TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/25 W123 2205571-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.03.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

25.03.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W123 2205571-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX . Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.08.2018, 1093065804-151673707, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige, stellte am 02.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am selben Tag erfolgten Erstbefragung brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie aufgrund des Aufenthaltes ihres Ehemannes im Bundesgebiet nach Österreich gekommen sei.

3. Am 06.12.2017 fand vor der belangten Behörde eine Einvernahme statt.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 10.08.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wendet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Beschwerdeführerin eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau sei und auch mit ihrem Ehemann in Österreich in die Kirche gehe.

6. Am 01.02.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentlich mündliche Verhandlung statt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

Die Beschwerdeführerin ist volljährig, nennt sich XXXX , ist Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan und Angehörige der Volksgruppe der Hazara. Die Muttersprache der Beschwerdeführerin ist Farsi. Sie wurde in Afghanistan in der Provinz Ghazni geboren und wuchs im Iran auf.

Die Beschwerdeführerin hält sich derzeit gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter in Österreich auf.

Die Beschwerdeführerin wuchs in einem traditionellen Umfeld in Afghanistan bzw. im Iran auf. In Afghanistan war es ihr verboten das Haus zu verlassen.

An einem durchschnittlichen Tag in Österreich kümmert sich die Beschwerdeführerin um den Haushalt, trifft sich mit ihren Freundinnen oder erledigt Einkäufe.

In ihrer Freizeit geht die Beschwerdeführerin gerne Bekleidung für sich und ihr Kind einkaufen.

In Österreich ist die Beschwerdeführerin um Weiterbildung bemüht, legte bereits die Deutschprüfung auf dem Niveau A1 ab und besucht derzeit einen Deutschkurs auf dem Niveau A2. Der Berufswunsch der Beschwerdeführerin ist jener einer Visagistin. Sie verfügt bereits über einen Abschluss zur Ausbildung als Visagistin im Iran und möchte diese Ausbildung in Österreich weiter fortsetzen. Sie organisiert ihren Alltag selbstständig und geht auch ohne Begleitung einkaufen.

Die Beschwerdeführerin möchte ihrer Tochter und sich in Österreich den Zugang zu Bildung ermöglichen.

Die Beschwerdeführerin ist eine junge selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die Beschwerdeführerin beabsichtigt, in Österreich eine Ausbildung zu machen und einer Arbeit nachzugehen, um berufliche Selbstständigkeit zu erlangen. Diese Einstellung steht im Widerspruch zu den im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Beschwerdeführerin vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie in die vorgelegten Urkunden.

2.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Feststellungen zu Identität, Familienverhältnissen, Herkunft und Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin gründen sich auf ihre diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde, in dem Beschwerdeschriftsatz und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin aufkommen lässt.

2.2. Zu den Fluchtgründen bzw. Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführerin:

Einleitend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin vorbrachte, aufgrund ihrer westlichen Orientierung in Afghanistan verfolgt zu werden (vgl. Seite 5 des Verhandlungsprotokolls).

Die Feststellungen zur Beschwerdeführerin als junge moderne Frau, die die traditionell begründeten gesellschaftlichen Einstellungen und die sich daraus für den Alltag ergebenden Zwänge gegenüber Frauen im Herkunftsstaat ablehnt, basieren auf den glaubwürdigen Angaben der Beschwerdeführerin in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem persönlichen Eindruck, der von der Beschwerdeführerin in der Verhandlung gewonnen werden konnte.

Sie beantwortete die an sie gerichteten Fragen spontan und authentisch und hinterließ insgesamt einen glaubwürdigen und überzeugenden Eindruck.

Sie ist eine junge Frau, die in Österreich alleine außer Haus geht, sich ohne Orientierung an die traditionellen Kleidungsvorschriften ihres Herkunftsstaates kleidet, eine berufliche Ausbildung machen und einer Arbeit nachgehen möchte. Ihr Leben in Österreich unterscheidet sich nicht von dem Leben, welches andere Frauen in Österreich führen.

Das Bundesverwaltungsgericht gewann bei der Einvernahme der Beschwerdeführerin vor allem den Eindruck, dass es sich bei dieser um eine Person handelt, die das streng konservativ-afghanische Frauenbild ablehnt und ablegte sowie stattdessen "westliche" Werte verinnerlichte und auch danach lebt.

Dieser Eindruck wird ua dadurch untermauert, dass die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die Unterschiede zwischen dem Leben der Frauen in Afghanistan gegenüber jenem in Österreich ansprach und klarmachte, dass sie mit den Bedingungen nicht einverstanden ist, denen Frauen in Afghanistan nach wie vor unterworfen sind (vgl. Seite 5 des Verhandlungsprotokolls, arg. "R: Das ist sehr allgemein gehalten. Können Sie näher ausführen, weshalb Sie in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wären? - BF: Als Frau hätte ich in Afghanistan keine Sicherheit. So wie ich mich in Österreich kleide, könnte ich in Afghanistan niemals auf die Straße gehen. Dort dürfte ich keine engen Sachen anziehen, auch dürfte ich keine Jeanhose anziehen und ich dürfet nicht alleine einkaufen gehen. Für mich gebe es dort keine Sicherheit. Überdies herrsch in Afghanistan keine Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen.").

Zudem kann die auf ein selbstbestimmtes Leben gerichtete innere Einstellung ("westliche Gesinnung") der Beschwerdeführerin ihren Aussagen betreffend ihre Zukunftspläne und betreffend den Wunsch nach Bildung und Berufstätigkeit zweifelsfrei entnommen werden und wird auch durch ihre eigenständige Lebensführung klar bestätigt. Sie lernt zielstrebig Deutsch und nimmt aktiv und völlig ungezwungen am gesellschaftlichen Leben teil.

Aus all dem ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin als junge selbstständige Frau anzusehen ist, die in einer Weise lebt, die nicht mit den traditionell-konservativen Ansichten betreffend die Rolle der Frau in der afghanischen Gesellschaft übereinstimmt. Diese Lebensführung ist zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Beschwerdeführerin geworden, dass von ihr nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken. Es ist daher davon auszugehen, dass eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertvorstellungen der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Aufenthaltes im Ausland und ihrer Anpassung an das hier bestehende Gesellschaftssystem zumindest unterstellt werden würde.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes) ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 161/2013, mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte (vgl. insbesondere § 1 BFA-VG).

§ 28 VwGVG ("Erkenntnisse") regelt die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte und lautet auszugsweise wie folgt:

"§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

[...]"

Zu Spruchpunkt A)

3.2. Gemäß § 3 Abs. 1 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg.cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

3.3. Zur Verfolgung der Beschwerdeführerin:

Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Furcht der Beschwerdeführerin vor Verfolgung im Sinne der GFK wohlbegründet ist.

Die Beschwerdeführerin brachte im Wesentlichen vor, dass sie aufgrund ihrer (nunmehrigen) westlichen Orientierung in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre (vgl. Seite 5 des Verhandlungsprotokolls).

3.3.1. Im konkreten Fall ist die vorgebrachte Verfolgung als eine "gegen die Frauen insgesamt oder gegen bestimmte Gruppen der weiblichen Bevölkerung" gerichtete Maßnahmen unter "dem Gesichtspunkt der drohenden Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu würdigen" (vgl. VwGH 26.02.2002, 98/20/0544; 31.01.2002, 99/20/0497).

In seinem Erkenntnis vom 23.01.2018, 2017/18/0301, sprach der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf afghanische Frauen, die "westliches" Verhalten oder "westliche" Lebensführung annahmen, ua Folgendes aus:

"[...]

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten ‚westlich' orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388, mit weiteren Nachweisen). Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 6.7.2011, 2008/19/0994-1000). [...]

Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Aus diesem Grund ist etwa das Revisionsvorbringen, die Erstrevisionswerberin könne im Falle einer Rückkehr nach Kabul - ohne männliche Begleitung - nicht mehr den Freizeitsport Nordic Walking ausüben, für sich betrachtet jedenfalls kein Grund, ihr asylrechtlichen Schutz zu gewähren. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. idS VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388). In diesem Sinne ist auch die rechtliche Argumentation des BVwG zu verstehen, der Bruch mit den gesellschaftlichen Normen des Heimatlandes muss ‚deutlich und nachhaltig' erfolgt sein.

[...]"

3.3.2. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre die Beschwerdeführerin zunächst mit einer für sie prekären Sicherheitslage konfrontiert. Das bedeutet, dass für sie in fast allen Teilen Afghanistans ein erhöhtes Risiko besteht, Eingriffen in ihre physische Integrität und Sicherheit ausgesetzt zu sein. Gemäß den Länderfeststellungen ist dieses Risiko sowohl als generelle, die afghanischen Frauen betreffende Gefährdung zu sehen (Risiko, Opfer einer Vergewaltigung oder eines sonstigen Übergriffs bzw. Verbrechens zu werden) als auch als spezifische Gefährdung, bei non-konformem Verhalten (dh bei Verstößen gegen gesellschaftliche Normen, wie beispielsweise Bekleidungsvorschriften) einer "Bestrafung" ausgesetzt zu sein.

Am Beispiel der die Frauen und Mädchen betreffenden Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wird anschaulich, dass afghanische Frauen de facto einer Verletzung in grundlegenden Rechten ausgesetzt sind. Es bestehen nach wie vor gesellschaftliche Normen dahingehend, dass Frauen sich nur bei Vorliegen bestimmter Gründe alleine außerhalb ihres Wohnraumes bewegen sollen. Widrigenfalls haben Frauen mit Beschimpfungen und Bedrohungen zu rechnen bzw. sind der Gefahr willkürlicher Übergriffe ausgesetzt. Für die Beschwerdeführerin würde sich die derzeitige Situation in Afghanistan so auswirken, dass sie im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbaren Einschränkungen ausgesetzt wäre.

Die Beschwerdeführerin unterliegt in Afghanistan zudem einer erhöhten Gefährdung, weil sie als Frau nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition lebt, sondern sich eine "westliche" Lebensführung aneignete, gegensätzlich zu dem in der afghanischen Gesellschaft weiterhin vorherrschenden traditionell-konservativen Rollenbild der Frau. Der Einschätzung des UNHCR, der Indizwirkung zukommt (vgl. VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182), zufolge sind Frauen/Mädchen besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil annahmen, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückkehrten, werden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen. Die Beschwerdeführerin würde dadurch gegenwärtig in Afghanistan als eine Frau wahrgenommen werden, die sich als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benimmt; sie ist insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt (vgl. dazu EGMR, Case N. vs. Schweden, 20.07.2010, 23505/09, ebenfalls unter Hinweis auf UNHCR).

Die der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan drohende Situation ist daher in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität (vgl. zur Definition des Verfolgungsbegriffes und der erforderlichen Intensität VwGH 22.03.2017, Ra 2016/19/0350, mit Verweis auf VwGH 15.12.2016, Ra 2016/18/0083).

3.3.3. Es ist nach Lage des Falles zudem davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin vor dieser Bedrohung in Afghanistan nicht ausreichend geschützt werden kann. Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von staatlicher Seite dar, dh sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet, jedoch ist es der Zentralregierung auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass im Wirkungsbereich einzelner lokaler Machthaber effektive Mechanismen zur Verhinderung von Übergriffen und Einschränkungen gegenüber Frauen bestünden; ganz im Gegenteil liegt ein derartiges Vorgehen gegenüber Frauen teilweise ganz im Sinne der lokalen Machthaber. Für die Beschwerdeführerin ist damit nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren, dass sie angesichts des sie als Frau "westlicher" Orientierung betreffenden Risikos, Opfer von Misshandlungen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.

3.3.4. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die Beschwerdeführerin nicht, da im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen ist, wo sie einem erhöhten Sicherheitsrisiko und den daraus resultierenden Einschränkungen ausgesetzt wäre.

Angesichts der dargestellten Umstände ist im Fall der Beschwerdeführerin daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin im Falle ihrer nunmehrigen Rückkehr nach Afghanistan als Frau dort mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer "westlichen" Lebenshaltung Eingriffe asylrelevanter Intensität mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat, sich sohin aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK außerhalb Afghanistans befindet und in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (§ 6 AsylG 2005) oder eines Endigungsgrundes (Art. 1 Abschnitt C GFK) ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

3.3.5. Der Beschwerde war daher stattzugeben und der Beschwerdeführerin gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Beschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die unter A) zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung, gesamtes Staatsgebiet,
geschlechtsspezifische Verfolgung, Rechtsanschauung des VwGH,
Schutzunfähigkeit, Schutzunwilligkeit, soziale Gruppe, westliche
Orientierung, wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W123.2205571.1.00

Zuletzt aktualisiert am

03.05.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten