TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/20 W142 2195646-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.03.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

20.03.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W142 2195654-1/9E

W142 2195646-1/11E

W142 2195652-1/6E

W142 2195657-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2018, Zl. 1133883804-161487013, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.02.2019 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG

2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2018, Zl. 1133889710-161487021, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.02.2019 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm

§34 Abs. 2 AsylG 2005 idgF der Status desr Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

III. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2018, Zl. 1133889906-161487048, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.02.2019 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm

§34 Abs. 2 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

IV. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2018, Zl. 1133882404-161487056, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.02.2019 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 iVm

§34 Abs. 2 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF1) reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Zweitbeschwerdeführer (im Folgenden: BF2), und ihren beiden gemeinsamen minderjährigen Kindern, dem Drittbeschwerdeführer (im Folgenden: BF3) und der Viertbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF4) unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten die BF1 und der BF2 am 02.11.2016 für sich und ihre beiden minderjährigen Kinder die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

2. Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab die BF1 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zusammengefasst an, dass in Afghanistan die Sicherheitslage schlecht sei und Krieg herrsche. Vor etwa 10 Jahren sei sie mit ihrem Cousin mütterlicherseits namens

XXXX verlobt worden. Sie habe ihn nicht gemocht, da er etwa 12 Jahre älter sei. Sie habe auch gehört, dass er den Taliban angehöre. Er habe sie über Verwandte bedroht. Sie habe einen anderen Mann geheiratet, aber dennoch fürchte sie um ihr Leben. In der Zeit, als sie im Iran gelebt habe (ab 6. oder 7. Lebensjahr, für 21 Jahre) habe sie diese Feindschaft nicht gehabt. Ihr jetziger Mann habe aber keine Dokumente gehabt, deshalb hätten sie nach Afghanistan zurückkehren müssen. Sonst hätten sie diese Probleme nicht gehabt. Weil ihr Mann keine Dokumente gehabt habe, hätten ihre Kinder nicht zur Schule gehen können. Ihr Mann sei zweimal vom Iran ausgewiesen worden. Dort hätten sie keine Probleme gehabt, weil es sicher gewesen sei, aber es sei illegal gewesen. Bei einer Rückkehr habe sie Angst um ihr Leben.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab sie an, dass sie schiitische Muslimin sei und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Sie habe acht Jahre lang die Grundschule besucht und sei Hausfrau gewesen. Berufsausbildung habe sie keine. Ihre Eltern, drei Brüder und eine Schwester würden im Iran (Teheran) leben.

3. Der BF2 gab in seiner Erstbefragung zu seinen Fluchtgründen kurz zusammengefasst an, dass er vom Iran einen Landesverweis bekommen habe. Danach hätten sie bei seinem Bruder in Afghanistan gelebt. Aufgrund der unsicheren Lage hätten sie Afghanistan verlassen. Seine Frau sei zwangsverlobt worden, habe jedoch nicht heiraten wollen und stattdessen ihn geheiratet. Daraufhin seien sie von ihm bedroht worden. Außerdem wolle er, dass seine Kinder eine Schule besuchen können, weil er Analphabet sei. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor dem Krieg und der Unsicherheit sowie der Rache des Ex-Verlobten.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen gab er an, er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Sayed an. Er habe keine Schul- und Berufsausbildung und zuletzt als Hilfsarbeiter gearbeitet. Seine Eltern, seine drei Brüder und seine zwei Schwestern würden in Afghanistan leben.

Beim BF2 wurde ein arabischer Führerschein sichergestellt und legte er in weiterer Folge einen Reisepass (ausgestellt vom afghanischen Generalkonsulat in XXXX ) in Kopie vor.

4. Am 09.03.2018 wurden die BF1 und der BF2 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen.

Die BF1 gab zu ihrem Gesundheitszustand an, dass sie Medikamente genommen habe, da sie eine Schilddrüsenunterfunktion gehabt habe. Diese nehme sie seit einem Monat nicht mehr. Sie fühle sich gesund und sei arbeitsfähig und arbeitswillig. Sie habe in der Erstbefragung angegeben, dass sie im Alter von 10 Jahren an ihren Cousin verheiratet hätte werden sollen, nicht "vor 10 Jahren".

Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab sie an, dass sie im Iran acht Jahre lang die Schule besucht habe. Sie habe legal im Iran gelebt und könne Farsi lesen und schreiben. Sie habe im Iran traditionell geheiratet. Ihre Kinder seien gesund. Im Iran habe sie als Frau keine Probleme gehabt. Derzeit mache sie alltägliche Erledigungen gemeinsam mit ihrem Mann. Sie entscheide dies selber. Sie gehe auch alleine außer Haus und treffe Freundinnen. Im Iran habe sie auch Freundinnen getroffen. Sie trage immer ein Kopftuch. Befragt, ob sie soziale Kontakte außerhalb der Familie, besonders zu Männern habe, gab sie an, dass der Trainer ihres Sohnes sie in Deutsch unterrichte. Ihr Mann sei immer dabei, er habe kein Problem damit. Weitschichtige Familienmitglieder ihrer Mutter würden in Kabul leben. Ihr Eltern und Geschwister würden im alle legal im Iran leben. Sie sei in Parwan geboren und habe dort bis zu ihrem 11. Lebensjahr gelebt. Ein- zweimal habe sie Kontakt mit ihren Angehörigen. Gearbeitet habe sie im Iran nicht. Sie habe in Österreich keine Angehörigen, aber eine weitschichtig verwandte Familie lebe in Deutschland. Sie habe bis B1/Teil 1 einen Deutschkurs besucht und morgen die B1 Prüfung. Ihr Mann sei einverstanden, dass sie einen Deutschkurs besuche.

Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die BF1 kurz zusammengefasst an, dass ihr Vater sie mit 10 Jahren an ihren 12 Jahre älteren Cousin verheiraten habe wollen. Dies habe sie abgelehnt und sei zu ihrem Onkel gegangen und habe ihm alles erzählt. Der Onkel habe dann mit dem Vater gesprochen und habe dieser den Vater überzeugt das Land in den Iran zu verlassen. Im Iran habe der Vater dem Vermählten dann Bescheid gegeben, dass sie ihn nicht heiraten werde. Ein Jahr später habe ein Dorfbewohner einen Brief gebracht, worin gestanden sei, dass dies was geschehen sei nicht ungestraft bleiben werde und er Rache nehmen werde. Zudem hätten sie von Bekannten erfahren, dass er sich den Taliban angeschlossen habe. Da ihr Mann im Jahr 2015 nach Afghanistan abgeschoben worden sei, sei sie mit den Kindern wieder nach Afghanistan gegangen. Zwei Monate später seien sie einkaufen gewesen und hätten umsteigen wollen, aber es habe keine Verbindung mehr gegeben. Sie hätten den letzten Weg zu Fuß gehen müssen. Nach ewa 10 Minuten Fußweg seien sie überfallen worden. Sie habe geschrien und ihr Mann habe gesagt, sie solle mit den Kindern weglaufen. Ihr Mann habe versucht die beiden festzuhalten. Dann seien ihnen Bewohner zur Hilfe gekommen. Ihr Sohn sei runtergefallen und habe sich im Gesicht verletzt. Die Angreifer hätten das Weite gesucht. Sie habe nicht gewusst, dass dies mit ihrem Cousin zu tun gehabt habe, sondern habe gedacht, es seien Räuber gewesen. Eines Abends sei ihr Mann von der Arbeit nach Hause gekommen und habe ihr erzählt, dass er die beiden Räuber erneut gesehen habe und verfolgt worden sei. Am nächsten Tag habe er einen Anruf von den Leuten ihres Cousins bekommen. Der Anrufer habe gesagt, dass es nach zweimaliger Flucht beim dritten Mal ernsthafte Konsequenzen geben werde. Ein paar Tage später habe ihr Schwager einen Anruf von der Schwester des Cousins bekommen. Diese habe gesagt, dass ihr Bruder es nicht vergessen habe und sie flüchten sollen. Bei einer Rückkehr habe sie Angst um ihr Leben.

Zu ihren Kindern gab die BF1 an, dass diese keine eigenen Fluchtgründe hätten.

Zu ihrem Leben in Österreich gab sie an, eine Beschäftigung in der Buchhaltung anzustreben. Sie habe bereits mehrere Kontakte in Österreich. Mitglied in Vereinen oder Organisationen sei sie nicht. Sie sei froh in Österreich zu sein. Sie könne das Leben nach ihren Vostellungen frei und ohne Angst leben.

Der BF2 gab in seiner Einvernahme an, dass er wegen Schulterproblemen beim Arzt gewesen sei. Es sei nun aber alles verheilt und er sei gesund, arbeitsfähig und arbeitswillig. Er habe bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht, aber sein Geburtsdatum sowie sein Name würden nicht stimmen. Er sei 1979 geboren. Er habe von 2011 bis 2014 in den Vereinigten Arabischen Emiraten gearbeitet, seine Familie habe in dieser Zeit im Iran gelebt. Er habe bis zu seinem 15. oder 16 Lebensjahr in Bamyan gelebt, danach sei er in den Iran ausgereist. Vor der Ausreise nach Europa habe er etwa 8 bis 9 Monate in Kabul gelebt. In Österreich würden eine Nichte und ein Neffe seiner Tante leben. Zudem habe er vier Cousins in Deutschland.

Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, dass seine Frau von ihrem Vater mit 10 Jahren gezwungen worden sei zu heiraten, dies habe sie aber nicht gewollt, da der Mann sehr alt gewesen sei. Sie sei dann zum Onkel gegangen und habe diesen angefleht den Mann nicht heiraten zu müssen. Letztlich sei seine Frau mit ihren Eltern in den Iran geflüchtet. Im Iran habe der Vater seiner Frau dem Bräutigam die Hochzeit verwehrt. Ende des Jahres 2014 sei er von den Vereinigten Arabischen Emiraten in den Iran geflohen. Er sei dann von der Polizei erwischt worden und nach Afghanistan abgeschoben worden. Seine Frau und die Kinder seien ebenfalls nach Afghanistan gekommen. Ein Neffe der Tante seiner Frau bzw. alle Verwandschaften hätten gesagt, es sei ein Fehler gewesen, dass sie nach Afghanistan zurückgekehrt seien, da der Verschmähte seiner Frau noch immer auf Rache aus sei. Sie hätten dies nicht geglaubt. Nach 2 oder 3 Monaten seien sie einkaufen gewesen, beim Rückweg seien sie die letzten 10 Minuten zu Fuß nach Hause gegangen. Plötzlich hätten sie zwei Personen überfallen. Er habe zur Frau und den Kindern gesagt, dass sie weglaufen sollen. Er habe beide Personen festgehalten und sei niedergeschlagen worden. Sein Sohn sei beim Weglaufen gefallen und habe noch immer eine Narbe im Gesicht. Er habe nicht geglaubt, dass es Leute des Verschmähten gewesen seien. Er habe gedacht, es seien Räuber gewesen. Nach etwa einem Monat sei er von der Arbeit nach Hause zur Busstation gegangen und habe er erneut diese zwei Personen gesehen. Er sei weggelaufen und nach Hause gegangen. Am nächsten Tag hätten Unterstützer von XXXX am Telefon zu ihm gesagt, dass er zweimal entkommen sei. Zwei Tage später habe die Schwester von XXXX seine Frau angerufen und gesagt, dass XXXX hier in Kabul und bei den Taliban sei. Sie seien dann in den Iran und von dort weiter nach Europa geflüchtet.

Seine Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe.

Zu seinem Leben in Österreich gab er an, dass er einen Deutsch A2 Kurs besuche. Er lebe von der Grundversorgung, würde aber jede Beschäftigung in Österreich annehmen. Er habe bereits mehrere soziale Kontakte (Lehrer und Betreuer). Mitglied in Vereinen oder Organisationen sei er nicht.

Im Zuge der Einvernahme wurden folgende Unterlagen vorgelegt:

-

Empfehlungsschreiben einer Deutschlehrerin.

-

Fotos des BF3 mit einer Fußballmannschaft.

-

Urkunde des BF3 betreffend ein Fußballturnier.

-

Semesterinformation für den BF3 für das Schuljahr 2017/2018.

-

Kursbestätigungen, wonach der BF2 an den Kursen "Deutsch A1 Teil 1 und Teil 2 für Asylwerber" teilgenommen habe.

-

Bestätigungen, wonach die BF1 und der BF2 Gartenhilfsarbeiten durchgeführt haben.

-

Teilnahmebestätigungen für einen Werte- und Orientierungkurs für die BF1 und den BF2.

-

Prüfungszeugnis, wonach die BF1 den Kurs "A1- fit für Österreich" bestanden habe.

-

Prüfungszeugnis, wonach die BF1 den Kurs "ÖIF-Test, Niveaustufe A2" bestanden habe.

-

Bestägigung, wonach die BF1 am Kurs "Deutsch B1 Teil 1 für Asylwerber" teilgenommen habe.

-

Patientenkarte vom 28.08.2017 (Abteilung für Unfallchirurgie) betreffend den BF2. Diagnose: "Unfalltrauma vor ca. 1 Jahr, Schulterknochen und Schlüsselbein OK, Weichteilschmerzen", Therapie:

Massagen und Physiotherapie, Therapievorschlag: Saractil 400mg und Magenschoner.

-

Laborbefund betreffend die BF1 vom 30.03.2017, wonach eine Schilddrüsendiagnostik durchgeführt worden sei.

-

Tazkira für BF2, BF3 und BF4.

5. Mit den angefochtenen Bescheiden wies das BFA die Anträge der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass eine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Beweiswürdigend wurde zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass dem Vorbringen betreffend die Verfolgung durch den Exverlobten der BF1 keine Glaubwürdigkeit zukomme und darüber hinaus nicht von einer aktuellen landesweiten Bedrohung bzw. Verfolgungsgefahr ausgegangen werden könne. Zur westlichen Orientierung der BF1 wurde ausgeführt, dass sich die Situation von Frauen seit dem Ende der Talibanherrschaft erheblich verbessert habe. In urbanen Zentren würden die Kleidungs- und Kopftuchvorschriften variieren. Frauenkleidung in Afghanistan umfasse ein breit gefächertes Spektrum, von moderener westlichen Kleidung, farbenreiche volkstümliche Trachten bis hin zur Burka und Vollverschleierung, welche sich je nach Bevölkerungsgruppe unterscheiden würden. Die BF1 sei zur Einvernahme mit Kopftuch erschienen. Ihr Kleidungsstil stehe somit nicht in einem solchen krassen Widerspruch zu den in Afghanistan üblichen Kleidungsstil, dass von einer Verfolgungshandlung gegen die BF1 auszugehen sei. Das Alltagsleben für Frauen in Afghanistan sei erheblich von den Faktoren wie Herkunft, Bildungsstand, finanzielle Situation und Religiösität abhängig. Nachdem sich die BF1 auf ein breitgefächertes familiäres Netzwerk des Ehemannes in Bamiyan abstützen könne und ihr Ehemann ihr auch in Österreich die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermögliche sei es nicht logisch, dass dies in Bamiyan nicht möglich wäre. Sexualisierte und geschlechtsspezfische Gewalt sei aber nach wie vor stark verbreitet, finde aber zu über 90% innerhalb der Familienstruktur statt. Indizien für häusliche Gewalt in der Familie seien nicht hervorgekommen. Warum die BF1 in einer exponierteren Position als die restlichen in Bamiyan lebenden Frauen wäre, habe nicht festgestellt werden können. Auch sei den Länderfeststellungen zu entnehmen, dass in Afghanistan die berufliche und gesellschaftliche Stellung einer Frau nicht vollkommen und ausschließlich von den streng islamischen Normen und Wertevorstellungen abhängig sei, sondern vielmehr auf dem familiären Willen, eine diesbezügliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, abhänge. Ihr Ehemann würde ihr dies in Österreich gestatten. Das Bundesamt gelange zur Auffassung, dass bei der BF1 keine Lebensweise vorliege, welche einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den in Afghanistan verbreiteten gesellschaftlichen Werten darstelle. Die Teilnahme an Deutschkursen und Integrationsprojekten sowie Einkäufe in nahegelegenen Geschäften für den täglichen Bedarf stelle für sich genommen jedenfall noch keine ausreichende Basis für eine Verwestlichung dar. Es lasse sich insgesamt nicht ableiten, dass die BF1 tatsächlich eine darartige westliche Orientierung bereits verinnerlicht hätte. Unter Zugrundelegung der derzeit vorliegenden herkunftsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan würde es keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend geben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe ausgesetzt zu sein. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die BF1 seit ihrer Einreise nach Österreich im November 2016 eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Die BF1 würde mit ihrer Lebensweise die herrschenden sozialen Normen in Afghanistan nicht in einem Ausmaß verletzen, dass ihr bei Rückkehr (unter Beibehaltung des derzeitigen Lebensstils) eine Verfoglung iSd GFK drohen würde.

6. Gegen die im Spruch genannten Bescheide wurde von den BF fristgerecht eine gleichlautende Beschwerde erhoben und zu Spruchpunkt I. unter anderem ausgeführt, dass die westliche Orientierung der BF1 in der Bescheidbegründung nicht ordentlich gewürdigt worden sei. Die BF1 führe ein freies, eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben. Sie verwalte die Finanzen der Familie, gehe alleine einkaufen und habe bereits dargelegt, einen konkreten Berufswunsch (Buchhalterin) zu haben. Sie spreche bereits gut Deutsch und sei laufend bemüht die Deutschkenntnisse noch weiter zu verbessern. Sie nehme an der österreichischen Gesellschaft teil und habe schon einige Freundschaften geschlossen. Die zukünftige eigene finanzielle Unabhängigkeit sei ihr sehr wichtig. Die westliche Orientierung sei auch in ihrem selbstbewussten Auftreten klar zu erkennen. Ihre tolerante, weltoffene Einstellung sei insbesondere daran zu erkennen, dass sie ihre Kinder westlich und frei erziehen wolle. Sie stelle ihren Kindern frei, welchen Partner sie wählen oder für welche Religion sie sich entscheiden wollen. Dies alles sei in Afghanistan undenkbar. Es sei offensichtlich, dass die BF1 eine Denkweise und das Verhalten verinnerlicht habe, das als "westlich" bezeichnet werde und nun die Freiheiten, die sie in Afghanistan nicht gehabt habe hier in Österreich auslebe. Auch seien Kinder - insbesondere von Rückkehrerern - dem realen Risiko ausgesetzt einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung unterworfen zu werden. Die BF1 wünsche sich insbesondere für ihre Tochter ein freies und selbstbestimmtes Leben. Die Behörde hätte von Amts wegen die Sitatuation der BF als afghanische Frauen ermitteln müssen. Auch habe sich die belangte Behörde nicht ausreichend mit dem konkreten Einzelfall der BF auseinandergesetzt. Das Faktum, dass es sich bei der BF1 um eine Frau handle, die liberal orientiert sei, sei von der Erstbehörde nicht richtig gewürdigt worden. Die Länderfeststellungen würden betonen, dass die Situation von Frauen in Afghanistan noch immer schwierig sei und Diskriminierungen sehr wohl vorkommen würden.

7. Am 15.02.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der auch das Bundesamt als weitere Partei des Verfahrens teilnahm.

Die BF1 berichtete in der Verhandlung über ihren Aufenthalt in Kabul bei ihrem Schwiegervater, welcher in einem Haus leben würde. Auf dem Grundstück des Schwiegervaters würden sich drei Häuser befinden, wo auch zwei Brüder ihres Mannes leben würden. Die Familie der BF1 würde im Iran leben. Sie habe acht Jahre lang eine Schule (fünf Jahre Grundschule, drei Jahre Mittelschule) im Iran besucht. Eine berufliche Ausbildung habe sie nicht. Zudem berichtete die BF1 erneut über den Vorfall in Kabul, bei dem sie mit ihrem Mann einkaufen gewesen sei und sie von zwei Personen angegriffen worden seien. Auch berichtete sie davon, dass ihr Mann die zwei Leute wiedergesehen und er daraufhin weggelaufen sei. Zudem gab sie erneut an, mit etwa 10 bzw. 11 Jahren mit ihrem Cousin verlobt worden zu sein, sie diesen aber nicht heiraten habe wollen und sie mit ihrer Familie dann in den Iran gegangen sei. Ihr Mann sei auch am Telefon von XXXX Leute bedroht worden und sei zudem die BF1 von XXXX Schwester angerufen worden. XXXX würde das Leben in Afghanistan gefährlich machen. Sie sei Opfer ihrer Gesellschaft. Die Frauen würden in Afghanistan keine Entscheidungsfreiheit haben. Alles werde für sie entschieden: was sie anziehen, essen, mit wem sie reden und wo sie hingehen solle.

Zu ihrem Leben in Österreich gab sie an, dass sie ihre Tochter zur Bushaltestelle bringe, diese fahre in den Kindergarten. Sie gehe dreimal die Woche selbst zum Deutschkurs, danach hole sie ihre Tochter vom Kindergarten ab. Nachmittags gehe sie meistens alleine oder mit den Kindern einkaufen. Sie wolle gerne einen Beruf ausüben. Buchhaltung gefalle ihr sehr gut, da sie immer Mathematik gemocht habe und sehr schnell lerne. Sie habe gemeinnützige Tätigkeiten in einer Krankenhausküche ausgeübt sowie Gartenhilfsarbeiten verrichtet. Meistens gehe sie alleine einkaufen. Das Geld sei meistens bei ihr. Hier in Österreich sei es eine andere Welt. In Afghanistan hätten Frauen keine Freiheiten. Vor der Heirat würden die Eltern bzw. Geschwister entscheiden, was mit den Frauen geschehe, danach der Mann und die Familie des Mannes. Sie würden keine selbstständigen Entscheidungen treffen können. In Österreich könne man sogar seine Religion frei wählen. In Afghanistan würden sich Frauen nicht mit fremden Männern unterhalten dürfen. Sie würden nicht alleine einkaufen gehen können. Frauen würden nur zu Hause zu sitzen, waschen, Kinder gebären und Kinder großziehen können. Mädchen würden nicht die Schule besuchen dürfen, wenn doch, dann nur begrenzt. In Österreich würden Frauen selbst ihren Beruf wählen dürfen und selbstständig leben können. In ihrem Land seine eine Frau eine "Sache". Eine Burka habe sie in Afghanistan nicht tragen müssen. Sie habe aber nicht selbst entscheiden können, was sie anziehe. Sie habe eine Art langen "Mantel", der übers Knie gehe, verdeckte Haare, Hose und Schuhe getragen. Die BF1 berichtete in der Verhandlung auf Deutsch, dass sie heute einen Schal, eine blaue Jeans, einen rosa Pullover und weiße Turnschuhe trage. Sie und ihr Mann würden ein Bankkonto haben. Ihre Bankkarte sei aber noch nicht da, da sie das Konto erst vor ca. einem Monat eröffnet habe. Über Befragung durch ihren Vertreter gab die BF1 an, ein eigenes Handy zu haben. In Afghanistan bzw. dem Iran habe sie zwar eine eigene Meinung gehabt, habe diese aber immer für sich behalten müssen. In Österreich gehe sie selbst zu den Gesprächen bezüglich ihrer Kinder in die Schule bzw. den Kindergarten. Über Befragung der Behördenvertreterin gab die BF1 an, sie müsse um Buchhalterin werden zu können einen Hauptschulabschluss und dann drei Jahre eine Lehre machen. Von der Behördenvertreterin gefragt, welche Bedeutung das Kopftuch für sie habe, gab die BF1 an, dass ihre Religion ihr gebieten würde sich ihren Kopf zu bedecken. Sie habe sich aber daran gewöhnt. Ohne Kopftuch fühle sie sich nackt und sie fühle sich schöner, wenn sie ein Kopftuch trage.

Der Rechtsvertreter der BF brachte am Ende der Befragung der BF1 vor, dass sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Talibanherrschaft zwar ein wenig verbessert habe, die vollumfängliche Realisierung der Frauenrechte sei aber nach wie vor in der konservativ-islamischen Gesellschaft schwierig. Frauen würden nach wie vor diskriminiert und belästigt werden und bestehe nach wie vor eine beschränkte Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung. Die BF1 habe seit ihrer Ankunft in Österreich einen westlichen Lebensstil angenommen. Sie spreche Deutsch auf B1-Niveau, habe einen konkreten Berufswunsch und versuche diesen zu erfüllen, indem sie den Pflichtschulabschluss nachholen wolle. Dies zeige, dass sie die westlichen Werte verinnerlicht habe und ihre Rückkehr nach Afghanistan und vor allem in die konservative Gesellschaft nicht möglich sei.

Die Behördenvertreterin brachte bezüglich der Situation der Frauen in Afghanistan vor, dass deren Situation in Städten und ländlichen Regionen zu unterscheiden sei. Frauen hätten in Städten mehr Rechte und Möglichkeiten als in Dörfern. Drei Jahre Aufenthalt in Österreich seien noch nicht ausreichend, um einen nachhaltigen Emanzipationsgrad der BF1 beurteilen zu können.

Abschließend gab die BF1 an, sie sei hergekommen, da sie Todesangst gehabt habe. Hier könne sie sich - abgesehen von der Sicherheit - als Frau entfalten. In Afghanistan seien alle Frauen wie "wandelnde Tote", den den Willen des anderen befriedigen müssen.

Der BF2 berichtete in der Verhandlung darüber, in der Provinz Bambian geboren zu sein und bis zum 14. bzw. 15. Lebensjahr in Afghanistan gelebt zu haben. Dann habe er bis 2010 im Iran gelebt, bevor er wieder nach Afghanistan zurückgeschickt worden sei und 2011 (bis 2014) nach XXXX gegangen sei. Danach sei er wieder in den Iran gegangen, Anfang 2015 sei er erneut nach Afghanistan abgeschoben worden und sei dann seine Familie nach Afghanistan gekommen. Sie hätten bei seinem Vater in Kabul gelebt. Dieser habe drei Häuser, wo auch zwei seiner Brüder leben würden. Das letzte Mal habe er vor vier Monaten mit dem Vater gesprochen. Eine Schule habe er nicht besucht. Er habe als Freiberufler und Hilfsarbeiter gearbeitet. In Kabul habe er seinen Bruder, der dort ein Geschäft betreibe, geholfen.

Zu seinem Fluchtgrund gab er erneut an, dass seine Frau mit 10 Jahren mit jemandem verlobt worden sei, die Verlobung dann gelöst worden sei und sie dann mit ihrer Familie in den Iran gegangen sei. Zudem berichtete er von dem Vorfall, als er mit seiner Frau in Kabul einkaufen gewesen wäre und sie von zwei Männern angegriffen worden wären. Er habe diese Männer dann nochmal in Kabul gesehen. Er habe fliehen können. Sie würden auf keinen Fall nach Afghanistan zurückkönnen, da XXXX einer Taliban Gruppierung angehöre und sie egal wo in Afghanistan gefunden werden würden. Er habe auch einen Anruf von den zwei Personen, die ihn verfolgt hätten erhalten.

Zu seinem Leben in Österreich gab er an, einen A1 und A2 Deutschkurs besucht zu haben. Er respektierte alle Religionen. Er sehe in Österreich eine leuchtende Zukunft. Die Veränderung seiner Frau gefalle ihm sehr, er sei mit dieser Lebensweise zufrieden.

Abschließend gab der BF2 an, dass Frauen in Afghanistan überhaupt keine Rechte hätten. Alle seien gleich, es gäbe keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Er sehe, wie seine Frau alleine zum Deutschkurs gehen könne, alleine einkaufen gehe und sich frei bewegen könne. In Afghanistan müsse immer jemand eine Frau zum Einkaufen begleiten.

Mit der BF1 und dem BF2 wurde das LIB zu Afghanistan (Stand 23.11.2018), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 sowie die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 07.12.2018 zu Afghanistan "Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazar-e Sharif und Kabul 2010-2018" erörtert.

Die BF legten in der Verhandlung folgende Unterlagen vor:

-

Jahresinformation für das Schuljahr 2017/2018 für den BF3.

-

Urkunde betreffend ein Fußballturnier für den BF3.

-

Spielerpass (Fußball) des BF3.

-

Schreiben eines Sportvereines, wonach der BF3 dem Sportverein (Sektion Fußball) beigetreten sei und regelmäßig trainiere.

-

Semesterinformation für den BF3 für das Schuljahr 2018/2019.

-

Prüfungszeugnis, wonach die BF1 die Prüfung "Deutsch Test für Österreich B1" bestanden habe.

-

Empfehlungsschreiben der Deutschlehrerin von BF1 und BF2.

-

Bestätigung einer Volkshochschule, wonach die BF1 am Kompetenzmodul zur Aufnahme in den Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses teilgenommen habe und diesen bestanden habe. Die BF1 habe daher einen Fixplatz im Lehrgang zum Nacholen des Pflichtschulabschlusses/Abendlehrgang (Beginn/Dauer Februar 2019 bis Juli 2020).

-

Empfehlungsschreiben der Deutschlehrerin der BF1.

-

Urkunde, wonach der BF2 im Verein Conclusio mitgearbeitet habe.

-

Nachweis über eingelöste Dienstleistungsschecks des BF2.

-

Empfehlungsschreiben für die BF1.

-

Fotos des BF3 mit einer Fußballmannschaft.

-

Fotos der BF1 mit Österreichischen Familien.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die BF sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Hazara-Sayed an und bekennen sich zum schiitischen Glauben. Die Familie der BF1 lebt im Iran. Die Familie des BF2 (Vater und zwei Brüder) lebt in Kabul. Die BF1 stammt ursprünglich aus Parwan, der BF2 aus Bamiyan. Beide sind im Kindesalter in den Iran gegangen, wo sie auch geheiratet haben. Da der BF2 im Jahr 2015 nach Afghanistan abgeschoben wurde, ist auch die BF1 gemeinsam mit den Kindern zurück nach Afghanistan (Kabul) gegangen und hat dort beim Vater bzw. den Brüdern des BF2 gelebt. Die BF1 hat im Iran acht Jahre lang die Schule besucht. Die BF1 übte keine Erwerbstätigkeit aus und hat keinen Beruf erlernt. Sie war lediglich zu Hause als Hausfrau tätig und hat für die Kinder gesorgt. Die BF1 musste sich in Afghanistan den dort herrschenden strengen Bekleidungsvorschriften unterwerfen. In Österreich erlernt sie die deutsche Sprache, geht alleine einkaufen, trifft sich mit Freunden und schätzt es nunmehr, sich in Österreich frei entfalten zu können. Sie trifft selbst ihre eigenen Entscheidungen und verwaltet auch ihr eigenes Geld auf ihrem eigenen Bankkonto. Auch die Elterngespräche im Kindergarten (hinsichtlich der BF4) und in der Schule (hinsichtlich des BF3) übernimmt die BF1 selbstständig. Die BF1 hat zudem ein eigenes Handy. Die BF1 ist eine junge selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die BF1 hat während ihres Aufenthaltes in Österreich eine auf ein selbstbestimmtes Leben orientierte Lebensführung angenommen und äußert ihre persönliche Meinung im Zuge von Gesprächen. Die BF1 trägt zwar nach wie vor ein Kopftuch, ist in Österreich - abgesehen davon - westlich-modern gekleidet und trägt Jeans, Pullover und Turnschuhe. Die BF1 beabsichtigt in Österreich eine Ausbildung zur Buchhalterin zu machen, um berufliche Selbstständigkeit zu erlangen. Sie hat dafür auch schon einen Aufnahmetest für einen Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses an der Volkshochschule bestanden und einen Fixplatz für den Kurs erhalten, welcher im Februar 2019 startete und bis Juli 2020 dauert. Die Einstellung der BF1 steht im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Auffassungen hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zur Erwerbstätigkeit für Frauen. Die BF1 würde im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund ihrer nach außen hin erkennbaren persönlichen Wertehaltung, die sich vorrangig in ihrem Wunsch nach Bildung und Unabhängigkeit äußert, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt sein. Bei der BF1 handelt es sich um eine moderne und aufgeklärte Frau, die mit ihrer Flucht nach Österreich zudem ihre Vorstellungen über die einer Frau zustehenden Rechte verwirklichen und nach diesen Maßstäben ihr weiteres Leben gestalten will. Sie ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise die Ausübung ihrer Grundrechte einfordert. Die BF1 ist auch bestrebt ihrer Tochter in Österreich ein selbstbestimmtes und freies Leben zu ermöglichen.

In Österreich absolvierten die BF1 und der BF2 Deutschkurse (die BF1 bis zum Niveau B1) sowie einen Werte- und Orientierungskurs. Die BF1 konnte die von der Richterin in der Verhandlung gestellten Fragen verstehen und diese spontan und in sehr gutem Deutsch beantworten. Die BF1 hat zudem bereits Hilfstätigkeiten in einer Krankenhausküche sowie Gartenhilfsarbeiten verrichtet. Auch der BF2 hat bereits Gartenhilfsarbeiten verrichtet. Die BF haben soziale Kontakte zu Österreichern.

Der minderjährige BF3 und die minderjährige BF4 wurdem im Iran geboren. Für den BF3 und die BF4 wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht. Der BF3 geht in Österreich in die Schule, die BF4 besucht einen Kindergarten. Der BF3 spielt zudem in einem österreichischem Verein Fußball.

Die BF sind strafrechtlich unbescholten und nehmen Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch.

Situation der Frauen in Afghanistan:

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon

77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.).

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten