiter/innen lokaler Hilfsorganisationen und internationaler Organisationen an - nichtsdestotrotz sind der Ruf der Organisationen innerhalb der Gemeinschaft und deren politischer Einfluss ausschlaggebend, ob ihre Mitarbeiter/innen Problemen ausgesetzt sein werden. Dieser Quelle zufolge sind Mitarbeiter/innen von NGOs Einschüchterungen der Taliban ausgesetzt. Einer anderen Quelle zufolge kam es im Jahr 2015 nur selten zu Vorfällen, in denen NGOs direkt angegriffen wurden (IRBC 22.2.2016). Angriffe auf Mitarbeiter/innen internationaler Organisationen wurden in den letzten Jahren registriert; unter anderem wurden im Februar 2017 sechs Mitarbeiter/innen des Internationalen Roten Kreuzes in der Provinz Jawzjan von Aufständischen angegriffen und getötet (BBC News 9.2.2017); im April 2015 wurden fünf Mitarbeiter/innen von "Save the Children" in der Provinz Uruzgan entführt und getötet (The Guardian 11.4.2015). Die norwegische COI-Einheit Landinfo berichtet im September 2015, dass zuverlässige Berichte über konfliktbezogene Gewalt gegen Afghanen im aktiven Dienst für internationale Organisationen vorliegen. Andererseits konnte nur eine eingeschränkte Berichtslage bezüglich konfliktbezogener Gewalt gegen ehemalige Übersetzer, Informanten oder andere Gruppen lokaler Angestellter ziviler oder militärischer Organisationen festgestellt werden (Landinfo 9.9.2015). Ferner werden reine Übersetzerdienste, die auch geheime Dokumente umfassen, meist von US-Staatsbürgern mit lokalen Wurzeln durchgeführt, da diese eine Sicherheitszertifizierung benötigen (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014). Grundsätzlich sind Anfeindungen gegen afghanische Angestellte der US-Streitkräfte üblich, da diese im Vergleich zu ihren Mitbürger/innen verhältnismäßig viel verdienen. Im Allgemeinen hält sich das aber in Grenzen, da der wirtschaftliche Nutzen für die gesamte Region zu wichtig ist. Tätliche Übergriffe kommen vor, sind aber nicht nur auf ein Arbeitsverhältnis bei den internationalen Truppen zurückzuführen. Des Weiteren bekommen afghanische Angestellte bei den internationalen Streitkräften Uniformen oder Dienstbekleidung, Verpflegung und Zugang zu medizinischer Versorgung nach westlichem Standard. Es handelt sich somit meist um Missgunst. Das Argument der Gefahr im Beruf für lokale Dolmetscher wurde von den US-Streitkräften im Bereich der SOF (Special Operation Forces), die sehr sensible Aufgaben durchführen, dadurch behoben, dass diesen Mitarbeitern nach einer gewissen Zeit die Mitnahme in die USA angeboten wurde. Dieses Vorgehen wurde von einer militärischen Quelle aus Deutschland bestätigt (Liaison Officer to Ministry of Interior of GIROA 14.11.2014).

1.4.2.1 Balkh

Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan; sie ist geostrategisch gesehen eine wichtige Provinz und bekannt als Zentrum für wirtschaftliche und politische Aktivitäten. Die Hauptstadt Mazar-e Sharif, liegt an der Autobahn zwischen Maimana [Anm.:

Provinzhauptstadt Faryab] und Pul-e-Khumri [Anm.: Provinzhauptstadt Baghlan]. Sie hat folgende administrative Einheiten: Hairatan Port, Nahra-i-Shahi, Dihdadi, Balkh, Daulatabad, Chamtal, Sholgar, Chaharbolak, Kashanda, Zari, Charkont, Shortipa, Kaldar, Marmal, und Khalm. Die Provinz grenzt im Norden an Tadschikistan und Usbekistan. Die Provinz Samangan liegt sowohl östlich als auch südlich. Die Provinz Kunduz lieg im Osten, Jawzjan im Westen und Sar-e Pul im Süden (Pajhwok o.D.y). Balkh grenzt an drei zentralasiatische Staaten an: Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan (RFE/RL 9.2015). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.353.626 geschätzt (CSO 2016).

Gewalt gegen Einzelpersonen-30

Bewaffnete Konfrontationen und Luftangriffe-81

Selbstmordattentate, IED-Explosionen und andere Explosionen-26

Wirksame Einsätze von Sicherheitskräften-70

Vorfälle ohne Bezug auf den Konflikt -18

Andere Vorfälle-1

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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